Originalarbeiten - OUP 02/2012

Die Muskel-Knochen-Einheit:
Der Muskel als Kraftquelle für die Knochenmechanik
The muscle bone unit: Muscle as a power source for bone mechanics

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, führen Muskelkräfte zu einer Verformung des Knochens. Die maximale Verformung in der Tibia beim Menschen während verschiedener Übungen liegt typischerweise bei etwa 2000 µstrain [6]. Die Osteozyten im Knochen können die Verformung messen und als chemisches Signal weiterleiten, das bei höheren Verformungen zu einer Verbesserung der Festigkeit führt. Als Folge fällt die Verformung wieder unter diesen Wert (Abb. 2). Wird eine tiefere Schwelle der Verformung nicht regelmäßig überschritten, führt dies zu einem Abbau von Knochenmasse. Dabei genügen bereits wenige Verformungszyklen oberhalb der Schwelle, um einen Knochenabbau zu verhindern [7]. Durch diesen Mechanismus ist gewährleistet, dass einerseits die Verformung bei willentlichen Muskelkontraktionen den Knochen nicht schädigen kann und andererseits mechanisch nicht benötigter Knochen abgebaut wird. In mehreren Studien wurde der erwartete enge Zusammenhang zwischen der Muskelquerschnittsfläche und der Knochenquerschnittsfläche bzw. der Muskelkraft und der Knochenfläche bestätigt [8, 4]. Bei gesunden Probanden wird bei der Messung der Knochen- und Muskelquerschnittsfläche bei 66% der Tibialänge ein Verhältnis von 5% gefunden.

Eine Verformung von 2000 µstrain ergibt bei einem Elastizitätsmodul des Knochens von 15 GPa eine Spannung von 30 N/mm². Die ultimative Festigkeit des Knochens beträgt etwa 160 N/mm² (Abb. 3). Daher beträgt der Sicherheitsfaktor des Knochenmaterials zwischen der Spannung bei normaler Muskelkontraktion und der Bruchgrenze etwa 5.

Klinische Konsequenzen

Immobilisation oder Verlust von Muskelkraft führt lokal zu einem Abbau von Knochenmasse, der anhand von zwei Faktoren sichtbar wird:

1. Abbau spongiösen Knochens

2. Endosteale Resorption der Kortikalis

Der Abbau der Spongiosa ist ausgeprägter als der Verlust der Kortikalis. Während einer dreimonatigen Bettruhe wurden Verluste von durchschnittlich 6% gefunden, während die Kortikalismasse nur um 2% abnahm [2]. Parplegiker weisen gegenüber gehfähigen Probanden eine über 70% reduzierte Spongiosadichte, aber nur eine um 25% verringerte Kortikalisquerschnittsfläche auf [1].

Studien bei Kindern zeigen, dass ein regelmäßiges Training zu einem erhöhtem Knochenanbau führt [9]. Während einer achtwöchigen Immobilisierung konnte ein geeignetes Trainingsprogramm den Muskel- und Knochenabbau verhindern. Auch bei älteren Menschen kann ein geeignetes Training Muskelkraft und Knochenmasse verbessern [10, 11].

Der enge Zusammenhang zwischen Muskel und Knochen kann auch für die Differentialdiagnostik der Osteoporose genutzt werden. Ist eine geringe Muskelkraft die Ursache für eine geringe Knochenfestigkeit, handelt es sich um eine Immobilitätsosteopenie und das Knochen-Muskel-Verhältnis ist normal. In diesem Fall kann durch eine Verbesserung der Muskelkraft auch die Knochenfestigkeit verbessert werden. Ist aber die Knochenfestigkeit bei normaler Muskelkraft erniedrigt, ist das Knochen-Muskel-Verhältnis erniedrigt und es handelt sich um eine primäre Osteoporose (Abb. 4).

Zusammenfassung

Die maximale willentliche Muskelkraft ist der wesentliche Stimulus für die Entwicklung und Erhaltung der Knochenfestigkeit. Die Adaptation des Knochens an die Muskelkraft kann durch viele Faktoren wie Genetik, Hormone, neuronale Faktoren, Ernährung etc. moduliert werden. Immobilisation oder Verlust an Muskelkraft führt zu einem rapiden Knochenabbau. Daher muss die Diagnostik der Osteoporose immer eine Analyse der Muskelfunktion einschließen

Korrespondenzadresse

Hans Schießl

Stratec Medizintechnik

Durlacher Str. 35

75172 Pforzheim

E-Mail: m.schiessl@novotecmedical.de

Literatur:

1. Eser P, Frotzler A, Zehnder Y, Wick L, Knecht H, Denoth J, Schiessl H: Relationship between the duration of paralysis and bone structure: a pQCT study of spinal cord injured individuals. Bone (2004); 34 (5): 869–880.

2. Rittweger J, Frost H M, Schiessl H, Ohshima H, Alkner B, Tesch P, Felsenberg D: Muscle atrophy and bone loss after 90 days’ bed rest and the effects of flywheel resistive exercise and pamidronate: results from the LTBR study. Bone (2005); 36 (6): 1019–1029.

3. Frost H M: From Wolff’s law to the Utah paradigm: insights about bone physiology and its clinical applications. Anat Rec. (2001); 262 (4): 398–419.

4. Anliker E, Rawer R, Boutellier U, Toigo M: Maximum Ground Reaction Force in Relation to Tibial Bone Mass in Children and Adults. Med Sci Sports (2011) im Druck.

5. Michaelis I, Kwiet A, Gast U, Boshof A, Antvorskov T, Jung T, Rittweger J, Felsenberg D: Decline of specific peak jumping power with age in master runners. J Musculoskelet Neuronal Interact. (2008); 8 (1): 64–70.

6. Burr D B, Milgrom C, Fyhrie D, Forwood M, Nyska M, Finestone A, Hoshaw S, Saiag E, Simkin A: In vivo measurement of human tibial strains during vigorous activity. Bone (1996) 18 (5): 405–410.

7. Y Umemura, T Ishiko, T Yamauchi, M Kuruno, S Mashiko: Five jumps per day increase bone mass and breaking force in rats. J Bone Miner Res (1997) 12: 1480–1485.

8. Schießl H, Willnecker J: Muscle Cross Sectional Area and Bone Cross Sectional Area in the Human Lower Leg Measured with Peripheral Computed Tomography. MusculoSkeletal Interactions, Vol 2. G Lyritis Ed 2: 47–52 (2000).

9. Macdonald H M, Kontulainen S A, Khan K M, McKay H A: Is a school-based physical activity intervention effective for increasing tibial bone strength in boys and girls? J Bone Miner Res. (2007); 22 (3): 434–446.

10. Kemmler W, Engelke K, Lauber D, Weineck J, Hensen J, Kalender W A: Exercise effects on fitness and bone mineral density in early postmenopausal women: 1-year EFOPS results. Med Sci Sports Exerc. (2002) Dec; 34 (12): 2115–2123.

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