Übersichtsarbeiten - OUP 05/2021

Das lumbale Wurzelreizsyndrom aus neurologischer Sicht
Klinischer Ansatz und diagnostische Methoden

EMG

Bei der Elektromyographie handelt es sich um eine Nadelmyographie, welche fragestellungsspezifisch einzusetzen ist, um einen pathologischen neuromuskulären Prozess zu lokalisieren, zu spezifizieren sowie dessen Dynamik zu erfassen, um daraus unter anderem Schlüsse in Bezug auf die Prognose ziehen zu können. Dies setzt eine Auseinandersetzung des Untersuchers mit dem Beschwerdebild des jeweiligen Patienten voraus, um alle zur diagnostischen Eingrenzung notwendigen Untersuchungsschritte falladaptiert festlegen zu können. Ein standardisiertes Untersuchungsprotokoll gibt es im EMG folglich nicht [2, 3].

Wichtig ist vor Untersuchungsbeginn die Frage nach einer erhöhten Blutungsneigung bzw. einer bestehenden oralen Antikoagulation, da es sich hierbei um (relative) Kontraindikationen handelt. Die Untersuchung sollte in diesem Fall so kurz wie möglich sein und die Punktionsstelle im Anschluss gut komprimiert werden [3]. Wir verzichten in unserer Klinik unter einer oralen Antikoagulation auf eine Untersuchung von Muskeln mit erhöhtem Risiko für Komplikationen. So werden die Unterschenkel auf Grund der Gefahr eines Kompartmentsyndroms in diesem Fall nicht untersucht.

Die Untersuchung der Muskulatur erfolgt in Ruhe, bei leichter (und dann idealerweise sukzessive zunehmender) Aktivierung sowie bei Maximalaktivierung. In Ruhe wird dabei insbesondere auf pathologische Spontanaktivität geachtet. Unter Muskelaktivierung erfolgt die Analyse der Potenziale motorischer Einheiten (PME), sowie die Beurteilung der Rekrutierung motorischer Einheiten und dem Interferenzmuster [2, 3].

Der Nachweis von pathologischer Spontanaktivität bei Fragestellung eines Nerven- bzw. Nervenwurzelschadens ist gleichzusetzen mit einem aktiven bzw. rasch progredienten axonalen Schadensprozess und steht für eine floride Denervation eines Muskels. Bei sehr langsam progredienten aktiven Schädigungsprozessen kann Spontanaktivität aber auch fehlen [2].

Der Nachweis pathologischer Spontanaktivität bei einer radikulären Kompression sollte im Umkehrschluss mit der zeitnahen Evaluation interventioneller/operativer Handlungsmöglichkeiten einhergehen, da sonst mit einem Funktionsverlust der betroffenen Muskulatur zu rechnen ist. Dies gilt insbesondere in Zusammenhang mit rasch progredienten Paresen und Mobilitätseinschränkung.

Vor Terminierung einer neurophysiologischen Diagnostik sollte hierbei unbedingt bedacht werden, dass genannte pathologische Veränderungen (im Sinne von Spontanaktivität) erst nach einem Intervall von 14–21 Tagen nach dem Akutereignis aufgrund der zeitlich versetzten Waller’schen Degeneration nachzuweisen sind [2, 3, 5]. Um eine akute periphere Störung von einer zentralen/psychogenen Parese zu unterscheiden, kann aber bereits in den ersten Tagen der Nachweis einer erhöhten Entladungsrate im EMG helfen [5].

Im Rahmen der Einzelpotenzialanalyse erfolgt die Auswertung des Summenpotenzials einer motorischen Einheit, welche bei Willküraktivität erfasst wird. Im Wesentlichen geben die Potenzialamplitude, -morphologie, Entladungsrate sowie Interferenz Hinweise auf (chronisch) neurogene oder myopathische Erkrankungsentitäten und erweitern die Aussagekraft um die zeitliche Dynamik [2, 3]. Sie sind insbesondere hilfreich bei differenzialdiagnostischen Überlegungen.

Chronisch-neurogene Veränderungen sind hierbei für den Neurologen ebenfalls relevante Untersuchungsbefunde. In Bezug auf einen akuten Wurzelschaden und zur Frage einer OP-Indikation jedoch deutlich weniger aussagekräftig, da diese altersabhängig, bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen oder Polyneuropathien vorhanden sein können und nicht zwingend für eine klinisch bzw. akut relevante Schädigung hinweisend sind.

Evozierte Potenziale

Bei den evozierten Potenzialen geht es um die Ableitung elektrischer Aktivität im Sinne einer „evozierten Antwort“ auf einen gesetzten Reiz. Im Hinblick auf lumbale Wurzelreizphänomene können insbesondere somatosensorisch sowie motorisch evozierte Potenziale zur diagnostischen Erweiterung beitragen [5].

Die somatosensorisch evozierten Potenziale (SEP) erfassen die sensorische Leitungsbahn zwischen Kortex und den freien Nervenendigungen in der Peripherie. Klassischerweise wird als Referenz für die obere Extremität das Medianus-SEP, als Referenz für die untere Extremität das Tibialis-SEP mit jeweils peripherer Stimulation der Nerven gewählt. Die SEPs erlauben es, Rückschlüsse auf eine Afferenzstörung und somit auf eine relevante Affektion der sensiblen Bahnen bei einem spinalen Prozess zu geben. Auch können sie helfen, eine somatische von einer psychosomatischen Genese abzugrenzen [4, 5].

Die magnetisch evozierten motorischen Potenziale (MEP, oder auch transkranielle Magnetstiumlation) können Pathologien der zentral motorischen Bahnen aufzeigen. Dabei erfolgt die Stimulation des motorischen Kortex sowie eine zervikale bzw. lumbale Stimulation mit Ableitung der Reizantwort am entsprechenden Zielmuskel, wobei typischerweise der M. abductor digiti minimi bei der Messung zur oberen Extremität sowie der M. tibialis anterior bei der Messung zur unteren Extremität gewählt wird. Letztlich wird die periphere Leitungszeit nach lumbaler Stimulation von der Leitungszeit nach kortikaler Stimulation abgezogen, um somit über den Parameter der zentralmotorischen Leitungszeit Rückschlüsse auf eine mögliche Läsion der Pyramidenbahn ziehen zu können [4].

Quantifizierung, Lokalisierung und differenzialdiagnostische Überlegungen mithilfe elektrophysiologischer Methoden

Zunächst kann festgehalten werden, dass je nach Fragestellung eine umschriebene oder auch erweiterte elektrophysiologische Diagnostik Aufschluss über Art und Ausmaß einer Schädigung geben kann. So kann z.B. bei der Frage nach einer axonalen Schädigung der Wurzel L5 die Untersuchung des M. tibialis anterior mittels EMG ausreichend sein. Wenn hier kein Nachweis pathologischer Spontanaktivität gelingen sollte (bei Untersuchungszeitpunkt 14–21 Tage nach Auftreten der Symptomatik, s.o.), ist nicht von einer floriden axonalen Schädigung der Wurzel L5 als Ursache der Beschwerden des Patienten auszugehen. Ebenso ist eine floride axonale Schädigung des N. peroneus hiermit ausgeschlossen. Bei klinisch evidenter Fußheberparese ist nun differenzialdiagnostisch noch ein Leitungsblock des N. peroneus oder auch eine zentrale Schädigung (z.B. durch eine zerebrale Ischämie) in Erwägung zu ziehen, so dass eine Neurographie des N. Peroneus (motorisch und sensibel) sowie auch motorisch evozierte Potentiale diagnostisch wegweisend sein können. Kann bspw. mittels Neurographie ein Leitungsblock des N. peroneus nachgewiesen werden, ist eine cMRT-Untersuchung nicht mehr zwingend erforderlich, die jedoch bei einer verzögerten zentralmotorischen Leitungszeit im MEP veranlasst werden sollte.

Fallbeispiele

Fuß-und Zehenheberparese

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