Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Der Limbus im Säuglingshüftgelenk – eine Begriffsverwirrung

Reinhard Graf1

Zusammenfassung: Die Begriffe „Labrum“, „Limbus“, „Neolimbus“, „eingeschlagenes Labrum“, „eingeschlagener Limbus“ oder „eingeschlagener Neolimbus“ werden in der Weltliteratur teilweise synonym verwendet, teilweise verschiedenen anatomischen Strukturen zugeordnet. Basierend auf der anatomischen Terminologie eines gesunden Säuglingshüftgelenks wird das Verhalten des Labrums und des hyalinknorpelig präformierten Pfannendachs beim Luxationsprozess beschrieben. Die Labrumbasis, die Labrumspitze und das hyalinknorpelig präformierte Pfannendach verhalten sich je nach Luxationsgrad verschieden. Es sollten daher nur die Begriffe Labrum, knorpeliges Pfannendach oder bestenfalls der Begriff „Neolimbus nach Ortolani“ verwendet werden, aber nicht der Terminus Limbus.

Schlüsselwörter: Labrum, Limbus, Neolimbus, Knorpeldach, DDH

Zitierweise
Graf R: Der Limbus im Säuglingshüftgelenk – eine Begriffsverwirrung.
OUP 2016; 7/8: 396–399 DOI 10.3238/oup.2016.0396–0399

Summary: The terms “labrum”, “limbus”, “neolimbus”,
“infolded labrum” or “infolded/inverted neolimbus” are used in the world literature often synonymously for identical anatomical structures, but describe sometimes different
anatomical structures, too. Based on the anatomical terminology of a healthy baby hip joint, the behavior of the labrum and the hyaline cartilaginous roof during the development of luxation will be described. According to the grade of luxation the position and the behaviour of the base of the labrum, the tip of the labrum and the cartilaginous roof are different. We recommend to use only the terms
labrum, cartilagineous roof or the historical term “neolimbus acc. Ortolani”, but never the term limbus again.

Keywords: labrum, limbus, neolimbus, cartilaginous acetabular roof, DDH

Citation
Graf R: The „limbus“ in a baby hip joint – a confusion in the
terminology
OUP 2016; 7/8: 396–399 DOI 10.3238/oup.2016.0396–0399

Einleitung und
Problemstellung

Entsprechend der Pariser Nomina Anatomica wird das Wort „limbus“ mit „Rand, Saum, Lippe, Umgrenzung“ übersetzt. Wird das Wort Limbus in Zusammenhang mit dem Säuglingshüftgelenk verwendet, werden die verschiedensten Strukturen damit bezeichnet.

Die Literatur zu diesem Thema ist äußerst verwirrend: In einer Übersicht zu diesem Thema wird von Landa et al. noch 2008 [1] publiziert: „In the dysplastic reduced hip, the hypertrophic labrum is called limbus“ sowie „Der Limbus und der Neolimbus sind beide(!) wichtige pathologische Strukturen“ und man sollte nicht „inverted neolimbus“, sondern „inverted limbus“ sagen [1]. Tachdjian [2] beschrieb 1990 den Limbus als „fibröses Gewebe mit überwachsenen knorpeligen Elementen des Labrums“. Scaglietti und Calandriello [3] stellten 1962 den Limbus als eine zusammengepresste Struktur von Labrum und Gelenkkapsel dar. Ortolani (1976) beschrieb den Neolimbus als eine Knorpelleiste im Azetabulum, die beim Luxationsprozess entsteht und vom Labrum zu unterscheiden sei [4]. Barlow (1963) [5] und Ponseti (1978) [6] waren wiederum der Meinung, dass im Gegensatz zum Limbus der Neolimbus kein Repositionshindernis sei. In einem orthopädischen Wörterbuch von Hoppenfeld und Zeide von 1944 [7] wurde der Limbus mit dem Labrum acetabulare gleichgesetzt. In Wheeless’ Textbook of Orthopedics (2008) wurde von „inverted neolimbus“ gesprochen und dass dies eine fibrokartilaginäre Lippe sei, die „infolded or everted“ sein könne [8].

Da die gängige internationale Literatur höchst widersprüchlich ist, sollten aufgrund des heutigen Verständnisses des Luxationsprozesses [9] und der daraus folgenden Pathologie folgende Fragen geklärt werden:

Was und wo ist der Limbus?

Wo ist das Labrum?

Was und wo ist der Neolimbus?

Wo sind das inverted labrum, der inverted limbus und der inverted neolimbus?

Oder wo ist was eingeschlagen?

Methode

Es wurden histologische Frontalschnitte des Azetabulums von Leichenpräparaten mit vergleichbaren Schnitten aus der Literatur verglichen [10, 11].

Anschließend wurden ähnliche histologische Schnitte aus Leichenpräparaten von luxierten Gelenken angefertigt, mit der Terminologie eines nicht luxierten Gelenks versehen und mit Schnitten früherer Publikationen, Arthrografien [12] und Sonogrammen verglichen.

Ergebnisse

Die Hüftgelenkpfanne (Azetabulum) eines Säuglings besteht aus einem knöchernen Anteil des Os ilium, einem noch nicht verknöcherten Anteil (hyalinknorpelig präformiertes Pfannendach, dem Knorpeldach, KD) und dem faserknorpeligen Labrum. Letzteres ist mit speziellen Fasern am Knorpeldach fixiert (Abb. 1). Dieser Fixierung kommt beim Luxationsprozess eine besondere Bedeutung zu [11], weil dadurch die Labrumbasis sehr stabil und steif wird. Das Knorpeldach ist lateral mit dem Perichondrium bedeckt. Sonografisch sind diese anatomischen Strukturen inklusive der Sinusoide im Knorpeldach und Hüftkopf gut sichtbar.

Kommt es zum Luxationsprozess, sind folgende Veränderungen zu beobachten (Abb. 2):

  • 1. Stadium: Voraussetzung für eine Luxationsentwicklung (DDH) ist eine schlechte knöcherne Überdachung und somit ein großes hyalines Knorpeldach (Abb. 2a). Aufgrund von kaudokranialem Druck durch den Hüftkopf wird das deformierbare Knorpeldach nach kranial (und dorsal) gedrückt. Dadurch wird im ersten Luxationsschritt die Pfanne ausgeweitet, es entsteht eine Dezentrierung und Inkongruenz zwischen Pfanne und Hüftkopf. Diese Situation entspricht im Sonogramm einem Typ D (Abb. 2b).
  • 2. Stadium: Der Hüftkopf presst das Knorpeldach und das Labrum weiter nach kraniodorsal. Außerdem drückt er auch eine Mulde (sog. Sekundärpfanne) in das Knorpeldach und gleichzeitig einen Teil des Knorpeldachs nach kaudal. Es entsteht dadurch zwischen der ursprünglichen Pfanne und der neu entstandenen Sekundärpfanne eine Knorpelleiste, die anfänglich von Ortolani als Neolimbus bezeichnet wurde (Abb. 2c) [4]. Sonografisch entspricht diese Situation einem Typ-III-Gelenk. Das Ortolani- oder Barlow-Zeichen tritt auf, wenn der Hüftkopf über diese Knorpelleiste (Neolimbus nach Ortolani) zwischen Urpfanne und Sekundärpfanne mit einem Schnappen hin- und hergleitet [4].
  • 3. Stadium: Luxiert der Hüftkopf weiter nach kraniodorsal, gleiten das Knorpeldach und das Labrum vom Hüftkopf, wobei schlussendlich das gesamte Knorpeldach in Richtung der Urpfanne gedrückt wird (entspricht sonografisch einem Typ IV, Abb. 2d). Das Labrum verhält sich besonders: Die Labrumspitze wird durch den Hüftkopf nach kranial gedrängt, durch die rigide Fixierung der Basis am Knorpeldach entsteht aber eine Labrumleiste, die den Eindruck erweckt, das Labrum sei eingeschlagen. Diese Leiste – gebildet durch die Labrumbasis – ist aber nicht eingeschlagen, sondern hineingepresst (Abb. 2e, 3).

Die Spitze des faserknorpeligen Labrums ist nach außen gedrückt, die Basis ist resistent und bildet eine Leiste. Durch den Kompressionsprozess wird auch das Perichondrium des Knorpeldachs zusammengedrückt, sodass ein aus Labrumspitze, Labrumbasis und Perichondrium bestehendes Konglomerat entstehen kann, das wiederum von Scaglietti [3] als Limbus bezeichnet wurde (Abb. 4, 5).

Diskussion und Empfehlung

Die Hüftluxation ist ein dynamischer Prozess: Voraussetzung für den Luxationsprozess ist eine schlechte knöcherne Pfanne mit einem nicht ausreichend ossifizierten hyalinen Knorpeldach. Durch die kaudokranialen Druck- und Scherkräfte kommt es zu einer Deformierung des Knorpeldachs in typischer Weise. Um diese zu klassifizieren, sollte entsprechend der Nomina Anatomica von dem (fibrokartilaginären) Labrum, dem hyalinknorpelig präformierten Pfannendach (Knorpeldach) und dem knöchernen Pfannendach gesprochen werden.

Die Termini Limbus, Neolimbus, eingeschlagener Limbus, eingeschlagener Neolimbus und eingeschlagenes Labrum sollten nicht mehr verwendet werden. Wie eingangs erwähnt, werden die verschiedensten anatomischen Strukturen damit bezeichnet. Limbus (lateinisch: Lippe, Rand) [13] wird bei erwachsenen Hüftgelenken synonym für Labrum verwendet, bei Säuglingshüftgelenken wird aber manchmal unter Limbus das Labrum zusammen mit dem knorpeligen Pfannendach verstanden (also alles, was an der knöchernen Pfanne fixiert ist), manchmal ist der Limbus nur das Knorpeldach allein. Manche Autoren verstehen unter Limbus das hypertrophied labrum [1].

Labrum und hyalinknorpeliges Pfannendach verhalten sich beim Luxationsprozess aber völlig verschieden. Es kommt zur Deformierung des Knorpeldachs und der nach kaudal gepresste Anteil des Pfannendachknorpels bildet eine Trennleiste zwischen Urpfanne und Sekundärpfanne, welche ursprünglich von Ortolani als Neolimbus bezeichnet wurde. Diese historische Bezeichnung der Trennleiste kann bleiben, sollte aber als Neolimbus nach Ortolani bezeichnet werden, um terminologische Missverständnisse zu vermeiden. Dieser Neolimbus nach Ortolani ist nicht eingeschlagen, sondern ein nach kaudal gepresster Anteil des Knorpeldachs, der auch mehr (Typ IV) oder weniger (Typ III) ein Repositionshindernis darstellen kann (Abb. 5).

Auch das Labrum ist nicht eingeschlagen. Die Spitze des Labrums ist immer nach außen gedrückt, die rigide Labrumbasis wird nach kaudal gepresst, sodass optisch der Eindruck entstehen kann, das Labrum sei eingeschlagen. Es kann nicht ausgeschlagen oder ausgekrempelt werden. Das Problem wird dadurch unterstrichen, dass empfohlen wird, den Limbus oder den Neolimbus oder das eingeschlagene Labrum bei offenen Einstellungen nur vorsichtig zu resezieren. Wird eine Resektion durchgeführt, wird ein Teil der deformierten knorpeligen Pfanne reseziert – mit bleibenden Schäden!

Schlussfolgerung

Labrum und knorpelig präformiertes Pfannendach verhalten sich beim Luxationsprozess verschieden. Es ist weder das Labrum noch das Knorpeldach eingeschlagen. Beide Strukturen werden durch Druck deformiert und können auch nicht ausgeschlagen werden. Der Terminus Limbus in all seinen Varianten sollte nicht mehr verwendet werden; einzig der Terminus Neolimbus als historische Bezeichnung für den nach kaudal gepressten Knorpelpfannenanteil ist zulässig, sofern diese Struktur als Neolimbus nach Ortolani bezeichnet wird.

Es sollten nur mehr die Bezeichnungen Labrum, hyalinknorpeliges Pfannendach und Knochendach verwendet werden.

Danksagung: Herrn Univ.-Prof. Dr. med. F. Anderhuber, Vorstand des anatomischen Instituts der Universität Graz, herzlichen Dank für die jahrelange Unterstützung bei den Forschungsarbeiten.

Interessenkonflikte: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Prof. h.c. Dr. Reinhard Graf

Hagersiedlung 7

A-8850 Murau-Stolzalpe

reinhardgraf@gmx.at

Literatur

1. Landa J et al.: The limbus and the neolimbus in the developmental dysplasia of the hip. Clin Orthop Relat Res. 2008; 466: 776–781

2. Tachdjian MO: Congenital dysplasia of the hip. Pediatric Orthopedics. 2nd ed. Philadelphia, PA: WB Saunders; 1990: 297–312

3. Scaglietti O, Calandriello B: Open reduction of congenital dislocation of the hip. J Bone Joint Surg Br 1962; 44: 257–283

4. Ortolani M: Congenital hip dysplasia in the light of early and very early diagnosis. Clin Orthop Relat Res 1976; 119: 6–10

5. Barlow TG: Early diagnosis and treatment of congenital dislocation of the hip. Proc R Soc Med 1963; 56: 804–806

6. Ponseti IV: Morphology of the acetabulum in congenital dislocation of the hip. Gross, histological and roentgenograhic studies. J Bone Surg Am 1978; 60: 586–599

7. Hoppenfeld S, Zeide MS: Orthopaedic Dictionary. Philadelphia, PA: JB Lippincott; 1944

8. Wheeless CR: Wheeless’ Textbook of Orthopaedics. http://www.wheelessonline.com/. Acessed January 9, 2008

9. Graf R: Sonographie der Säuglingshüfte und therapeutische Konsequenzen. 6. Aufl. Stuttgart, New York: Thieme; 2009

10. Putti V: Die Anatomie der angeborenen Hüftverrenkung. Stuttgart: Enke; 1937

11. Oelkers H: Histologischer und röntgenologischer Vergleich zwischen einem dysplastischen Becken (Luxationsbecken) und Normalbefund. Orthop Praxis 1981; 17: 614–624

12. Tönnis D: Die angeborene Hüftdysplasie und Hüftluxation im Kindes- und Erwachsenalter. Berlin, Heidelberg, New York, Tokio: Springer; 1984

13. Petschenig M: Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. Wien: Hölder-Pichler-Temsky; 1933

Fussnoten

1 Murau-Stolzalpe, Österreich

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