Übersichtsarbeiten - OUP 06/2017

Die Patella partita, ein Apophysen-Äquivalent

Harald Hempfling1

Zusammenfassung

Hintergrund: Stückabtrennungen von der Patella, häufig lateral proximal, können als rezente oder veraltete Fraktur, auch als Pseudarthrose sowie als Ossifikationsstörung gewertet werden. Für eine Begutachtung bedarf es der Differenzierung.

Methode: Unter Verwendung der Literatur aus verschiedenen medizinischen Sachgebieten ist eine Unterscheidung des pathomorphologischen Substrats und auch dessen Entstehung möglich.

Ergebnisse: Die Patella partita ist eine unvollständige ossäre Entwicklung der Patella beim Vorliegen mehrerer Ossifikationszentren mit Ausbildung sekundärer Ossifikationszentren.

Schlussfolgerung: Unter Zugeinwirkung der an der Patella ansetzenden ligamentären bzw. tendinösen Strukturen zur Führung der Patella im femoropatellaren Gelenk wird die Verschmelzung der Ossifikationszentren wie bei Apophysen verhindert, d.h. es entsteht ein Apophysen-Äquivalent.

Schlüsselwörter: Patella partita, Ossifikation, Apophyse,
Pseudarthrose, Gutachten

Zitierweise
Hempfling H: Die Patella partita, ein Apophysen-Äquivalent.
OUP 2017; 6: 334–338 DOI 10.3238/oup.2017.0334–0338

Summary

Background: Detachments, frequently lateral proximal partitions from the patella, can be regarded as an extant or obsolete fracture, also as a pseudoarthrosis as well as an ossification disorder. A differentiation is required for an assessment.

Method: Using the literature from different medical fields, a distinction of the pathomorphological substrate and its development is possible.

Results: The patella partita is an incomplete osseous development of the patella in the presence of several ossification centers with the formation of secondary ossification centers.

Conclusion: Under the influence of the ligamentous or tendinous structures attached to the patella for guiding the patella in the femoropatellar joint, the fusion of the centers of ossification is prevented, as in the case of apophyses, i.e. an apophysical equivalent arises.

Keywords: Patella partita, ossification, apophysis,
pseudoarthritis, expert opinion

Citation
Hempfling H: The patella partita, an apophyseal equivalent.
OUP 2017; 6: 334–338 DOI 10.3238/oup.2017.0334–0338

Einleitung

Die Patella partita (geteilte Kniescheibe) und auch der dorsale Patelladefekt sind relativ seltene Fehlformen der Kniescheibe, am häufigsten findet man bei mehreren Formen der Patella partita eine sog. Patella bipartita, die auch als Patellaapophyse diskutiert werden kann. Die Erstbeschreibung erfolgte durch Gruber [24], und in der Folge entstanden Publikationen von Kempson [38], Joachimsthal [32] und Todd [75]. Diese Veröffentlichungen fanden erst Aufmerksamkeit mit dem Aufschwung der gesetzlichen und privaten Unfallversicherung, da eine Abgrenzung dieser anlagebedingten Veränderungen von Kniescheibenbrüchen erforderlich wurde. Auch der dorsale Patelladefekt wird als Variante der normalen Ossifikation gesehen [8, 22, 26], dies in Verbindung mit einer Patella bipartita.

Anatomie, Pathologie

Die Verknöcherung der Patella beginnt zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr [47, 11], bei Knaben zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr, bei Mädchen zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr [11]. Normalerweise besteht die Kniescheibe aus einem Ossifikationszentrum (77 %), es können mehrere Zentren vorliegen (23 %), in aller Regel bis maximal 2–3 Ossifikationszentren [57]. Das primäre Ossifikationszentrum weitete sich zum Rand hin aus, der Rand der Ossifikation wird irregulär, und die Vergrößerung des primären Ossifikationszentrums erfolgt zum Rand hin, vor allen Dingen auch nach anterior, d.h. vom Kniezentrum weg [46]. Sogenannte sekundäre Ossifikationszentren bilden sich etwa im 12. Lebensjahr aus [9], und unter Normalbedingungen kommt es beim Vorhandensein multifokaler Ossifikationszentren zum Verschmelzen mit dem primären Ossifikationszentrum [1, 21, 51, 75]. Bei der Patella bipartita ist von einer Patella partita auszugehen, bei der erst später ein weiteres Ossifikationszentrum entsteht [84].

Die Entstehung der Patella partita wird analog zum Morbus Sinding-Larsen-Johansson und zum Morbus Osgood-Schlatter gesehen [69, 33, 54, 65]. Die ursprüngliche Bezeichnung dieser Veränderungen im Sinne einer Traktionsapophysitis bzw. Traktionsosteochondritis [37, 2] wurde aufgegeben, man versteht heute darunter eine Störung der Ossifikation. Entsprechend der aktuellen Überlegung [35] handelt es sich um eine Pathologie der Patellaapophysen.

Die Patella partita zeigt eine Geschlechtsverteilung männlich/weiblich von 4,2 zu 1,0 [76, 7, 36, 45, 81, 53], wobei bei allen geteilten Kniescheiben nach Weaver [81] lediglich 2 % symptomatisch sind und dies soll nach Oohashi [53] bei 36 % der Fall sein. Der Beginn der Symptomatik liegt zwischen dem 12. bis 16. Lebensjahr und tritt nach einer außerordentlichen Belastung auf. Auch die Verbindung mit einem Trauma wird diskutiert [81]. Auffällig ist das bilaterale Auftreten der Patella bipartita bzw. Patella partita mit fast 50 % [53, 81, 1, 23].

Eine Klassifikation der Patella bipartita nimmt Saupe [61, 62] vor unter Nennung von 3 Typen:

Typ I als inferioren

Typ II als lateral-vertikalen und

Typ III als supero-lateralen Typ.

Typ III ist mit 75 % am häufigsten zu finden (Abb. 1). Da die Saupe-Klassifikation [61] lediglich auf der Lokalisation des Fragments beruht, wird auch das Einbeziehen der Anzahl der Fragmente für notwendig erachtet; mit der Folge einer Klassifikation nach Oohashi [53], mit Unterscheidung der Patella bipartita (superolateral 83 %, lateral 12 %) von der Patella tripartita (lateral 1 %, superolateral und lateral 3 %).

Die Patella bipartita bzw. Patella partita kann den Patelladysplasien zugeordnet werden mit der Unterscheidung der Aplasie, Hypoplasie, partiellen Hypoplasie, Patella bipartita, Patella-Fragmentation, Patella-Duplikation und Patella magna. Bei der Patellaaplasie wird ein kongenitaler Faktor und auch eine familiäre Häufung diskutiert [42, 43, 34, 4, 60]. Zu den multiplen Patellafragmentationen gehört auch die Patella tripartita sowie die extrem seltene Patella-Duplikation [66]. Es werden mehrere Einteilungen der „unterteilten Kniescheibe“ beschrieben mit dem Hinweis auf eine angeborene Spaltbildung, wobei die Spaltbildung der Kniescheibe durch eine primäre Verknöcherungshemmung der knorpeligen Patellaanlage entsteht und nicht durch eine gestörte Verschmelzung mehrerer Knochenkerne (Abb. 2), da die Kniescheibe des Menschen von einem einzigen Knochenkern ihren Ausgang nähme [70].

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