Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Der Limbus im Säuglingshüftgelenk – eine Begriffsverwirrung

Die Spitze des faserknorpeligen Labrums ist nach außen gedrückt, die Basis ist resistent und bildet eine Leiste. Durch den Kompressionsprozess wird auch das Perichondrium des Knorpeldachs zusammengedrückt, sodass ein aus Labrumspitze, Labrumbasis und Perichondrium bestehendes Konglomerat entstehen kann, das wiederum von Scaglietti [3] als Limbus bezeichnet wurde (Abb. 4, 5).

Diskussion und Empfehlung

Die Hüftluxation ist ein dynamischer Prozess: Voraussetzung für den Luxationsprozess ist eine schlechte knöcherne Pfanne mit einem nicht ausreichend ossifizierten hyalinen Knorpeldach. Durch die kaudokranialen Druck- und Scherkräfte kommt es zu einer Deformierung des Knorpeldachs in typischer Weise. Um diese zu klassifizieren, sollte entsprechend der Nomina Anatomica von dem (fibrokartilaginären) Labrum, dem hyalinknorpelig präformierten Pfannendach (Knorpeldach) und dem knöchernen Pfannendach gesprochen werden.

Die Termini Limbus, Neolimbus, eingeschlagener Limbus, eingeschlagener Neolimbus und eingeschlagenes Labrum sollten nicht mehr verwendet werden. Wie eingangs erwähnt, werden die verschiedensten anatomischen Strukturen damit bezeichnet. Limbus (lateinisch: Lippe, Rand) [13] wird bei erwachsenen Hüftgelenken synonym für Labrum verwendet, bei Säuglingshüftgelenken wird aber manchmal unter Limbus das Labrum zusammen mit dem knorpeligen Pfannendach verstanden (also alles, was an der knöchernen Pfanne fixiert ist), manchmal ist der Limbus nur das Knorpeldach allein. Manche Autoren verstehen unter Limbus das hypertrophied labrum [1].

Labrum und hyalinknorpeliges Pfannendach verhalten sich beim Luxationsprozess aber völlig verschieden. Es kommt zur Deformierung des Knorpeldachs und der nach kaudal gepresste Anteil des Pfannendachknorpels bildet eine Trennleiste zwischen Urpfanne und Sekundärpfanne, welche ursprünglich von Ortolani als Neolimbus bezeichnet wurde. Diese historische Bezeichnung der Trennleiste kann bleiben, sollte aber als Neolimbus nach Ortolani bezeichnet werden, um terminologische Missverständnisse zu vermeiden. Dieser Neolimbus nach Ortolani ist nicht eingeschlagen, sondern ein nach kaudal gepresster Anteil des Knorpeldachs, der auch mehr (Typ IV) oder weniger (Typ III) ein Repositionshindernis darstellen kann (Abb. 5).

Auch das Labrum ist nicht eingeschlagen. Die Spitze des Labrums ist immer nach außen gedrückt, die rigide Labrumbasis wird nach kaudal gepresst, sodass optisch der Eindruck entstehen kann, das Labrum sei eingeschlagen. Es kann nicht ausgeschlagen oder ausgekrempelt werden. Das Problem wird dadurch unterstrichen, dass empfohlen wird, den Limbus oder den Neolimbus oder das eingeschlagene Labrum bei offenen Einstellungen nur vorsichtig zu resezieren. Wird eine Resektion durchgeführt, wird ein Teil der deformierten knorpeligen Pfanne reseziert – mit bleibenden Schäden!

Schlussfolgerung

Labrum und knorpelig präformiertes Pfannendach verhalten sich beim Luxationsprozess verschieden. Es ist weder das Labrum noch das Knorpeldach eingeschlagen. Beide Strukturen werden durch Druck deformiert und können auch nicht ausgeschlagen werden. Der Terminus Limbus in all seinen Varianten sollte nicht mehr verwendet werden; einzig der Terminus Neolimbus als historische Bezeichnung für den nach kaudal gepressten Knorpelpfannenanteil ist zulässig, sofern diese Struktur als Neolimbus nach Ortolani bezeichnet wird.

Es sollten nur mehr die Bezeichnungen Labrum, hyalinknorpeliges Pfannendach und Knochendach verwendet werden.

Danksagung: Herrn Univ.-Prof. Dr. med. F. Anderhuber, Vorstand des anatomischen Instituts der Universität Graz, herzlichen Dank für die jahrelange Unterstützung bei den Forschungsarbeiten.

Interessenkonflikte: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Prof. h.c. Dr. Reinhard Graf

Hagersiedlung 7

A-8850 Murau-Stolzalpe

reinhardgraf@gmx.at

Literatur

1. Landa J et al.: The limbus and the neolimbus in the developmental dysplasia of the hip. Clin Orthop Relat Res. 2008; 466: 776–781

2. Tachdjian MO: Congenital dysplasia of the hip. Pediatric Orthopedics. 2nd ed. Philadelphia, PA: WB Saunders; 1990: 297–312

3. Scaglietti O, Calandriello B: Open reduction of congenital dislocation of the hip. J Bone Joint Surg Br 1962; 44: 257–283

4. Ortolani M: Congenital hip dysplasia in the light of early and very early diagnosis. Clin Orthop Relat Res 1976; 119: 6–10

5. Barlow TG: Early diagnosis and treatment of congenital dislocation of the hip. Proc R Soc Med 1963; 56: 804–806

6. Ponseti IV: Morphology of the acetabulum in congenital dislocation of the hip. Gross, histological and roentgenograhic studies. J Bone Surg Am 1978; 60: 586–599

7. Hoppenfeld S, Zeide MS: Orthopaedic Dictionary. Philadelphia, PA: JB Lippincott; 1944

8. Wheeless CR: Wheeless’ Textbook of Orthopaedics. http://www.wheelessonline.com/. Acessed January 9, 2008

9. Graf R: Sonographie der Säuglingshüfte und therapeutische Konsequenzen. 6. Aufl. Stuttgart, New York: Thieme; 2009

10. Putti V: Die Anatomie der angeborenen Hüftverrenkung. Stuttgart: Enke; 1937

11. Oelkers H: Histologischer und röntgenologischer Vergleich zwischen einem dysplastischen Becken (Luxationsbecken) und Normalbefund. Orthop Praxis 1981; 17: 614–624

12. Tönnis D: Die angeborene Hüftdysplasie und Hüftluxation im Kindes- und Erwachsenalter. Berlin, Heidelberg, New York, Tokio: Springer; 1984

13. Petschenig M: Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. Wien: Hölder-Pichler-Temsky; 1933

Fussnoten

1 Murau-Stolzalpe, Österreich

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