Originalarbeiten - OUP 11/2012

Die Bedeutung des Atlas aus der Sicht der Angewandten
Humankybernetik sowie seiner biomechanischen Belastung und Funktionsweise

H. Koerner1, C.-H. Siemsen2

Zusammenfassung

Der tägliche Umgang mit der Manuellen Medizin, Osteopathie, Angewandten Humankybernetik im Bereich des Atlas und den positiven Auswirkungen auf unsere Behandlungsergebnisse bei einem großen Diagnosespektrum der Patienten wirft die Frage auf, wie sich die Kraftverhältnisse im Kopfgelenkbereich C0/C1, C1/C2 darstellen. Steuer- und Regelvorgänge in dieser Region sind durch angewandte und theoretische Grundlagen der Humankybernetik nachgewiesen. Besondere anatomisch bedingte Muskelkräfte und Verläufe im Kopfgelenkbereich weisen darauf hin, dass die Gelenkbelastung C0/C1, C1/C2 deutlich geringer sein muss als bislang angenommen. Dieses entspricht auch den Erkenntnissen der Kraftverteilung in Fachwerken und lässt sich über Tensegrity erklären. Die vorliegende Arbeit versucht diese Erkenntnisse von Humankybernetik und Tensegrity zu verbinden.

Schlüsselwörter: Atlasmedizin, Humankybernetik, Biomechanik, Atlasbelastung, Tensegrity.

Summary

The daily work with manual medicine, osteopathy, applied human cybernetics in the area of the atlas, i.e. the first vertebra, and its favorable consequences for the results of our treatment of patients of a broad diagnostic spectrum raises the question about the relation of forces in the C0/C1, C1/C2 region. The existence of steering mechanisms and controls in this region is well-proven by the applied and theoretical principles of human cybernetics. Under the given anatomic conditions special muscle forces and structures in the region of the vertebrae close to the head joint show that the strain on C0/C1, C1/C2 must be significantly lower than supposed until now. This is in accordance with the knowledge about the distribution of mechanical forces in half-timbering and can be explained by the principles of tensegrity. This article tries to combine the knowledge about human cybernetics and tensegrity.

Keywords: atlas medicine, human cybernetics, biomechanic, atlas load bearing, tensegrity

Einleitung

Die langjährige diagnostische Auswertung von Röntgenbildern der Atlasregion hat ergeben, dass erstaunlicherweise keine nennenswerten Arthrosen der Kopfgelenke, also im Bereich der Gelenke C0/C1 und C1/C2, auftreten. Dieses hat zu der Überlegung geführt, dass weniger vertikal wirksame Kräfte in diesen beiden Gelenkabschnitten auftreten, als zunächst und bislang biomechanisch angenommen wurde. Allein das Kopfgewicht mit 4,5–5 kg gab Anlass, von einer höheren Belastung in diesen Gelenkabschnitten auszugehen. Hinzu kamen der Grundtonus der umgebenen Muskulatur und die dynamische Belastung der Halswirbelsäule beim Gehen und Drehen im täglichen Leben. Immer wieder erstaunt waren die Autoren darüber, dass sehr gute Behandlungswirkungen durch Atlasmedizin, Manuelle Therapie und Osteopathie in diesen Gelenkabschnitten sowohl bei Säuglingen als auch bei Erwachsenen zu erreichen sind. Verschiedene sehr differenzierte und komplizierte Behandlungsdiagnosen lassen sich mit den genannten Methoden behandeln. Die Suche nach Erklärungen für diese Phänomene hat zu theoretischen Überlegungen geführt, die im Weiteren aufgeführt werden.

Theoretische Grundlagen
der Humankybernetik

In unserem täglichen Leben begegnen wir der Kybernetik auf Schritt und Tritt, wir sind von unzähligen technischen Regelkreisen umgeben. Denken wir nur an die Regulierung einer Zentralheizung oder an den simplen Regelkreis einer Toilettenspülung. In der technischen Kybernetik sind alle Bauteile wie Regler, Regelstrecke mit Sensor sowie die Signalfrequenzen bekannt und bilden einen geschlossenen Regelkreis. So ist z.B. die Regulation von Wärme, Wasserdruck und Energieverteilung in einem Haus technisch sehr einfach zu erklären. Regler und Führungsgröße sind auf die Regelstrecke und Störgröße abgestimmt und arbeiten mit messbaren Signalen (Abb. 1).

In der Humankybernetik stehen wir vor dem regeltechnischen Wunderwerk Mensch. Hier sind die biologischen Regelkreise stark miteinander vernetzt. Führungsgröße und Störgröße sind in einem biologischen System nicht eindeutig abzugrenzen, weil häufig die Führungsgröße des einen Teils der vernetzten Regler zugleich die Störgröße des anderen darstellt [1]. Da wir es mit einem biologischen System zu tun haben, könnte man auch von biokybernetischen Prozessen sprechen. Im Folgenden wird aber der Begriff „humankybernetisch“ gewählt, da sich die Biokybernetik mit einem geschlossenen internen Signaltransfer von Information beschäftigt, wir aber auch einen offenen Informationstransfer mit Auswirkung auf die interne Signalverarbeitung berücksichtigen müssen. Bei mobilen Lebewesen hat sich die Natur für eine duale, asymmetrische Kybernetik mit einer dominanten Körperseite (Führungsgröße) und einer sensiblen Körperseite (Kooperationsgröße) entschieden. Dieses biokybernetische Ungleichgewicht (Asymmetrie) beider Körperhälften ist von der Natur mit einem jeweils vorgegebenen steuerenergetischen Toleranzfeld angelegt und ist notwendig, um den “Dualcomputer“ Gehirn mit stabilen Informationsdaten zu füttern [1].

Eine zentrale Aufgabenstellung der Humankybernetik ist die leistungsbezogene ausgeglichene Energieverteilung der Zellen untereinander. Mit zunehmender Anzahl von Zellen kann die Energieverteilung nur mit einem energetisch ausgeglichenen Leistungsprofil über eine funktionelle Aufgabenteilung erreicht werden. Da alle Zellen die gleiche DNA-Steuerung haben, werden die unterschiedlichen Leistungsanforderungen von Zellverbänden energetisch über Kaskadenregulation angemessen versorgt. Unter diesem Gesichtspunkt ist das hierarchisch-zelluläre Netzwerk der Energieverteilung steuer- und regeltechnisch am einfachsten nachvollziehbar und zeigt, dass die Zellen über ein perfektes kybernetisches Netzwerk die Energieverteilung letztendlich selbst steuern.

Die biologische Regulation von Körperwärme, Blutdruck und Energieverteilung sowie die Biomechanik und Sinneswahrnehmung beim Menschen können wir als einen kompletten humankybernetisch geschlossenen Regelkreis nicht nachweisen, da das Steuerprogramm des Reglers in der Zell-DNA verankert ist.

Biomechanik von Atlasringmuskulatur und Atlas

Biomechanisch betrachtet ist der Atlaswirbelkörper ein in 3 Raumebenen frei beweglicher Gleitring im Funktionsverband der Kopfgelenkeinheit. Da die Überlappung der korrespondierenden Gelenkflächenanteile von der Neutral-Null-Methode in allen Richtungen eine abnehmende ist, spricht dieser Fakt gegen eine funktionelle Stützfunktion. Unter diesem Aspekt bleibt der angehängte Muskelring der Atlasregion als das tragende Stützelement übrig. Betrachtet man hier die Aufhängung des Atlaswirbelkörpers im muskulären Fachwerkverband, stellt sich dieser selbst als ein funktioneller Stützpfeiler der Querkräfte zwischen den antagonistisch arbeitenden Muskeleinheiten der rechten und linken Körperhälfte dar. Hauptaufgabe des Atlasringes ist es, sowohl die Gleitführung zwischen Schädelbasis und Dens als auch das Auffangen der Querkräfte in horizontaler Ebene zu übernehmen. Das heißt: Um den Kopf zu tragen, werden Stützlast, Stoßdämpfung, Scherkräfte und Beweglichkeit in der Atlasregion nur muskulär bewältigt und gesteuert! Die eigentliche Stützfunktion unseres etwa 4,5–5 kg schweren Kopfes übernimmt die Muskulatur, die den Atlas umgibt. Auf dieser Muskulatur, vergleichbar einer Tensegrity-Fachwerkkonstruktion, lastet in vertikaler Position eine gleichmäßig verteilte Zugbelastung (Abb. 2).

Humankybernetik von
Atlasringmuskulatur und
Atlas (Arbeitshypothese)

Humankybernetik und technische Kybernetik unterliegen der gleichen Gesetzmäßigkeit. Schwachstelle der Steuerung und Regelung in der Biologie ist, dass die Feedback-Bausteine (Sensoren, Signalgeschwindigkeit und der anatomische Ort der Signalleitungen) mit den uns bekannten physikalischen Messmethoden nicht direkt nachweisbar sind. Da die maximal nachweisbare Nervenleitgeschwindigkeit der Skelettmuskulatur 120 m/s beträgt, muss das Feedback-Signal, um einen geschlossenen Regelkreis zu bilden, eine höhere Geschwindigkeit aufweisen; und da das Netzwerk des Nervensystems als Hochgeschwindigkeitsleitung nicht in Frage kommt, drängt sich die Hypothese auf, dass das hoch verzweigte Blutgefäßsystem diesen Hochgeschwindigkeits-Signaltransfer übernimmt, wobei das endothele Netzwerk mit seinen Endkapillaren als Sender und Empfänger fungiert. Dieses geschlossene Endothel-Netzwerk versorgt die anliegenden Arbeitszellen mit Energie und Information (Abb. 3). Ein zweiter Informations-Transfer ist das Blut selbst. Die motorische Rückkopplung, um einen Regelkreis zu schließen, geschieht über die Granulationes arachnoideales im Sinus sagittales superior (Abb. 4).

Die Natur hat mit den Sinnesorganen eine erweiterte Sicherheitszone geschaffen, die im Falle von Gefahren rechtzeitiges Reagieren möglich macht. Doch bei der Entschlüsselung der humankybernetischen Abläufe drängt sich die Frage nach weiteren „Frühwarnsystemen“ des Körpers auf. So könnte zum Beispiel bei einem Auffahrunfall die sich im Körper ausbreitende Stoßwelle über eine innere Sicherheitszone mit einem hohen Reflexpotenzial abgemildert werden. Das hieße, dass der physikalischen Stoßwelle eine Informationswelle vorauseilen und in den gefährdeten Regionen eine schützende Gegenreaktion einleiten würde. Die selten auftretenden Kopfgelenkarthrosen sprechen dafür, dass die Konstruktion der Atlasregion mit einem solchen Sicherheitsmechanismus ausgerüstet ist, um die Zeitdifferenz zwischen physikalischer Stoßwelle und dem vorauseilenden Informationssignal zu vermessen. Geht man davon aus, dass eine Stoßwelle im Körper je nach Materialbeschaffenheit von 1000–4000 m/s durchläuft, muss die Geschwindigkeit des Schutzsignals deutlich höher sein. Logische Schlussfolgerung für den Bereich der Atlasregion wäre, dass die beteiligten Muskelgruppen als Schutzreaktion eine erhöhte Vorspannung der Muskulatur einleiten, bevor die physikalische Stoßwelle das Kopfgelenk erreicht. Dieser Schutzmechanismus würde für alle Segmente der Wirbelsäule gelten. Diese Überlegung wirft aber gleichzeitig die Frage auf, ob ein hochenergetischer Stoßimpuls in den unteren Wirbelsegmenten einen biokybernetischen Kurzschluss auslösen kann, welcher die energetische Steuerungsasymmetrie der Spiegel-DNA [1] in der linken und rechten Körperhälfte mit einer kompletten Querschnittslähmung zusammenbrechen lässt. Der in der Atlasregion gesetzte TBS-Impuls [1] überbrückt den Sicherheitsmechanismus der Atlasringmuskulatur und löst auf der jeweils behandelten Körperseite ein halbseitiges Gehirn-Reset aus. Die anatomischen Gegebenheiten lassen den Schluss zu, dass der Informationsweg über die Arachnoidealzotten im Sinus sagittales verläuft. (Abb. 4)

Folgen wir diesem Denkansatz, erklären sich auch die häufig beschriebenen peripheren Erscheinungsbilder nach einer manuellen Therapie in der Atlasregion und die Therapieerfolge in dieser Region, die nicht der rein mechanischen Ausrichtung des Atlas, sondern dem hohen humankybernetischen Informationstransfer zuzuschreiben sind, den die enge Bündelung von Nerven- und Gefäßsystem in diesem Bereich möglich macht.

Theoretische Grundlagen Tensegrity

Das Wort Tensegrity erklärt sich aus den beiden Worten Tension und Integrität, also die Spannung aus ganzheitlicher Betrachtungsweise. Tensegrity-Strukturen wurden schon in der Technik durch den Architekten, Designer und Erfinder R. Buckminster-Fuller [5] entdeckt und angewandt. Die größte Kuppel zur damaligen Zeit wurde 1967 mit einem Kuppeldurchmesser von 80 m konstruiert und auf der Weltausstellung in Montreal vorgestellt. Einfache Strukturelemente gehen auf einfache Bauelemente zurück, z.B. bestehend aus 3 Stäben und 9 Seilen. Die Entdeckung von Mikrostrukturen in Zellen, wurden durch den Molekularbiologen D. Ingber 1998 vorgestellt. Ein Zytoskelett in der Zelle wurde durch ihn entdeckt [3]. Diese neuen Zellstrukturen heißen Aktinfilamente und entsprechen den Seilfunktionen am technischen Modell. Weiterhin treten Mikrotubulie auf, die als Stäbe beschrieben werden und intermediäre Filamente, die ebenfalls Seilfunktionen ausüben. Diese sind für die hohe Stabilität der Zellen verantwortlich. Als 4. Struktur wurden Integrine gefunden. Diese haben Schaltfunktionen, sie stellen die Information über Spannungszustände zwischen dem Zellinneren und dem Extrazellularraum her, sie befinden sich in der Zellmembran. Die wichtigsten Konstruktionsmerkmale von Tensegrity-Strukturen bestehen in der Vorspannung und in der Dreiecksbildung. Die Vorspannung dient der Stabilitätsoptimierung biologischer Netze durch Massenreduktion an kritischen Verbindungsstellen, Aufnahmen von unerwarteten äußeren Belastungen sind möglich. Verdichtung von lockerer Gewebefügung ermöglicht die hohe Flexibilität von Geweben. Die Dreiecksbildung besteht aus der Nutzung der Stellen höherer Steifigkeit z.B. trabekuläre Streben der Spongiosa z.B. im Schenkelhals, Nutzung der Verbindungsstellen; und geometrische Teilchen ermöglichen die hohe Festigkeit. Die häufigsten geometrischen Formen von Tensegrity-Strukturen findet man in Dreiecken: Tetraeder, Hexaeder, Oktaeder und Polyeder. Vorgespannte Gleichgewichte zeichnen sich durch kontinuierliche Zug- und Kompressionskräfte (Druck) aus. Diese Elemente stabilisieren die physikalische Struktur dieses lebenden Materials in unterschiedlichen Größenordnungen, z.B. von einer Bandstruktur bis zur Mikrofaser. Die Tensegrity-Konstruktionsmerkmale zeichnen sich im Unterschied zu technischem Fachwerkkonstruktionen dadurch aus, dass die Elemente optimal ausgenutzt werden, die Querschnitte unterschiedlich belastet werden, Knotenpunktverschiebung stattfindet, die inneren Kräfte die äußere Stabilität schaffen, eine Dreidimensionalität vorliegt, es sich um eine dynamische Konstruktion handelt. In Tensegrity ist ein Konstruktionsprinzip verwirklicht, das selbsttragend ist und keine innere Abstützung benötigt. Die Modelle bestehen z.B. aus Stangen (Knochen) und Seilzügen (Fascien), es entstehen daraus geodätische Formen, eine optimale Druck- und Spannungsverteilung der Gesamtkonstruktion ist gegeben, die Spannung ist gleichmäßig auf alle Bestandteile verteilt; eine Spannungszunahme in einem Anteil vergrößert den Druck auf alle anderen Anteile innerhalb des Systems. Eine globale Spannungszunahme wird durch eine Spannungsveränderung zwischen den einzelnen Anteilen ausgeglichen. Die Konstruktion stabilisiert sich selbst und wird dadurch auf eine Art lebendig. Wenn Spannungskräfte und Kompressionskräfte komplementär genutzt werden, bilden sie Systeme, welche weitaus höhere Lasten tragen können als durch traditionelle Strukturanalysen angenommen. Diese Zusammenarbeit der Strukturen nennt man Synergie. In Tensegrity-Systemen bekommen Materialien neue Eigenschaften, nicht metallische Materialien können Strom leiten, die Kraftübertragung im System wird variabler und komplexer; in lebenden Systemen führt die Nutzung einer Hierarchie von Tensegrity-Netzwerken zu einem optimalen Wirkungsgrad der Struktur und stellt einen Mechanismus der optimalen Kopplung der Anteile mit dem Ganzen dar. Ein direkter Bezug zur Elektrophysiologie und Biochemie ist herzustellen und abzuleiten. Tensegrity-Strukturen lassen sich in Atomen, Molekülen, Viren, Eiweißen, Pollen, Algen und Körperzellen nachweisen. Sie unterscheiden sich nur durch ihre Größenordnung. Bezogen auf den Menschen bedeutet dieses: Die 206 Knochen des Menschen sind die Strukturteile und werden als Stäbe behandelt und angesehen, sie werden in Spannung gehalten von Muskeln, Sehnen und Fascien (Seile). Zellen, Proteine und andere Moleküle stabilisieren sich selbst durch Tensegrity, die Zunahme der Spannung in einem Punkt wirkt sich auf das gesamte Gebilde aus.

Bedeutung und Auswirkungen von Tensegrity in der Medizin

Die wissenschaftlichen Grundlagen werden geliefert für die Manualtherapie, Osteopathie, Physiotherapie und Reflextherapie. Struktur und Funktion werden reziprok verknüpft. Tensegrity-Strukturen sind sehr stabil; sie verteilen und balancieren mechanischen Stress. Durch Tensegrity-Strukturen lassen sich Gesundheit und Krankheit in den o.g. Therapiebereichen durch folgende Aussagen erklären:

Die Form beherrscht die Funktion, die Form wird beherrscht von bewegten Strukturen, somit ist die Struktur für die Funktion verantwortlich. Eine Rückstellfähigkeit zur Ausgangslage ist möglich, eine somatische Dysfunktion oder Funktionsstörung beeinflusst die Bewegung des ganzen Menschen bis hin zur zellulären Ebene. Eine mangelnde Rückstellfähigkeit der Zellstruktur (Erschöpfung des Systems) bildet die Grundlage von Krankheitserscheinungen am Haltungs- und Bewegungsorgan. Ein dauerhaft gestörtes Gelenk in seiner funktionellen Endstellung wird hiermit durch seine Mikrostruktur durch funktionelle Erschöpfung erklärt. Die Medizin als empirische Wissenschaft wird zunehmend auf naturwissenschaftliche Grundlagen gestellt, eigene Forschungen im Bereich des HWS-Schleudertraumas konnten die wissenschaftlichen Nachweise für die geschilderten Phänomene erbringen [4]. Die Kraftverteilung im menschlichen Körper bei Gewichthebern zeigt die hohe Entlastung der Wirbelsäule – speziell der Bandscheiben und kleinen Wirbelgelenke – durch umgebende Strukturen von Kapseln, Bändern und Muskeln bis hin zur Haut [2].

Als Erklärungsmodell der Atlasentlastung aus biomechanischer Sicht können nachfolgende Punkte aufgeführt werden:

1. Optimale Kraftverteilung über Tensegrity vom Kopfgewicht über Gelenkverbindung C0/C1, C1/C2, Gelenkkapseln, Muskeln, Fascien, Bänder, schrittweise bis zur Haut des Halses.

2. Anatomische Muskelanordnung der Atlasregion durch Ursprung und Ansatz sowie deren Verlaufs-Richtung ergibt sich eine kompensatorische Kraftreduktion der Gelenke C0/C1, C1/C2 (vektorielle Neutralisierung)

3. Fachwerkkonstruktion, Dorn- und Querfortsatzverlauf sowie Muskelanordnung, die Fachwerke bauen sich aus Dreiecken auf (Kraftecke, Konstruktionsvorteile, 3D-Fachwerk), (Abb. 5).

Ein Fachwerk ist eine Tragkonstruktion mit geringerem Materialaufwand (Leichtbaukonstruktion). Stäbe des Fachwerks nehmen nur Druck- und Zugkräfte auf. Dadurch kommt es zu einer Ausnutzung des ganzen Stabquerschnitts bis zur Spannungsgrenze. Äußere Kräfte greifen an den Knotenpunkten an. Es entsteht eine bestmögliche Werkstoffausnutzung (keine Biegebeanspruchung). Der Atlas ist durch diese Analyse wesentlich geringer belastet als formal bislang angenommen. Physikalisch gesehen kann man von einer weitgehend entlasteten Ringfunktion ausgehen. Die nicht auftretenden Spondylarthrosen in diesem Bereich bestärken unsere Hypothesen (Abb. 2). Durch diese 3 biomechanischen Gesetzmäßigkeiten entsteht eine erhebliche Kräftereduktion auf den Gelenkflächen der Kopfgelenke C0/C1, C1/C2 bei Neutralstellung des Kopfes.

Praktische Relevanz für
Behandlung und Anwendung

Die dargestellten Grundlagen der Humankybernetik und Tensegrity machen die guten Therapiewirkungen der Atlasmedizin, der Manualtherapie, der Osteopathie und der Physiotherapie im Kopfgelenkbereich verständlich. Das Grundlagenwissen zur Atlasentlastung wird durch diesen Beitrag geliefert. Die dargestellten Erkenntnisse bedürfen der weiteren Verifizierung. Sie stellen Optionen für die Zukunft von neuen Therapieformen dar und dienen der Optimierung von bislang durchgeführten Therapien aus dem o.g. Therapiespektrum.

Fazit

Die Erkenntnisse aus dieser Arbeit erklären die guten Behandlungsergebnisse im Bereich der Atlasmedizin und der manuellen Medizin einschließlich der Osteopathie. Der Atlas muss aufgrund unserer Erkenntnisse eine Sonderstellung im Bereich seiner Steuer- und Gelenkfunktionen sowie seiner biomechanischen Arbeitsweise einnehmen. Ein weiterführender wegweisender Hinweis dazu waren die nicht beobachteten Kopfgelenkarthrosen. Der Atlas in seiner Funktion lässt sich als Regel- und Steuerorgan deuten (Humankybernetik). Die optimale Kraftverteilung bei hoher Beweglichkeit lässt sich durch Tensegrity-Strukturen und die 3D-Fachwerke erklären. Eine weitgehende Entlastung der Gelenkflächen C0/C1, C1/C2 ist über die o.g. Kernaussagen erklärbar. Die vorliegende Arbeit ist eine hypothetische Zusammenführung aus Humankybernetik und Tensegrity. Beweise durch biomechanische Modellrechnungen werden folgen müssen. Die humankybernetische Beweislage könnte durch MRT-Aufnahmen der halbseitigen Feedback-Aktivierung über die Granulationes arachnoideales im Sinus sagittales superior bei Bewegungen der Extremitäten manifestiert werden. Außerdem bedarf die Zeitdifferenz zwischen der reflektorischen Vorspannung der beteiligten Muskulatur des HWS-Bereiches und der physikalischen Stoßwelle durch den Körper einer Beweislage.

Literatur

1. Koerner H, Würzner A. Kleiner Impuls – Große Wirkung. Orthopädische Praxis 2010; 46: 191–201

2. Siemsen CH, Dittrich H. Kräfteverteilung im Körper des Menschen am Beispiel von Gewichthebern – Tensegrity als Erklärungsmodell. Osteopathische Medizin 2009, 10; 14–18

3. Ingber DE, Chen CS. Tensegrity und Mechanoregulation: Vom Skelett zum Zytoskelett. Osteopathische Medizin 2008; 4: 4–17

4. Tensegrity, Theoretisches Gesundheits- und Krankheitsmodell. Manuelle Medizin 2006; 44: 121–124

5. Buckminster-Fuller R. Tensegrity: Durch Spannung im Gleichgewicht gehaltenes System – Vision der Moderne, Das Prinzip Konstruktion. München: Prestel-Verlag, 1986: 138–151

Korrespondenzandresse

Dr. med. Dipl.-Ing. H. Koerner

Liepnitzstr. 16, 10318 Berlin

koernerdoc@t-online.de

Fussnoten

1 Institut für Angewandte Humankybernetik; Praxis für Orthopädie, Manuelle Medizin, Sportmedizin, Berlin

2 Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Arbeitsbereich Biomechanik der Fakultät Life Science Hamburg; Orthopädische Facharztpraxis Buxtehude, Manuelle Medizin, Sportmedizin, Spezielle Schmerztherapie, Osteopathie

DOI 10.3238/oup.2012.0454–0458

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