Originalarbeiten - OUP 02/2012

Die Muskel-Knochen-Einheit:
Der Muskel als Kraftquelle für die Knochenmechanik
The muscle bone unit: Muscle as a power source for bone mechanics

H. Schießl1

Zusammenfassung: Nach dem Mechanostat-Modell von Harold Frost ist die Knochenfestigkeit im Wesentlichen an die willentliche Maximalkraft adaptiert, so dass es zu keiner Schädigung des Knochens durch die Muskelkraft kommen kann. Am Unterschenkel können dabei z. B. aufgrund der Hebelverhältnisse Kräfte auf den Knochen wirken, die das Körpergewicht um mehr als das Zehnfache übertreffen. Diese Kräfte führen zu einer Verformung des Knochens. Übersteigt diese Verformung einen bestimmten Wert, führt dies zu einem Zuwachs an Knochenfestigkeit. Wird andererseits eine niedrigere Schwelle der Verformung nicht regelmäßig erreicht, führt dies zu einem Abbau von Knochenmaterial und Festigkeit. Durch diesen Optimierungsprozess wird ein Knochen ausgebildet, der bei minimaler Masse optimal an die Größe und Richtung der Kräfte angepasst ist. Die Empfindlichkeit der Zellen gegenüber der Verformung kann durch verschiedene Faktoren wie z. B. Hormone, Ernährung, genetische Einflüsse moduliert werden. Ein Verlust an Muskelkraft führt gleichzeitig zu einer verringerten Knochenfestigkeit und zu einer Zunahme des Sturz- und daraus resultierend zu einer Zunahme des Frakturrisikos.

Stichworte: Muskel, Knochen, Mechanostat, Frakturrisiko, Osteoporose

Summary: According to Harold Frost’s mechanostat model bone strength is mainly adapted to the voluntary muscle force to avoid bone damage by muscle contractions. As an example, at the lower leg due to the lever ratios forces may act on the tibia that exceed the body weight more than tenfold. These forces cause a deformation of bone. If this deformation exceeds a certain threshold bone strength is increased. On the other hand if a lower threshold is not regularly exceeded bone mass is reduced. This optimization process forms a bone that is adapted to magnitude and direction of muscle forces with minimal bone mass. The sensitivity of bone cells to deformation can be modulated by different factors like hormones, nutrition or genetic factors. At the same time a loss of muscle force reduces bone strength and increases fall risk and therefore increases the fracture risk

Keywords: muscle, bone, mechanostat, fracture risk, osteoporosis

Einführung

Knochenabbau wird oft als eine Erkrankung des Alters verstanden. Tatsächlich kann er jedoch in jedem Alter auftreten. Mehrere Studien über die Knochenveränderungen bei Paraplegikern [1] und Studien mit simulierter Schwerelosigkeit [2] haben gezeigt, dass kein Zustand zu einem so schnellen Knochenabbau führt wie Immobilisation. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass Immobilisation und Verlust an Muskelkraft eine wesentliche Ursache für Osteoporose darstellen. Der Zusammenhang zwischen Muskelkraft und Knochenfestigkeit wurde bereits 1964 als Mechanostat-Modell von Harold Frost entwickelt [2]. Nach diesem Modell wird der Knochen durch die auftretenden Muskelkräfte verformt und diese Verformungen können durch Knochenzellen detektiert werden. Wird der Knochen nicht regelmäßig über eine bestimmte Schwelle verformt, kommt es zu einem Verlust an Knochenmasse und Festigkeit. Wird eine zweite, höhere Schwelle der Verformung überschritten, wird Knochen aufgebaut und die Knochenfestigkeit erhöht, um Schädigungen des Knochens zu vermeiden. Dadurch entsteht eine Knochengeometrie, die eine optimale Festigkeit bei minimaler Masse gewährleistet. Diese Knochengeometrie ist das Resultat von Millionen von Verformungszyklen durch die Muskelkraft, bei gegebenen Materialeigenschaften des Knochens und der Empfindlichkeit des Knochens auf die Verformung.

Definition der Osteoporose nach der WHO: Die Osteoporose ist definiert als eine systemische Erkrankung des Skeletts, die durch eine niedrige Knochenmasse und Schädigung der Mikroarchitektur des Knochens gekennzeichnet ist, die zu einer erhöhten Brüchigkeit des Knochens und zu einem erhöhten Frakturrisiko führt.

Definition der Osteoporose anhand der Knochenphysiologie: Osteoporose ist als eine Erkrankung definiert, bei der die Adaptation des Knochens an die auftretenden Muskelkräfte gestört ist und als Folge der Sicherheitsfaktor (das Verhältnis von Spannung bei maximaler willentlicher Muskelkraft und Bruchkraft) erniedrigt ist. Dementsprechend ist der Knochenverlust infolge einer nachlassenden Muskelkraft oder infolge einer Immobilisation keine primäre Osteoporose, sondern sollte als sekundäre Folge der Muskelerkrankung betrachtet werden.

Willentliche Maximalkraft

Der Begriff der Maximalkraft wird in der Literatur oft mehrdeutig verwendet. Sie wird als isometrische, isokinetische Kraft, als "one repitition maximum" und bei konzentrischen oder exzentrischen Bewegungen angegeben. Die Hill-Kurve (s. Muskelphysiologie), die das Verhältnis zwischen Muskelkraft und Kontraktionsgeschwindigkeit beschreibt, zeigt, dass die maximale Kraft bei einer exzentrischen Bewegung auftritt. Daher ist das wiederholte Hüpfen auf dem Vorfuß am besten geeignet, in einfacher, reproduzierbarer und klinisch relevanter Weise die Maximalkraft zu bestimmen [4]. Nach dem Ende der Wachstumsphase sind Knorpel, Sehnen und Knochen an die auftretenden Kräfte angepasst. Während sich der Knochen auch nach der Pubertät an veränderte Kräfte adaptieren kann, sind Knorpel und Sehnen dazu nur sehr eingeschränkt in der Lage. Um Schäden an Knorpel und Sehnen zu vermeiden, darf die Maximalkraft nicht mehr wesentlich zunehmen. Daher ist die willentliche Maximalkraft nach dem Ende der Wachstumsphase nicht mehr in größerem Maße trainierbar. Golgi-Organe in den Sehnen dienen als begrenzende Faktoren der Muskelkraft. Somit ist eine Zunahme der maximalen Muskelkraft nur nach vorangegangener Dekonditonierung möglich. Die Messung der Bodenreaktionskräfte beim Hüpfen auf dem Vorfuß ergibt Werte von etwa dem 3,5-fachen des Körpergewichts bei gesunden Probanden unabhängig von Alter und Geschlecht [4, 5]. Durch die Hebelverhältnisse am Sprunggelenk von etwa 3 : 1 werden dabei Kräfte von mehr als dem 10-fachen des Körpergewichts in die Tibia eingeleitet (Abb. 1). Bei Gesunden nimmt die Muskelkraft mit dem Alter nur wenig ab, während die Leistung mit höherem Alter stetig abnimmt. Das Sturzrisiko hängt wesentlich von der Muskelleistung ab. Daher führt ein Muskelabbau einerseits zu einer Verringerung der Knochenfestigkeit, andererseits zu einer Steigerung des Sturzrisikos und damit zu einem erhöhten Frakturrisiko.

Einfluss der Kraft auf den Knochen

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, führen Muskelkräfte zu einer Verformung des Knochens. Die maximale Verformung in der Tibia beim Menschen während verschiedener Übungen liegt typischerweise bei etwa 2000 µstrain [6]. Die Osteozyten im Knochen können die Verformung messen und als chemisches Signal weiterleiten, das bei höheren Verformungen zu einer Verbesserung der Festigkeit führt. Als Folge fällt die Verformung wieder unter diesen Wert (Abb. 2). Wird eine tiefere Schwelle der Verformung nicht regelmäßig überschritten, führt dies zu einem Abbau von Knochenmasse. Dabei genügen bereits wenige Verformungszyklen oberhalb der Schwelle, um einen Knochenabbau zu verhindern [7]. Durch diesen Mechanismus ist gewährleistet, dass einerseits die Verformung bei willentlichen Muskelkontraktionen den Knochen nicht schädigen kann und andererseits mechanisch nicht benötigter Knochen abgebaut wird. In mehreren Studien wurde der erwartete enge Zusammenhang zwischen der Muskelquerschnittsfläche und der Knochenquerschnittsfläche bzw. der Muskelkraft und der Knochenfläche bestätigt [8, 4]. Bei gesunden Probanden wird bei der Messung der Knochen- und Muskelquerschnittsfläche bei 66% der Tibialänge ein Verhältnis von 5% gefunden.

Eine Verformung von 2000 µstrain ergibt bei einem Elastizitätsmodul des Knochens von 15 GPa eine Spannung von 30 N/mm². Die ultimative Festigkeit des Knochens beträgt etwa 160 N/mm² (Abb. 3). Daher beträgt der Sicherheitsfaktor des Knochenmaterials zwischen der Spannung bei normaler Muskelkontraktion und der Bruchgrenze etwa 5.

Klinische Konsequenzen

Immobilisation oder Verlust von Muskelkraft führt lokal zu einem Abbau von Knochenmasse, der anhand von zwei Faktoren sichtbar wird:

1. Abbau spongiösen Knochens

2. Endosteale Resorption der Kortikalis

Der Abbau der Spongiosa ist ausgeprägter als der Verlust der Kortikalis. Während einer dreimonatigen Bettruhe wurden Verluste von durchschnittlich 6% gefunden, während die Kortikalismasse nur um 2% abnahm [2]. Parplegiker weisen gegenüber gehfähigen Probanden eine über 70% reduzierte Spongiosadichte, aber nur eine um 25% verringerte Kortikalisquerschnittsfläche auf [1].

Studien bei Kindern zeigen, dass ein regelmäßiges Training zu einem erhöhtem Knochenanbau führt [9]. Während einer achtwöchigen Immobilisierung konnte ein geeignetes Trainingsprogramm den Muskel- und Knochenabbau verhindern. Auch bei älteren Menschen kann ein geeignetes Training Muskelkraft und Knochenmasse verbessern [10, 11].

Der enge Zusammenhang zwischen Muskel und Knochen kann auch für die Differentialdiagnostik der Osteoporose genutzt werden. Ist eine geringe Muskelkraft die Ursache für eine geringe Knochenfestigkeit, handelt es sich um eine Immobilitätsosteopenie und das Knochen-Muskel-Verhältnis ist normal. In diesem Fall kann durch eine Verbesserung der Muskelkraft auch die Knochenfestigkeit verbessert werden. Ist aber die Knochenfestigkeit bei normaler Muskelkraft erniedrigt, ist das Knochen-Muskel-Verhältnis erniedrigt und es handelt sich um eine primäre Osteoporose (Abb. 4).

Zusammenfassung

Die maximale willentliche Muskelkraft ist der wesentliche Stimulus für die Entwicklung und Erhaltung der Knochenfestigkeit. Die Adaptation des Knochens an die Muskelkraft kann durch viele Faktoren wie Genetik, Hormone, neuronale Faktoren, Ernährung etc. moduliert werden. Immobilisation oder Verlust an Muskelkraft führt zu einem rapiden Knochenabbau. Daher muss die Diagnostik der Osteoporose immer eine Analyse der Muskelfunktion einschließen

Korrespondenzadresse

Hans Schießl

Stratec Medizintechnik

Durlacher Str. 35

75172 Pforzheim

E-Mail: m.schiessl@novotecmedical.de

Literatur:

1. Eser P, Frotzler A, Zehnder Y, Wick L, Knecht H, Denoth J, Schiessl H: Relationship between the duration of paralysis and bone structure: a pQCT study of spinal cord injured individuals. Bone (2004); 34 (5): 869–880.

2. Rittweger J, Frost H M, Schiessl H, Ohshima H, Alkner B, Tesch P, Felsenberg D: Muscle atrophy and bone loss after 90 days’ bed rest and the effects of flywheel resistive exercise and pamidronate: results from the LTBR study. Bone (2005); 36 (6): 1019–1029.

3. Frost H M: From Wolff’s law to the Utah paradigm: insights about bone physiology and its clinical applications. Anat Rec. (2001); 262 (4): 398–419.

4. Anliker E, Rawer R, Boutellier U, Toigo M: Maximum Ground Reaction Force in Relation to Tibial Bone Mass in Children and Adults. Med Sci Sports (2011) im Druck.

5. Michaelis I, Kwiet A, Gast U, Boshof A, Antvorskov T, Jung T, Rittweger J, Felsenberg D: Decline of specific peak jumping power with age in master runners. J Musculoskelet Neuronal Interact. (2008); 8 (1): 64–70.

6. Burr D B, Milgrom C, Fyhrie D, Forwood M, Nyska M, Finestone A, Hoshaw S, Saiag E, Simkin A: In vivo measurement of human tibial strains during vigorous activity. Bone (1996) 18 (5): 405–410.

7. Y Umemura, T Ishiko, T Yamauchi, M Kuruno, S Mashiko: Five jumps per day increase bone mass and breaking force in rats. J Bone Miner Res (1997) 12: 1480–1485.

8. Schießl H, Willnecker J: Muscle Cross Sectional Area and Bone Cross Sectional Area in the Human Lower Leg Measured with Peripheral Computed Tomography. MusculoSkeletal Interactions, Vol 2. G Lyritis Ed 2: 47–52 (2000).

9. Macdonald H M, Kontulainen S A, Khan K M, McKay H A: Is a school-based physical activity intervention effective for increasing tibial bone strength in boys and girls? J Bone Miner Res. (2007); 22 (3): 434–446.

10. Kemmler W, Engelke K, Lauber D, Weineck J, Hensen J, Kalender W A: Exercise effects on fitness and bone mineral density in early postmenopausal women: 1-year EFOPS results. Med Sci Sports Exerc. (2002) Dec; 34 (12): 2115–2123.

11. Gusi N, Raimundo A, Leal A: Low-frequency vibratory exercise reduces the risk of bone fracture more than walking: a randomized controlled trial. BMC Musculoskelet Disord. (2006) 7: 92.

Fussnoten

1 Novotec Medical GmbH, Pforzheim

DOI 10.328/oup.2012.0066-0068

SEITE: 1 | 2 | 3