Übersichtsarbeiten - OUP 06/2015

Gelenkerhaltende, valgisierende hohe Tibiakopf-Umstellungsosteotomie bei Gonarthrose

Diese Situation änderte sich Mitte des 20. Jahrhunderts. Durch die Entwicklung von geeigneten Implantaten konnten Osteotomien zunehmend belastungsstabil fixiert werden. Damit eröffneten sich auch völlig neue Perspektiven.

Im Jahre 1965 führte Marc Coventry [4] erstmals eine Tibiakopf-Umstellungsosteotomie (high tibial osteotomy; HTO) bei einer völlig anderen Indikation durch, der Varusgonarthrose. Er konnte eine große Zahl von Patienten über einen sehr langen Zeitraum von ca. 15 Jahren nachverfolgen und erlangte für die damaligen Verhältnisse ausgesprochen gute Langzeitergebnisse: „A study of 213 knees with a 16-year follow-up period showed that, even before total knee arthroplasty was available as an alternative, 61 % of the knees were satisfactory after ten years“. Allerdings war die damals von ihm durchgeführte Osteotomie in der seitlichen „closed-wedge“-Technik auch mit einer Reihe von Nachteilen behaftet, die im Nachfolgenden noch näher diskutiert werden. Diese Nachteile, insbesondere auch die zum Teil hohen Komplikationsraten, führten dazu, dass die Umstellungsosteotomie mit Etablierung der Schlittenendoprothetik Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts drohte, ins Abseits zu geraten. Damals konstatierte Coventry selbst: “In the 60s we saw the development of osteotomy and in the 70s we saw the development of replacement. “[5, 6].

Mit Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wiederum erlebte die Umstellungsosteotomie bei der Behandlung der Gonarthrose durch die Einführung der öffnenden Osteotomie und durch die Fortschritte im Bereich der winkelstabilen Implantate eine Renaissance. Heute stellt die Methode eine wesentliche Bereicherung des Spektrums der Behandlungsmöglichkeiten dar. Sie steht zwischen der konservativen und der endoprothetischen Behandlung [7].

Pathophysiologie der Arthrose in Bezug auf die Beinachse

Über viele Jahre hinweg wurde angenommen, Fehlstellungen innerhalb der Beinachse seien ein wesentlicher Risikofaktor für die Entstehung von Gonarthrosen. Hackenbroch nennt solche Fehlstellungen eine „präarthrotische Deformierung“ [8]. Die Beinachse des Menschen unterliegt jedoch erheblichen individuellen Schwankungen. Innerhalb einer 95er Perzentile stellen solche Deformierungen Normvarianten, jedoch keine Risikofaktoren für die Entstehung einer Gonarthrose dar. Bei der genuinen Varus- oder Valgus-Variante bestehen Verbiegungen innerhalb der Längen von Femur oder Tibia, ohne dass die mechanische Tragachse des Beins und damit die Belastung des Kniegelenks in irgendeiner Weise unphysiologisch verändert ist [9]. Mit hoher Wahrscheinlichkeit stellen nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen solche Normvarianten keinen Risikofaktor für die Entstehung der Gonarthrose dar [10, 11, 12, 1, 13].

Die Genese des mit einer Gonarthrose assoziierten pathologischen Varus oder Valgus ist hingegen eine ganz andere. Bedingt durch den im Rahmen der Gonarthrose entstehenden Knorpelverlust und der Mehrbelastung des subchondralen Knochens, sintert der Knochen zusammen und es kommt unmittelbar in Angrenzung an die Gelenkflächen zur Ausbildung der arthrosebedingten Deformierung (Abb. 1).

Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, ist die Varusfehlstellung bei der Gonarthrose in den meisten Fällen erst als Folge der Mehrbelastung des subchondralen Knochens infolge der Knorpelschäden entstanden. Ziel der Osteotomie ist es dabei, die physiologische Achse wiederherzustellen, um somit eine Verminderung der Druckbelastung im medialen Gelenkkompartiment zu erzielen. Dadurch verbessert sich die Funktion des Gelenks, die Arthroseprogression kann verlangsamt oder gestoppt werden. Gelegentlich kommt es sogar dazu, dass sich der Gelenkknorpel zumindest teilweise regeneriert.

Indikation

Wie bei jeder anderen Operation auch, hängt der Erfolg entscheidend von einer guten Indikationsstellung ab. Dabei ist grundsätzlich zunächst zu prüfen, ob die Beschwerden des Patienten wesentlich mit arthrosebedingter Achsabweichung und der damit zusammenhängenden Fehlbelastung im Gelenk zusammenhängt. Dies kann nur durch eine standardisierte Planung geklärt werden. Dabei kann es gelegentlich sinnvoll sein, dem Patienten zunächst gelenkentlastende Hilfsmittel (varisierende oder valgisierende Orthesen oder Schuheinlagen) zu verordnen. Schätzt der Patient ein, dass unter Gebrauch dieser Hilfsmittel Schmerzen und Funktion gebessert werden, so kann nach diesem „Testlauf“ davon ausgegangen werden, dass der Patient auch wirklich von einer Osteotomie profitiert.

Weiterhin ist es unabdingbar, dem Patienten deutlich die bereits entstandenen irreversiblen Arthroseveränderungen im Gelenk darzulegen. Die Osteotomie bewirkt keine Heilung der Arthrose; sie ist vielmehr geeignet, die Funktion des beschädigten Gelenks über einen längeren Zeitraum zu verbessern und ggf. auch den Arthroseprozess und eine zunehmende Gelenkinsuffizienz zu verlangsamen oder aufzuhalten.

Grundsätzlich kommen für eine Osteotomie biologisch jüngere Patienten mit hohem physischen Anspruch infrage, die u.U. auch gewillt sind, ein im Vergleich zur Schlittenendoprothese etwas schlechteres Outcome in Kauf zu nehmen, dies aber mit dem Vorteil, noch ein weitgehend belastbares natürliches Gelenk zu behalten. Absolute und relative Kontraindikationen für den Eingriff sind in Tabelle 1 gelistet.

Weiterhin setzt die Indikation eine gute Compliance voraus, z.B. den Verzicht auf Nikotin. In einer retrospektiven Auswertung unseres eigenen Patientenguts konnten wir zudem Faktoren ermitteln, die im Sinne eines Scores bei der Indikationsstellung eine weitere Hilfe sein können (Tab. 2).

Spahn et al. [39] haben eine größere Zahl von Patienten nach Umstellungsosteotomie ausgewertet und fanden dabei im ursprünglichen Patientengut bei ca. 20 % ein eher schlechtes Ergebnis. In einer Regressionsanalyse wurden eine Reihe von Faktoren ermittelt, die potenziell mit einem schlechteren Ergebnis assoziiert sind. Liegen mehr als 3 der in Tabelle 2 aufgeführten Faktoren vor, so sollte die Indikation zum Eingriff eher zurückhaltend gestellt werden. Zudem zeigte sich, dass Frauen insgesamt weniger von dem Eingriff profitieren als vergleichbare Kollektive von Männern. Hingegen spielt das Ausmaß der Knorpelschäden im Bereich des Femurkondyls in Bezug auf das Outcome keine Rolle.

Planung

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