Übersichtsarbeiten - OUP 01/2024

Der OF-Pelvis-Score

Ulrich Albert Joseph Spiegl, Max Joseph Scheyerer, Bernhard Wilhelm Ullrich, Klaus John Schnake

Zusammenfassung:
Osteoporotische Beckenringfrakturen zeigen eine kontinuierlich ansteigende Inzidenz. Therapieentscheidend ist neben der Frakturmorphologie auch der klinische Zustand der Patientin/des Patienten. Die Arbeitsgruppe osteoporotische Frakturen der Sektion Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) hat einen Score für die Therapieentscheidung entwickelt, der auf der OF-Pelvis-Klassifikation beruht und entscheidende klinische Parameter berücksichtigt. Der Score beinhaltet die klinischen Parameter Mobilisationsfähigkeit, Schmerzsituation, frakturbedingte neurologische Defizite und Risikofaktoren für eine erhöhte chirurgische Komplikationsrate. Daneben wird die Frakturmorphologie gemäß der OF-Pelvis-Klassifikation einschließlich der Frakturmodifikatoren bestimmt. Für jeden Parameter werden entsprechend der Ausprägung Punkte vergeben oder abgezogen und abschließend die Summe gebildet. Ist ein Parameter nicht zu bestimmen, wird kein Punkt vergeben. Ein Punktwert unter 8 bedeutet die Empfehlung zur konservativen Therapie, ein Punktwert über 8 dagegen zur chirurgischen Therapie. Bei genau 8 Punkten ist eine konservative oder operative Therapie möglich.
Der OF-Pelvis-Score wurde retrospektiv in 5 Traumazentren anhand der Aktenlage und der Bildgebung bei 107 Patientinnen/Patienten bestimmt und mit der tatsächlich durchgeführten Therapie verglichen. Es zeigte sich eine Gesamtübereinstimmung der Therapieempfehlung des OF-Pelvis-Scores mit der tatsächlich durchgeführten Therapie (konservativ versus operativ) von 91 %. Die Erhebung des Scores dauerte etwa 5 Minuten. Der OF-Pelvis-Score stellt eine einfach anzuwendende Entscheidungshilfe für die Indikationsstellung zur konservativen oder operativen Versorgung von osteoporotischen Beckenringfrakturen dar.

Schlüsselwörter:
Beckenring, Fraktur, Osteoporose, Therapie, Chirurgie

Zitierweise:
Spiegl UAJ, Scheyerer MJ, Ullrich BW, Schnake KJ: Der OF-Pelvis-Score
OUP 2024; 13: 26–29
DOI 10.53180/oup.2024.026-029

Summary: Osteoporotic pelvic ring fractures show a continuously increasing incidence. In addition to the
fracture morphology, the clinical situation of the patients is also crucial for therapy. The osteoporotic fracture working group of the spine section of the German Society for Orthopaedics and Trauma Surgery (DGOU)
has developed a score for the treatment decision that is based on the OF-Pelvis classification and on essential
clinical parameters.
The score includes the clinical parameters of mobilization ability, pain situation, fracture-related neurological deficits and risk factors for an increased surgical complication rate. In addition, the fracture morphology is
determined according to the OF-Pelvis classification including the fracture modifiers. For each parameter, points are awarded or deducted depending on the characteristics and the total is then calculated. If a parameter
cannot be determined, no point are awarded. A score below 8 means a recommendation for conservative
therapy, while a score above 8 means a recommendation for surgical therapy. If there are exactly 8 points,
conservative or surgical treatment is possible.
The OF-Pelvis score was evaluated retrospectively in 5 trauma centers based on records and imaging in
107 patients and compared with the therapy actually carried out. There was an overall agreement of 91 %
between the therapy recommendation of the OF-Pelvis score and the therapy actually carried out (conservative versus surgical). Collecting the score took about 5 minutes.
The OF-Pelvis score is an easy-to-use decision-making aid for determining the indication for conservative or
surgical treatment of osteoporotic pelvic ring fractures.

Keywords: Pelvic ring, fracture, osteoporosis, therapy, surgery

Citation: Spiegl UAJ, Scheyerer MJ, Ullrich BW, Schnake KJ: The OF-Pelvis score
OUP 2024; 13: 26–29. DOI 10.53180/oup.2024.026-029

U. A. J. Spiegl: Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie, Wiederherstellungschirurgie und Handchirurgie, München Klinik Harlaching

M. J. Scheyerer: Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Düsseldorf

B. W. Ullrich: Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, BG Klinikum Bergmannstrost Halle & Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsmedizin Halle, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

K. J. Schnake: Zentrum für Wirbelsäulen- und Skoliosechirurgie, Malteser Waldkrankenhaus St. Marien, Erlangen & 6 Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Nürnberg

Einleitung

Osteoporotische Beckenringfrakturen sind häufig und weisen in Deutschland eine zunehmende Inzidenz auf [1]. Einige dieser Frakturen können sowohl erfolgreich konservativ als auch operativ versorgt werden [2]. Erfahrungsgemäß kommt es nach konservativem Therapiebeginn bei einigen Patientinnen und Patienten zu keiner ausreichenden Besserung oder sogar zur Verschlechterung des Zustandes, sodass im Verlauf die Fraktur operativ stabilisiert werden muss.

Die Indikationsstellung zur operativen oder konservativen Therapie ist anspruchsvoll. Hierbei müssen zahlreiche Aspekte berücksichtigt werden [3, 4]. Zum einen spielt die Frakturmorphologie eine wichtige Rolle. Daneben sind der Schmerzzustand sowie die Mobilisationsfähigkeit von hoher Bedeutung. Es müssen aber auch die Risikofaktoren operativer Eingriffe berücksichtigt werden. Während große Traumazentren aufgrund der hohen Patientenzahl regelhaft eine hohe Expertise aufweisen, ist es für Beschäftigte in kleineren Kliniken oder niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte deutlich schwieriger, sich eine entsprechende klinische Expertise anzueignen und eine Entscheidung zu treffen. Jedoch kann die Einweisung von Patientinnen und Patienten oder gar die Weiterverlegung in eine entfernt gelegene größere Klinik mit erheblichem Aufwand verbunden sein. Patientinnen und Patienten können durch die damit einhergehende Isolation vom gewohnten Umfeld leiden und werden potenziell emotional belastet, sodass dies bei konservativer Therapieindikation vermieden werden könnte. Dementsprechend wäre ein Score, der im Alltag gut anwendbar ist und bei der Indikationsstellung zwischen einer operativen und konservativen Therapie als Hilfestellung dienen könnte, von großer Bedeutung. In diesem Sinne stellen wir in diesem Artikel den OF-Pelvis-Score vor, dessen Entwicklung von den Erfahrungen des bereits etablierten OF-Spine-Scores profitierte [5]. Dieser hat den Anspruch, die Entscheidungsfindung zwischen operativem und konservativem Vorgehen bei osteoporotischen Beckenringfrakturen zu vereinfachen und zu unterstützen.

Entwicklung des Scores

Die Entwicklung des OF-Pelvis-Scores erfolgte durch die Mitglieder der AG Osteoporotische Frakturen (AG OF) der Sektion Wirbelsäule der deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) in repetitiven Sitzungen über einen Zeitraum von 2 Jahren. Die Erstellung des OF-Pelvis-Scores erfolgte durch Falldiskussionen und Simulationen zahlreicher Patientenfälle, die in der AG OF detailliert diskutiert wurden. Als Basis dient die OF-Pelvis-Klassifikation [6], welche in einem gesonderten Aufsatz in dieser Ausgabe beschrieben wird. Einfließen sollten alle wichtigen Parameter, die bei der Entscheidungsfindung zwischen einer Operation und einer konservativen Therapie eine wesentliche Rolle spielen.

Hierzu wurden folgende Aspekte als wichtig angesehen:

Frakturmorphologie

Mobilisationsfähigkeit

Schmerzsituation

Frakturbedingte neurologische Defizite

Risikofaktoren wie aktive Blutverdünnung, Gebrechlichkeit, allgemeiner Krankheitsschweregrad gemäß American Society of Anesthesiologists (ASA)

Frakturmodifikatoren, die auf einen höheren Instabilitätsgrad oder weitere Verletzungen hindeuten

OF-Pelvis-Score

Der OF-Pelvis-Score ist übersichtlich in Tabelle 1 zusammengefasst.

Bei der Berechnung des Punktwerts wird die Frakturkategorie verdoppelt. Bei frakturbedingt immobilen Patientinnen und Patienten werden 2 Punkte addiert. Mobile Patientinnen und Patienten bekommen dagegen 2 Punkte abgezogen. Immobile Patientinnen und Patienten, die zuvor schon immobil waren oder solche, die zwar wieder etwas mobiler geworden sind, jedoch vergleichsweise schlechter als vor der Fraktur, bekommen keinen Punkt addiert oder abgezogen. Bei starken Schmerzen (VAS ? 5) wird ein Punkt addiert, während bei geringen oder moderaten Schmerzen (VAS < 5) 1 Punkt abgezogen wird. Im Falle von neurologischen Auffälligkeiten, die frakturbedingt sind, wird 1 Punkt hinzugefügt. Der Gesundheitszustand wird mittels Risikofaktoren beurteilt. Pro Risikofaktor (Blutverdünnung, Frailty, ASA) wird jeweils 1 Punkt abgezogen, maximal jedoch 2 Punkte [7–10]. Die in der OF-Pelvis-Klassifikation enthaltenden Modifikatoren (M1 = Fraktur Prozessus Transversus, M2 = Frakturdislokation und M3 = Knochenödem im Beckenring an anderer Stelle als der bekannten Fraktur) werden ebenfalls berücksichtigt. Das Auftreten eines Modifikators führt zu einer Punkterhöhung, begrenzt jedoch auf maximal 1 Punkt, auch bei Auftreten von mehreren Modifikatoren. Durch die Summe der Punkte wird dann der OF-Pelvis-Score generiert. Ist ein Merkmal nicht zu beurteilen bzw. unbekannt, werden 0 Punkte vergeben.

Therapieempfehlung in Abhängigkeit (der Punktesumme) des Scores:

0–7 Punkte = konservative Therapieempfehlung

8 Punkte = konservative oder operative Therapie möglich

9–15 Punkte = operative Therapieempfehlung

Die Anwendung des Scores wird in Abbildung 1 illustriert.

Erste Ergebnisse in der
Anwendung des Scores

Der OF-Pelvis-Score wurde retrospektiv an 107 Fällen in 5 Traumazentren anhand der Aktenlage und der Bildgebung bestimmt und mit der tatsächlich durchgeführten Therapie verglichen. Hier zeigte sich eine Gesamtübereinstimmung der Therapieempfehlung, die durch den OF-Pelvis-Score hergeleitet wurde und der tatsächlich durchgeführten Therapie (konservativ versus operativ) von 91 % [11]. Dieser Übereinstimmungswert bestätigt sich in der aktuell noch laufenden prospektiven Erhebung, an der 17 Zentren beteiligt sind. Hierbei zeigt sich, dass die Erhebung des Scores im klinischen Alltag rasch möglich ist. Im Schnitt sind in etwa 5 Minuten Arbeitszeit für die Erhebung des OF-Pelvis-Scores notwendig (unveröffentlichte Daten der laufenden Studie).

Diskussion

Die Therapie von osteoporotischen Beckenringinsuffizienzfrakturen wird bestimmt durch radiologische, aber auch klinische Befunde. Die im Rahmen der bisherigen Evaluation erhobenen Daten des OF-Pelvis-Scores zeigen auf, dass der Score eine sehr hilfreiche Unterstützung für die Entscheidungsfindung zwischen konservativer und operativer Therapie sein kann. Der Score ist einfach und schnell im klinischen Alltag anwendbar und die daraus resultierenden Therapieempfehlungen entsprechen in hoher Übereinstimmung den Therapieentscheidungen in erfahrenen Traumazentren. Allerdings müssen die Ergebnisse durch weitere unabhängige Studien bestätigt werden. Zudem sind weitere Erfahrungen bei der Anwendung des OF-Pelvis-Scores essenziell, um die potenziellen Vorteile des Scores zu erhärten und um zu prüfen, ob er sich auch im klinischen Alltag durchsetzen kann. Wichtig ist hierbei das Verständnis, dass es sich um einen dynamischen Score handelt, der neben der Frakturklassifikation wesentlich durch die Schmerzsituation und den Mobilisationsgrad getriggert wird. Demzufolge ist eine Beurteilung erst nach entsprechender Analgesie über mindestens 3–5 Tage sinnvoll. Zudem kann es bei Schmerzzunahme und/oder Reduktion des Mobilitätsgrades zu einer Zunahme des OF-Pelvis-Score-Punktwerts kommen, wodurch wiederum eine Operationsindikation abgeleitet werden könnte.

Schlussfolgerung

Zusammengefasst handelt es sich bei dem OF-Pelvis-Score um eine Entscheidungshilfe für die Indikationsstellung zur konservativen oder operativen Versorgung von osteoporotischen Beckenringfrakturen. Hierbei spielen die Frakturmorphologie, der Schmerz, der Mobilisationsgrad sowie Risikofaktoren die entscheidende Rolle. Die Erhebung kann zügig meist innerhalb von wenigen Minuten durchgeführt werden und die Übereinstimmungsrate mit der tatsächlich durchgeführten Therapie war in vorausgegangenen Untersuchungen hoch.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Korrespondenzanschrift

Dr. med. Klaus John Schnake

Zentrum für
Wirbelsäulen- und Skoliosetherapie

Malteser Waldkrankenhaus St. Marien

Rathsberger Str. 57

91054 Erlangen

klaus.schnake@waldkrankenhaus.de

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