Übersichtsarbeiten - OUP 03/2017

Gutachterliche Aspekte bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen

Michael Kraus1, Johanna Oehler2, Alexander Wild3

Zusammenfassung: Wirbelsäulenerkrankungen spielen nicht nur ökonomisch eine große und zunehmende Bedeutung, sondern vor allen Dingen auch bei gutachterlichen Prozessen. Der gutachterlich tätige Arzt muss dabei nicht nur den medizinischen Sachverhalt beurteilen können, sondern diesen unter Bezugnahme auf die für den Gegenstand des Gutachtens zutreffenden Rechtsnormen korrekt einordnen. Ziel dieses Artikels ist die Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte der gutachterlichen Grundsätze bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen und Verletzungen unter Berücksichtigung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen und der gesetzlichen Grundlage.

Schlüsselwörter: Gutachten, Wirbelsäule, Unfallversicherung, Rentenversicherung

Zitierweise
Kraus M, Oehler J, Wild A: Gutachterliche Aspekte bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen.
OUP 2017; 3: 148–154 DOI 10.3238/oup.2017.0148–0154

Summary: Degenerative diseases and injuries play a growing role not only in the treatment of patients but also regarding economic and social issues. For medical experts it is crucial to know not only medical aspects but also legal norms and regulations. Aim of this article is to report on current medical and legal aspects in treatment and evaluation of spinal deformitities and injuries regarding German law and insurance issues.

Keywords: spine expert opinion, accident insurance,
german law of insurance

Citation
Kraus M, Oehler J, Wild A: Assessment of spinal diseases regarding German law of insurance.
OUP 2017; 3: 148–154 DOI 10.3238/oup.2017.0148–0154

Einleitung

In allen Bereichen des Versicherungsrechts ist es für den medizinischen Gutachter unerlässlich, sich mit wirbelsäulenassoziierten Erkrankungen und deren versicherungsrechtlichen Aspekten zu beschäftigen. Neben der Einordnung außerhalb der Gliedertaxe im privatrechtlichen Bereich kommt in der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) vor allen Dingen der Kausalität eine hohe Bedeutung zu, und es existiert eine Vielzahl von Publikationen, die der gutachterlich tätige Orthopäde und Unfallchirurg dabei berücksichtigen und korrekt einordnen muss, um sowohl dem Versicherten als auch dem Versicherungsträger gerecht zu werden. Im Sozialrecht geht ein nicht unerheblicher Anteil der Berentungen wegen Erwerbsminderung zu Lasten von Erkrankungen der Wirbelsäule und auch bei der Einschätzung des Grads der Behinderung (GdB) ist die gutachterliche Einordnung des Schädigungsanteils des Wirbelsäulenleidens ein wesentlicher Bestandteil der vom Sozialgericht beauftragten Leistung.

Ziel dieses Artikels ist die Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte der gutachterlichen Grundsätze bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen und Verletzungen unter Berücksichtigung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen und der gesetzlichen Grundlage.

Anatomische und
physiologische Grundlagen

Die Wirbelsäule ist das zentrale Achsorgan des menschlichen Körpers. Sie besteht aus 7 Halswirbeln, 12 Brust- und 5 Lendenwirbeln. Insgesamt besitzt der Mensch somit 24 Bewegungssegmente. Als Bewegungssegment wird die Kombination aus 2 Wirbelkörpern und einer dazwischen befindlichen Bandscheibe gesehen. Das Bewegungselement besteht somit neben der Bandscheibe auch aus den beiden Facettengelenken, die von den angrenzenden Wirbelkörpern gebildet werden sowie den Bändern, die sich zwischen den knöchernen Strukturen ausbilden. Für die gutachterliche Praxis hat es sich bewährt, die Einteilung in Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule bereits bei der Untersuchung systematisch zu übernehmen und spezifische Aspekte des jeweiligen Wirbelsäulenabschnitts zu beachten. Zu unterscheiden ist zwischen degenerativen Schäden, Vorschäden und frischen traumatischen Läsionen.

Halswirbelsäule

Die Halswirbelsäule (HWS) ist die Verbindung zwischen Kopf und Brustwirbelsäule (BWS) und zeichnet sich im Vergleich zu anderen Wirbelsäulenabschnitten durch eine außerordentliche Beweglichkeit aus. Sie besteht aus 7 Halswirbeln, wobei der erste und der zweite Halswirbel in Form und Funktion deutlich von den anderen 5 Wirbeln abweichen. Somit lässt sich die HWS erneut in 3 Regionen unterscheiden: die obere (C0–C2), die mittlere (C3–5) sowie die untere HWS (C5–Th1). Das Gelenk zwischen Kopf und Atlas (C1) wird Atlantooccipitalgelenk genannt, das Gelenk zwischen Atlas und Axis (C2) wird Atlantoaxialgelenk genannt. Das obere Kopfgelenk erlaubt dabei hauptsächlich Nickbewegung (also Extension und Flexion), das untere Kopfgelenk die Drehung des Kopfs. Die mittleren und unteren HWS-Abschnitte erlauben in geringerem Ausmaß ebenso Flexion, Extension und Drehbewegungen, wobei insbesondere das Gelenk zwischen C2 und C3 Seitwärtsbewegungen erlaubt. Die HWS zeigt physiologischerweise eine harmonische Lordose.

Brustwirbelsäule

Von allen Wirbelsäulenabschnitten zeigt die BWS die geringste Beweglichkeit. Sie ist über die Rippen des Brustkorbs mit dem Sternum verbunden. Die Rippen erlauben in den Costotransversalgelenken die Beweglichkeit bei der Atmung. Die BWS weist physiologischerweise eine Kyphose auf.

Lendenwirbelsäule

Die LWS besteht bei den meisten Menschen aus 5 Wirbeln und erlaubt vor allen Dingen die Beugung und in geringerem Umfang die Streckung. Auch an der Seitverbiegung und der Rotation ist sie beteiligt. Besonders anfällig für degenerative Erkrankungen ist dabei der Übergang vom fünften Lendenwirbel auf das Kreuzbein. Zu beachten sind hier auch Übergangsstörungen, bei denen ein sakraler Wirbel lumbalisiert sein kann. Die LWS wiederum hat eine harmonische Lordose.

Gutachterliche Untersuchung der Wirbelsäule

Die klinische Untersuchung nimmt bei der Beurteilung und Einschätzung gutachterlicher Fragestellungen einen hohen Stellenwert ein. Bei der Einschätzung des GdB und Fragestellungen im Rentenrecht kommt der Untersuchung und der dabei festzustellenden Körperschädigung und der entsprechenden Funktionseinschränkung ein wesentlich höherer Stellenwert zu als z.B. den Diagnosen, die sich allein aus der Bildgebung ergeben. Auch der exakten Anamnese kommt eine hohe diagnostische und gutachterliche Bedeutung zu.

Anamnese

Zu erfassen sind Vorerkrankungen, Voroperationen, eine exakte Schmerzanamnese (seit wann, wie intensiv, wo, Visuelle Analogskala VAS, Schmerzcharakter, spezifische Schmerztherapie, in Ruhe oder bei Belastung), Schmerzmedikation und ggfs. Unfallanamnese. Gerade im Rahmen von Gutachten für die GUV ist es wichtig, zwischen Erkrankungen oder Schäden vor und nach dem Unfallgeschehen zu differenzieren. Diesem Umstand sollte im Gutachten Rechnung getragen werden, indem explizit nach Behandlungen oder Beschwerden vor dem Unfalldatum gefragt wird und in der Aktenlage danach gefahndet wird.

Weitere relevante Fragen beziehen sich auf die Gehstrecke, die Fähigkeit zum Treppensteigen und Einschränkungen bei der beruflichen Tätigkeit und im Alltag (Dauer der AU, Berufsanamnese, letzter Arbeitsplatz, Gehstrecke, Fähigkeit Auto zu fahren, Treppensteigen, öffentliche Verkehrsmittel, Hilfsmittel).

Selbstverständlich gehört zu einer gutachterlichen Untersuchung auch eine allgemeine Anamneseerhebung (internistisch, chirurgisch, sozialmedizinisch, psychiatrisch usw.) dazu, die auch so dokumentiert werden muss.

Inspektion

Zunächst sollte der Proband im Gespräch beurteilt werden. Hier ist relevant, ob es diesem möglich ist, während des Gesprächs sitzen zu bleiben oder ob die Position gewechselt werden muss. Auch das Ablegen der Kleidung sollte dokumentiert werden. Eventuell verwendete Hilfsmittel (Mieder, Schienen, Gehstützten, Rollator, Rollstuhl usw.) sind zu erfassen. Das Gangbild ist zu erkunden, optimal bereits vor der Untersuchung. Ebenso bietet sich ein Treppenhaus an, um die Fähigkeit zum Treppensteigen besser beurteilen zu können. Augenmerk ist zu legen auf sagittale und frontale Achsabweichungen. Bei der Betrachtung von dorsal können zunächst am gerade stehenden Patienten das Lot von C7 auf die Rima ani bestimmt werden. Anschließend müssen eventuelle Asymmetrien beschrieben werden (Lendenwulst, Rippenbuckel, Taillendreiecke). Abweichungen dieser Parameter weisen auf eine skoliotische Deformität hin. Bei der Betrachtung von der Seite muss das sagittale Profil beurteilt werden. Festzustellen ist die Form der Lordose von LWS und HWS sowie der Kyphose der BWS. Einschränkungen bei der Inspektion, die sich zum Beispiel bei adipösen Patienten ergeben können, sind zu vermerken. Zudem sollte Becken- und Schulterstand notiert werden.

Palpation

Bei der Palpation sind druckschmerzhafte Areale zu erkennen sowie Verhärtungen der Muskulatur. Typische Schmerzstellen wie der Valleix‘sche Punkt sollten separat erfasst werden.

Funktionelle Untersuchung

Die Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte spielt bei der gutachterlichen Beurteilung eine zentrale Rolle, entsprechend sollte hier ein besonderes Augenmerk liegen. Eine gängige Darstellung der Normalwerte ist in Tabelle 1 verzeichnet.

Ein Maß für die Beweglichkeit der Brustwirbelsäule ist die Messstrecke vom Dornfortsatz C7 30 cm nach kaudal (Maß nach Ott, Norm: 30:32), ein Maß für die Beugefähigkeit der LWS die Messstrecke vom Dornfortsatz S1 10 cm nach kranial (Maß nach Schober, Norm: 10:15). Des Weiteren ist der Finger-Boden-Abstand zu dokumentieren.

Neurologische Untersuchung

Bei jeder gutachterlichen Äußerung zu Schäden der Wirbelsäule ist eine komplette neurologische Untersuchung obligat. Dabei sind Ausfälle der Kraftgrade der oberen und unteren Extremität separat zu dokumentieren, ebenso sensible Defizite und ggfs. neurologische Blasen- oder Darmstörungen. Hierzu kann bei entsprechender Klinik auch eine rektale Untersuchung erforderlich sein. Die Kennreflexe, die bei jeder Untersuchung erfasst werden, sind der Trizeps-, der Bizeps-, der Patellar- und der Achillessehnenreflex im Seitvergleich. Komplettiert wird die Untersuchung der Kraft der Kennmuskeln (klassischerweise nach Janda auf einer 5-teiligen Skala) durch eine funktionelle Untersuchung im Stehen, bei der der Einbeinstand, der einbeinige Zehen- und Fersenstand sowie das einbeinige in die Hocke gehen untersucht wird. Zur Erkennung einer Ataxie kann der Romberg-Test und die Fähigkeit, mit geschlossenen Augen auf einer Linie zu laufen, herangezogen werden.

Rechtsgrundlage

Gutachten können von verschiedenen Parteien angefordert werden und je nach Gutachtenart werden an den Gutachter unterschiedliche Anforderungen gestellt. Zudem sind mitunter vollkommen unterschiedliche Rechtsgrundlagen bei der Beurteilung zu beachten.

Zivilrecht

Private Unfallversicherung

Im privatrechtlichen Teil nehmen die Unfallversicherungen den entscheidenden Anteil ein. Den genauen Rahmen der Versicherung legt der Versicherer in den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) fest. Rechtliche Basis ist das Gesetz über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertrag-Gesetz, VVG, §§ 178–191). Der Versicherer ist demnach verpflichtet, der versicherten Person bei einem Unfall oder einem gleichgestellten Ereignis die versicherte Leistung zu erbringen (§ 178 Abs. 1 VVG).

Merke

Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Die Unfreiwilligkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet (§ 178 Abs. 2 VVG).

Der Gutachter muss jedoch auch Umstände beachten, bei denen eventuell eine Leistungspflicht nicht besteht (AUB Ziffer 3 und 5). So sind z.B. die Folgen eines Sturzes aufgrund einer Bewusstseinsstörung (Epilepsie, Schlaganfall, Drogen, Alkohol usw.) nicht versichert. Sollte die Bewusstseinsstörung jedoch durch einen Unfall verursacht worden sein, zu dessen Zeitpunkt eine Versicherung bestand, sind der Schaden und dessen Folgen versichert.

Merke

Im erweiterten Unfallbegriff (AUB Ziffer 1.4) sind eventuell auch Verrenkungen der Gliedmaßen und der Wirbelsäule sowie Zerrungen von Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln mitversichert!

Kausalität im Zivilrecht

Wirbelsäulenfrakturen

In den meisten Fällen ist die Beurteilung der Kausalität in zivilrechtlichen Verfahren hinsichtlich Verletzungen ossärer Strukturen unstrittig. Entscheidend bei der Beurteilung der Frakturentstehung sind die Vorgeschichte, der Röntgenverlauf und natürlich der Unfallhergang. Entscheidend ist auch der zeitliche Zusammenhang zwischen Trauma und Schmerzentstehung. Ein frischer Wirbelbruch verursacht starke Schmerzen, der Verunfallte wird unmittelbar ärztliche Behandlung benötigen. Schwierigkeiten können bei polytraumatisierten, lange intensivpflichtigen Patienten entstehen, bei denen eine stark verzögerte Diagnostik eine Fraktur im Bereich der Wirbelsäule offenbart. Auch hier muss eine gutachterliche Abwägung zwischen Vorgeschichte, Unfallhergang und vorhandener Bildgebung erfolgen.

Frakturen bei Vorschaden

Bei der Begutachtung für die Private Unfallversicherung (PUV) ist es erforderlich, im Rahmen einer gutachterlichen Abwägung die unfallbedingte Mitwirkung exakt zu beziffern. In der gutachterlichen Praxis betrifft dies häufig Patienten, die an Osteoporose leiden. Hier muss das Ausmaß der Osteoporose herangezogen werden, um deren Anteil am eingetretenen Schaden bemessen zu können. So gilt die Verminderung der Knochendichte um eine Standardabweichung vom alterskorrelierten Median als 30-prozentige Erhöhung des Frakturrisikos, bei 2 Standardabweichungen um ca. 60 % [1].

Bandscheibenschäden

In einer Vielzahl biomechanischer Studien konnte gezeigt werden, dass eine isolierte Schädigung einer gesunden oder vorbeschädigten Bandscheibe aus anatomischen Gründen praktisch nicht möglich ist [2]. Somit muss bei der Einschätzung der Invalidität für die PUV von einem hohen unfallfremden Anteil an der Schädigung ausgegangen werden, der derzeit bei ca. 80 % liegt, und auch dies zeitlich befristet [2]. In allen anderen Fällen müssen weitere strukturelle Schäden an umgebenden Geweben (Knochen, Muskeln, Bänder) nachgewiesen werden. Hierzu ist eine zeitnahe MRT-Bildgebung von unschätzbarem Wert, da es eine zutreffende Beurteilung und auch eine Einschätzung der Frische einer Verletzung besser erlaubt als andere Bildgebungstechniken.

Sozialrecht

Gesetzliche Unfallversicherung

Im Gegensatz zum Zivilrecht, in dem im Rahmen der Adäquanztheorie jede conditio sine qua non, die dem Schaden adäquat ist, als ursächlich angenommen werden kann, gilt im Sozialrecht die Lehre von der wesentlichen Bedingung. Somit muss eine Ursache eingetreten sein, die wesentlich zum Erfolg (also zum Schaden) beigetragen hat. Die conditio sine qua non muss dabei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Ursache darstellen. Eine allumfassende Definition der „wesentlichen Bedingung“ ist nicht existent und oft Gegenstand der rechtlichen Auseinandersetzung und somit Inhalt der gutachterlichen Diskussion. Insbesondere bei wirbelsäulenassoziierten Erkrankungen ist die Abgrenzung von Erkrankungen, die durch Verschleiß und normale Alterungsprozesse eintreten, häufig Gegenstand der Einschätzung einer Anerkennung als Berufserkrankung.

Einschätzung von
MdE, Invalidität und GdS

Bei der gutachterlichen Beurteilung des eingetretenen Schadens ist nicht die initiale Diagnose ausschlaggebend, sondern das Endergebnis nach eingetretener Heilung. Daher muss bis zur definitiven Beurteilung eine gewisse Zeit verstrichen sein. Der Mindestzeitraum nach Wirbelsäulenverletzungen ist daher mit einem Jahr, in einzelnen Fällen auch länger zu bemessen.

Zur Einschätzung stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung. Im Jahr 1991 wurde von Weber und Wimmer das Segmentprinzip vorgestellt [3]. Dieses erlaubt eine Beurteilung des eingetretenen Schadens anhand radiologischer und biomechanischer Kriterien und steht wegen dieser Einseitigkeit und der Vernachlässigung klinischer Kriterien in der Kritik [4] (Tab. 2).

Dabei gilt, dass bei stabilen Frakturen ohne Deformierung die einfachen Segmentwerte herangezogen werden. Bei 2 betroffenen Segmenten werden die Werte addiert. Bei sagittalen oder frontalen Achsabweichungen sind die Werte zu verdoppeln. Eine Verdreifachung liegt bei Ankylose oder Hypomobilität vor. Eine segmentale Instabilität wird mit dem Faktor 4 multipliziert. Insgesamt darf jedes Segment nur einmal, dann aber mit dem höchsten Wert in die Addition kommen.

Von Schönberger et al. wird eine Unterteilung in Verletzungsarten vorgeschlagen [5] (Tab. 3).

Die Autoren beschreiben eine Instabilität als abnorme Beweglichkeit im betroffenen Wirbelsäulensegment. Als weiteres Kriterium wird die Höhe des Schadens definiert. Aufgrund fehlender Kompensationsmechanismen sind weiter unten gelegene Schäden höher anzusetzen [5].

Schröter beschreibt folgende Kriterien zur Einschätzung der verbliebenen Unfallfolgen nach Wirbelsäulenverletzungen [2]:

Stabilität

Statik

Beweglichkeit

Muskulatur

Neurologie

Der Autor schlägt eine Einteilung der MdE nach dem klinischen Ausheilungsbefund vor (Tab. 4).

Auch Schönberger et al. weisen darauf hin, dass neurologische Schäden hier nicht beinhaltet sind und separat betrachtet werden müssen.

Der GdB und der GdS werden nach den Kriterien der Versorgungsmedizinverordnung beurteilt. Im Teil B 18.9 (S. 109, 110) sind dabei die Bewertungsmaßstäbe beschrieben (Tab. 5). Auch hier müssen neurologische Störungen gesondert gewichtet werden. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne neurologische Störung ein GdS von über 30 in Betracht gezogen werden. Eine neurologisch/psychiatrische Zusatzbegutachtung kann hier erforderlich sein.

Beurteilung von
Wirbelsäulenschäden für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung

Schäden an Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule können je nach Ausprägung zu Leistungsminderungen, also qualitativen Einschränkungen, führen. Ab einer bestimmten Ausprägung sind auch quantitative Einschränkungen vorstellbar.

Schäden an der HWS können eine Aufhebung des Leistungsvermögens für Tätigkeiten über Kopf und in Armvorhalte mit sich bringen. Damit kann sich eine Einschränkung ergeben für Tätigkeiten im Baugewerbe, der Post, im Lager aber auch in pflegerischen Berufen und in der Gastronomie. Bei vorliegender Instabilität, z.B. bei rheumatischen Erkrankungen, Tumorleiden oder posttraumatisch, kann auch ein aufgehobenes Leistungsvermögen vorliegen.

Schäden an Brust- und Lendenwirbelsäule führen häufig zu einer Einschränkung der Arbeitsschwere, verzichtet werden muss auf Wirbelsäulenzwangshaltungen, ein sitzender Arbeitsplatz sollte ergonomisch gestaltet werden.

Detailliert werden die Kriterien in der Leitlinie der DRV zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit bei Bandscheiben- und bandscheibenassoziierten Erkrankungen beschrieben [7].

Leichte degenerative Veränderungen erlauben durchaus noch mittelschwere Tätigkeiten, bei Vorliegen eines Nukleusprolapses sollte kein überdurchschnittlich häufiges Bücken, Heben und Tragen oder Überkopfarbeiten (HWS) mehr erforderlich sein. Bei anhaltender Radikulopathie oder Instabilität sind zusätzlich Tätigkeiten nicht leidensgerecht auf Leitern, Gerüsten, in unebenem Gelände und ggfs. mit Anspruch an Kraft und Feinmotorik der Hand, sollte diese betroffen sein. Hier kann dann auch je nach Ausprägung eine Aufhebung des Leistungsvermögens vorliegen. Spinalkanalstenosen ohne Myelopathie führen in aller Regel nicht zu einer quantitativen Limitierung, wohingegen mit neurologischen Begleiterscheinungen eine Tätigkeit eventuell nur noch unter 3 Stunden möglich ist.

Die postoperative Belastbarkeit hängt von der Art der Operation ab. Ein aufgehobenes Leistungsvermögen ist in aller Regel anzunehmen bei Rezidiveingriffen, nach Spondylodese der HWS und der LWS sowie einer versorgten zervikalen Myelopathie, wohingegen eine lumbale Claudicatio nach 3–6 Monaten postoperativ wieder zu einer Leistungsfähigkeit von 6 und mehr Stunden führt [8].

Bandscheibenbeding

te
Berufskrankheiten der
Wirbelsäule

Berufskrankheiten sind in der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) mit ihrer Berufskrankheiten-Liste festgelegt. Folgende BK-Nummern sind für den Gutachter bezogen auf die Wirbelsäule relevant (Tab. 6).

Wesentlich für den Gutachter ist bei der Beurteilung einer Berufskrankheit die exakte Wahl der Beschreibung der Wirbelsäulenerkrankung. Folgende Begriffe sollten daher stets für die gleiche Erkrankung verwendet werden:

Chondrose: Verschmälerung der Zwischenwirbelräume

Sklerose: Sklerosierung der Deckplatten

Spondylose: Randzackenbildung an den Wirbelkörperkanten vorne und seitlich

Dorsale Spondylophyten: Hintere Randzackenbildung

Spondylarthrose: Arthrose der Wirbelgelenke

Diese exakte Begrifflichkeit ist daher so bedeutend, da sich der Gutachter vor allen Dingen bei der am häufigsten vorkommenden BK 2108 auf die Konsensempfehlung zur Zusammenhangsbegutachtung beziehen sollte, die hier eine saubere Trennung der verschiedenen degenerativen Veränderungen erfordert, um zu einer gutachterlichen Aussage zu kommen.

Es würde den Rahmen dieses Artikels bei weitem sprengen, sollte im Folgenden auf jedes relevante Detail bei der Zusammenhangsbegutachtung eingegangen werden, daher soll hier lediglich eine Zusammenfassung der allerwichtigsten Aspekte erfolgen. Die Autoren verweisen zur weiterführenden Lektüre auf die Konsensempfehlung selbst, die die Thematik umfassend und nachvollziehbar beschreibt [9, 10].

Ziel des Gutachtens ist der Vergleich des Probanden als Beschäftigtem mit hoher Wirbelsäulenbelastung mit der Normalbevölkerung. Hierzu wird das Alter des Probanden, der Ausprägungs- und Verteilungsgrad sowie die Entwicklung einer Begleitspondylose herangezogen.

Für die Begutachtung erforderlich sind Nativ-Röntgenaufnahmen der gesamten Wirbelsäule, die nicht älter als ein Jahr sein sollten. Diese sollten nach den im Anhang der Konsensempfehlung zu findenden Kriterien ausgewertet werden. Hier finden sich verschiedene Methoden zur Messung der Bandscheibenhöhe. Die im deutschsprachigen Raum dabei am häufigsten eingesetzte Methode wurde von Hurxthal beschrieben [11]. Nach Ermittlung der Bandscheibenhöhe wird die korrigierte Bandscheibenhöhe nach Roberts [12] ermittelt. Die dadurch ermittelte korrigierte Bandscheibenhöhe wird als individuelle Norm herangezogen, um die normierte relative Bandscheibenhöhe zu erhalten [9]. Daraus kann der Grad der Osteochondrose abgeleitet werden.

Dieses Verfahren kann aus messtechnischen Gründen derzeit nicht ohne weiteres auf die HWS übertragen werden. Die Konsensempfehlung rät daher, sich bei der HWS auf 2 Aussagen zu reduzieren:

  • 1. kein Vorliegen einer ausgeprägten Osteochondrose
  • 2. Vorliegen einer ausgeprägten Osteochondrose

Eine ausgeprägte Osteochondrose wird angenommen, wenn die betreffende Bandscheibe eine Höhenminderung um mindestens die Hälfte einer angrenzenden, nicht betroffenen Bandscheibe aufweist.

Zusammenhangsbeurteilung

Grundvoraussetzungen sind 2 Bedingungen:

  • 1. Es liegt eine nachgewiesene bandscheibenbedingte Erkrankung vor, wobei der bildgebende darstellbare Bandscheibenschaden seiner Ausprägung nach altersuntypisch sein muss.
  • 2. Es liegt eine ausreichende berufliche Belastung zugrunde, wobei diese eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbezogenen Erkrankung aufweisen muss.

In der Konsensempfehlung findet sich eine Vielzahl weiterer, für den Gutachter relevanter Beurteilungskriterien, die hier nicht weiter ausgeführt werden können, wir verweisen direkt auf die Empfehlung selbst [9, 10].

Gutachterliche
Einschätzung der
Halswirbelsäulendistorsion

Die gutachterliche Beurteilung von Verletzungen der HWS spielt daher eine große Rolle, da es sich schlicht um sehr häufig vorkommende Ereignisse handelt, die entsprechend häufig in der gutachterlichen Praxis beurteilt werden müssen. Magin weist in einem Übersichtsartikel darauf hin, dass es keine reproduzierbare Krankheitsentität gibt und schlägt einen pragmatischen Ansatz vor, dem sich auch die Autoren dieser Arbeit anschließen [13]. Kaum Schwierigkeiten bereiten Fälle, in denen nachweisliche Schäden an anatomischen Strukturen gefunden werden können. Wesentlich problematischer sind die Fälle, in denen eben solche Beweise fehlen.

Eine große Rolle nimmt dabei die Erstschadenslage ein. Dabei darf der Gutachter in der Akte befindliche Diagnosen nicht unkritisch als Faktum übernehmen, sondern muss sich vielmehr ein objektives Bild selbst anhand von Bildgebung, Vorgeschichte und eigener Anamneseerhebung verschaffen. Besonderes Augenmerk sollte auch auf anlagebedingte Erkrankungen und Anhaltspunkte für eine erhöhte Vulnerabilität gelegt werden. Hierzu ist neben einer lückenlosen Aktenlage vor allen Dingen ein unfallnahes MRT von unschätzbarem Wert, erlaubt es doch die Feststellung eines Ödems und auch feinerer Verletzungen, die sonst eventuell nicht festgestellt werden könnten.

Merke

Eine verallgemeinernde Harmlosigkeitsgrenze wird zunehmend kritisch gesehen und viel mehr als interindividuell unterschiedliche Belastungstoleranz interpretiert, für die es keinen definierten Schwellenwert gibt.

Magin und Auer schlagen im Sinne eines biomechanisch-medizinischen Konsenses folgendes Vorgehen vor:

Zu klären sind folgende Fragen:

Wie war der Verletzungsmechanismus?

War dieser geeignet, eine Verletzung zu verursachen?

Wenn ja, war die Gewalteinwirkung ausreichend, um die Beschwerden zu verursachen?

Wenn eine der Fragen mit nein beantwortet werden kann, ist kein Kausalzusammenhang anzunehmen. Wenn die Fragen jedoch bejaht werden können, ist eine leichte HWS-Distorsion anzunehmen [13].

Thomann et al. betonen jedoch, „die Würdigung des Gutachters kann nur auf gesicherten organischen Unfallfolgen – den unfallbedingten Körperschäden – gründen“ [14].

Somit ist in den Fällen einer fehlenden Versehrtheit des Körpers jedoch unter Zutreffen der oben genannten Kriterien nur von einer geringen und auch zeitlich begrenzten Beschädigung auszugehen, was insbesondere in der GUV berücksichtigt werden muss, da hier eine zeitliche Darstellung des Verlaufs der MdE erforderlich ist.

Zusammenfassung

Ziel dieses Artikels ist es, einen Überblick über relevante gutachterliche Kriterien zur Einschätzung von Fragestellungen bezogen auf Wirbelsäulenerkrankungen und Unfälle mit Beteiligung der Wirbelsäule zu geben. Auf einschlägige Literatur wird im Text hingewiesen, sodass sich der begutachtende Arzt schnell über relevante Texte informieren kann. Unabhängig von der Fragestellung und der Rechtsgrundlage ist eine umfassende und lückenlose Anamnese sowie die gründliche Untersuchung und die chronologisch beachtete Bildgebung der Schlüssel zur korrekten Erstellung des wissenschaftlichen Gutachtens, das sowohl dem Auftraggeber als auch dem Probanden gerecht wird. Bei der Beachtung der im Text aufgeführten Grundsätze sollte damit der Gutachter imstande sein, auch komplexe Zusammenhänge einzuordnen und korrekt einzuschätzen. Letzten Endes ist die vielleicht wichtigste Aufgabe des medizinischen Gutachters, diese komplexen Zusammenhänge derartig darzustellen, dass auch medizinische Laien der Argumentation folgen können. Erst damit wird ein juristisch verwertbares Instrument daraus, dass die Grundlage zur weiteren Aufarbeitung des Sachverhalts sein kann.

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Michael Kraus

Orthopädische Universitätsklinik am RKU

Oberer Eselsberg 45

89081 Ulm

michael.kraus@rku.de

Literatur

1. Kanis JA, Melton LJ, Christiansen C et al.: The diagnosis of osteoporosis. J Bone Mineral res 1994; 9: 1137–1141

2. Schiltenwolf M, Hollo D (Hrsg.): Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. 6. Auflage, Stuttgart: Thieme Verlag, 2014: 725–728

3. Weber M, Wimmer B: Die klinische und radiologische Begutachtung von Wirbelsäulenverletzungen nach dem Segmentprinzip. Unfallchirurgie 1991 17: 200–207

4. Schönberger, Mertens, Valentin (Hrsg.): Arbeitsunfall und Berufskrankheit. 8. Auflage, Berlin: Erich Schmidt Verlag Berlin, 2010: 444

5. Schönberger, Mertens, Valentin (Hrsg.): Arbeitsunfall und Berufskrankheit. 8. Auflage, Erich Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2010: 442

6. Versorgungsmedizinverordnung, September 2015

7. Deutsche Rentenversicherung: Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung – Leistungsfähigkeit bei Bandscheiben- und bandscheibenassoziierten Erkrankungen. Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.). Berlin, Juni 2009

8. Deutsche Rentenversicherung (Hrsg.): Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung. 7. Auflage, Stuttgart: Springer Verlag, 2011: 150

9. Bolm-Audorf U, Brandenburg S, Brüning T et al.: Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (I). Trauma Berufskrankh 2005; 7: 211–252

10. Bolm-Audorf U, Brandenburg S, Brüning T et al.: Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (I). Trauma Berufskrankh 2005; 7: 320–332

11. Hurxthal LM: Measurement of anterior vertebral compression and biconcave vertebrae. J Am Radiol 1968; 103: 635–644

12. Roberts N, Gratin C, Whitehouse GH: MRI analysis of lumbar intervertebral disc height in young and older populations. J Magn Reson Imaging 1997; 7: 880–886

13. Magin M, Auer C: Begutachtung der Halswirbelsäulendistorsion. Unfallchirurg 2014; 117: 263–273

14. Thomann KD, Hollo DJ, Gaidzik PW: HWS Distorsion nach Verkehrsunfällen. Aus: Schiltenwolf M, Hollo D (Hrsg.). Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. 6. Auflage, Stuttgart: Thieme Verlag Stuttgart, 2014: 580

Fussnoten

1 Orthopädische Universitätsklinik Ulm am RKU, Ulm

2 Kanzlei Johanna Oehler, Augsburg

3 Donau-Ries Klinik Donauwörth, Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Wirbelsäulentherapie, Donauwörth

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