Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2012

Hüftsonografie nach GRAF bei Säuglingen: Checklisten helfen, Fehler zu vermeiden
Hip ultrasound with GRAF method in newborns:
Checklists help to avoid mistakes

C. Tschauner1 , H.D. Matthiessen2

Zusammenfassung: Grundsätzlich hat die Einführung des frühen generellen sonografischen Hüftscreenings in Deutschland, Österreich und der Schweiz einen Quantensprung in der Prophylaxe und Behandlung von Hüftreifungsstörungen mit sich gebracht. Leider scheint sich aber zuletzt ein leicht gegenläufiger Trend einzuschleichen.

Schlüsselwörter: Hüftsonografie nach GRAF, state of the art 2012, Fehleranalyse, Qualitätssicherung, Checklisten

Abstract: In Germany, Austria and Switzerland the introduction of an early general sonographic hip screening using the GRAF method brought a significant improvement in early biomechanical treatment and secondary prophylaxis of late residual dysplasia (DDH). Unfortunately, in the last years some methodical and organizational drawbacks have been noticed. This situation suggests the implementation of a strict quality management in training and application of GRAF´s method of hip sonography.

Key words: Sonographic hip sreening with GRAF method, state of the art 2012, analysis of mistakes, quality management, checklists

In jüngerer Zeit sind eine Zunahme von Schlichtungs- und Regressfällen, wieder häufiger auftretende operationsbedürftige Spätfälle und ein oft erschreckendes Defizit an Kenntnissen und Fertigkeiten bei vielen Teilnehmern an Sonografie-Refresherkursen zu beobachten. So konnten bei Refresherkursen (d. h. alle Teilnehmer praktizierten aktiv die Hüftsonografie) lediglich 21% der Absolventen vier Hüftsonogramme fehlerlos beurteilen! Diese unbefriedigende Situation spiegelt sich auch nach Einführung der Qualitätssicherungsmaßnahmen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zum 01.04.2005 in einer ungewöhnlich hohen Rate an Widerrufen der Abrechnungsgenehmigung bei den Qualitätssicherungs(QS)-Kommissionen der Kassenärztlicher Vereinigungen (KVen) wider.

Beim Vergleich verschiedener KVen ließen sich zudem stark differente Prüfergebnisse nachweisen (Tab. 1). Dies muss als Ausdruck einer höchst unterschiedlichen Prüfpraxis der Sonografiekommissionen bei gleich lautender KBV-Vorlage gewertet werden. Die Vertreter der Spitzenverbände der Krankenkassen haben in der völlig überarbeiteten QS-Vereinbarung „Säuglingshüfte“ auch größten Wert auf die Vergleichbarkeit der Prüfergebnisse durch Angleichen relevanter Aspekte der Beurteilungs- und Bewertungspraxis gelegt. In der Kommission „Säuglingshüfte“ der KBV werden derzeit auch noch nach Veröffentlichung der Vereinbarung entsprechende Bewertungsparameter erarbeitet.

Methodische Fehleranalyse

Die systematische Analyse der Regress- und Schlichtungsfälle sowie die Auswertung der Eingangstests bei Refresherkursen offenbarte eine Reihe immer wiederkehrender „klassischer“ Fehler und Fallstricke: Meist handelt es sich um die Missachtung oder Vernachlässigung grundsätzlicher methodischer Regeln und Checklisten. Folgerichtig werden die schwerstwiegenden Fehler am Anfang des diagnostischen Algorithmus gemacht und nicht bei der Winkelmessung, die methodisch gesehen erst am Ende eines systematischen diagnostischen Algorithmus steht.

Folgende Fehler sind in absteigender Priorität und Häufigkeit zu erwarten:

Insuffiziente Lagerung und Abtasttechnik (z.B. fehlende Lagerungsschale und/oder Schallkopfführung)

keine oder unvollständige anatomische Identifizierung (Checkliste 1)

fehlende Brauchbarkeitsprüfung und Kippfehlercheck (Checkliste 2).

Danach folgen mit großem Abstand:

inadäquate Messtechnik mit nicht plausiblen Alpha- und Betawinkeln

fehlende Plausibilitätsprüfung (inkonsistente Befunde von Deskription und Messwerten)

nicht phasengerechte therapeutische Konsequenzen.

Bei näherer Betrachtung, warum z.B. ein Hüftgelenk offen reponiert werden musste, stellte sich heraus, dass bei 13% der operierten Säuglingshüften die OP-Indikation auf einer primären Fehldiagnose beruhte. Beispielsweise wurde bei der U3 ein tatsächliches 2c-Gelenk fälschlich als Typ 1 fehleingeschätzt und erst einige Zeit später (= zu spät!) als definitiv dezentriert („luxiert“) wieder vorgestellt. Mit gutem Grund bezeichnet Graf die Hüftsonografie als „finale“ Untersuchung: ein primärer diagnostischer Fehler lässt sich später oft nicht wiedergutmachen, weil die Pathomorphologie unbemerkt fortschreiten konnte und das kurze Zeitfenster für eine restitutio ad integrum längst geschlossen ist.

Gegenstrategien

Unbedingt anzustreben ist die standardisierte Durchführung der Hüftsonografie: Diese beginnt mit der Lagerung und Abtasttechnik und endet mit einer adäquaten, phasengerechten therapeutischen Konsequenz sowie ausreichend langen Verlaufskontrollen biomechanisch behandelter Hüftgelenke.

Die standardisierte Hüftsonografie erfordert ein systematisiertes Vorgehen nach Checklisten (im Sinne des Risikomanagements). Graf hat als Orientierungshilfe neben seinem ausführlichen „Kompendium“ [1] einen gestrafften Ausbildungskatalog mit den methodischen Mindeststandards publiziert [1], der als Referenz für Ausrichter und Teilnehmer von Ausbildungskursen nach DEGUM-Richtlinien dient oder zumindest dienen sollte.

Anhand der Checkliste 1 können die sonoanatomischen Landmarken systematisch abgearbeitet werden:

1. Knorpel-Knochen-Grenze

2. Hüftkopf

3. Umschlagfalte

4. Gelenkkapsel

5. Labrum

6. Knorpel

7. Knochen (5–7 = „Standardreihe“)

8. Konkavität-Konvexität („Erker-Umschlagpunkt“).

Mit der Abarbeitung der Checkliste 1 werden der Erker-Umschlagpunkt festgelegt und definitiv dezentrierte von zentrierten Hüftgelenken abgegrenzt.

Bei zentrierten Gelenken ist anschließend obligatorisch die Checkliste 2 („Brauchbarkeitsprüfung“ der Standardschnittebene) abzuarbeiten:

1. Unterrand des Os ilium

2. Schnitt

3. Labrum.

Mit der Checkliste 2 werden (unbrauchbare) vordere und hintere Schnitte sowie gegebenenfalls Kippfehler identifiziert und eliminiert. Nach vollständiger und korrekter Abarbeitung beider Checklisten sind die essenziellen methodischen Schritte abgewickelt und damit für die Hüftgelenke des Säuglings fatale diagnostische Fehler vermieden worden.

Alle weiteren Schritte im diagnostischen Algorithmus bauen auf einer korrekten anatomischen Identifizierung (Checkliste 1) und einer brauchbaren frontalen Standardschnittebene (Checkliste 2) auf: Es folgt eine beschreibende Befundung (Deskription) des vorläufigen Hüfttyps nach Graf (Typ 1–4) mithilfe einer definierten verbalen Terminologie von knöcherner Formgebung, knöchernem Erkerareal und knorpeligem Pfannendach. Anschließend wird der vorläufige deskriptive Befund mittels standardisierter Messtechnik des „Knochenwinkels“ Alpha und des „Knorpelwinkels“ Beta abgesichert bzw. verifiziert. Damit ist unter Einbeziehung des Lebensalters (Reifungskurve) und gegebenenfalls eines Stresstests eine Feintypisierung und also der definitive Hüfttyp festgelegt. Dieser sollte nochmals durch eine Rückkoppelung auf seine Konsistenz mit der vorherigen Deskription überprüft werden (Plausibilitätsprüfung). Dabei womöglich zutage tretende Widersprüche müssen aufgelöst werden. Der beschriebene schrittweise eingrenzende diagnostische Algorithmus entspricht dem Prinzip der Rasterfahndung in der Kriminologie.

Das diagnostische Endprodukt dieser sonografischen Rasterfahndung ist nicht ein bestimmter Alpha-Winkel, sondern ein Hüfttyp: Dadurch werden inhärente methodische Schwächen (Intra-/Interobserver-Varianz) kompensiert; auch die therapeutische Konsequenz („sonografiegesteuerte“ Therapie) ist nicht winkel-, sondern typenbezogen (Tab. 2).

Auch wenn statistisch nur bei ca. 1% aller Neugeborenen mit einer schwerwiegenden Hüftreifungsstörung mit sonografischer Instabilität oder gar schon Dezentrierung zu rechnen ist, muss gerade diese „Negativauslese“ schnellstmöglich korrekt diagnostiziert und ohne Zeitverzögerung einer adäquaten (phasengerechten) biomechanischen Therapie (Tab. 2) zugeführt werden. Alle Hüftgelenke, die eine biomechanische Behandlung gemäß Tab. 2 erhalten haben und erfolgreich bis zum Typ 1 ausbehandelt wurden, müssen bis zum Wachstumsende regelmäßig kontrolliert werden („Meilensteinröntgen“), um potenzielle sekundäre Verschlechterungen (sekundäre/endogene Dysplasien) herauszufiltern. Deren Häufigkeit liegt bei 10–30% der Therapiefälle.

Analyse der Entscheidungspraxis der QS-Kommissionen der KVen

Vor Einführung der „Prüfung der Auflage zur Aufrechterhaltung der fachlichen Befähigung von sonografischen Untersuchungen der Säuglingshüfte im B-Mode-Verfahren gemäß § 7a der Ultraschall-Vereinbarung“ zum 01.04.2005 haben die Mitglieder der QS-Kommission der KV Westfalen-Lippe (KVWL) in Anlehnung an die Vorgaben der KBV Kriterien zur Beurteilung der Bild- und Befunddokumentation erarbeitet. Diese wurden in Form eines „Fehlerkatalogs“ tabellarisch den Qualitätsstufen I–III (regelrecht, eingeschränkt, unzureichend) zugeordnet.

Die ersten Ergebnisse zwischen April 2006 und August 2007 waren desaströs: Nur 6,2% der Ärzte konnten eine sachgerechte Qualität nachweisen. 93,8% wurden als nicht sachgerecht beurteilt. 85,7% hätten ihre Abrechnungsfähigkeit verloren.

Alle Betroffenen waren aufgebracht, ließen ihrem Zorn freien Lauf und suchten die Fehler vornehmlich in der „Realitätsferne“ und „Pedanterie“ der Kommissionsmitglieder. Die zahlenmäßig erfasste Fehleranalyse der KVWL zeigte neben Flüchtigkeits- und methodischtechnischen Fehlern insbesondere erheblich defizitäre Kenntnisse bei der anatomischen Identifizierung und der Brauchbarkeitsprüfung. Da viele systemische Fehler begangen wurden (die Häufigsten: Abbildungsverhältnis nicht 1,7 : 1, Ausstelllinie falsch angelegt, Brauchbarkeitskriterien nicht erfüllt etc.) hat die KV Informationsveranstaltungen durchgeführt, die mit zusätzlich wohlwollender Bewertung der Messtechnik von Stufe III in Stufe II deutlich bessere Prüfergebnisse ergaben. Zumindest konnte der Abrechnungswiderruf auf 49,0% gesenkt werden. Gleichwohl ist die nicht sachgerechte Beurteilung mit zurzeit 62% immer noch zu hoch. Eine hervorragende Untersuchungsmethode kann aber nur dann flächendeckend erfolgreich sein, wenn alle Anwender sie fehlerfrei praktizieren.

Die Frage nach der Ursache dieser schlechten Prüfergebnisse ist in der Historie zu finden. Die Ultraschall-Richtlinien aus den Jahren 1982 und 1987 sahen vor, dass die Kenntnisse in 3 Kursen erworben werden mussten. Danach konnten Ärzte in einem Kolloquium bei der KV die Abrechnungsfähigkeit sonografischer Leistungen erwerben. Seit 1988 (Kinderärzte und Radiologen) bzw. 1993 (Orthopäden) werden die Kenntnisse und Fähigkeiten sonografischer Untersuchungen im Rahmen der Weiterbildung gelehrt und im Zeugnis zur Facharztanerkennung vom weiterbildungsbefugten Chefarzt attestiert.

In den Facharztprüfungen zeigen sich leider häufig erhebliche Diskrepanzen zwischen den Chefarztzeugnissen und den tatsächlich vorhandenen Kenntnissen. Auch wird die Säuglingssonografie insbesondere bei jenen Kollegen, die den neuen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie anstreben, in der Facharztprüfung nicht mehr geprüft. Nach der Niederlassung wird dann aus wirtschaftlichen Gründen munter geschallt – und viele Kollegen geraten in die Fänge der ärztlichen Gutachterstellen oder fallen nach etwa 2-jähriger Tätigkeit bei der Qualitätssicherung der KVen durch.

Die neue QS-Vereinbarung hat neben einer Vielzahl weiterer Veränderungen auch einen Prüfalgorithmus mit sich gebracht, demzufolge bei bestimmten Bedingungen expressis verbis ein Fortbildungskurs (Refresherkurs) bindend vorgeschrieben ist. Da an vielen zur Weiterbildung befugten Kliniken keine strukturierte Ausbildung mehr erfolgt oder nicht erfolgen kann, sollten die Kenntnisse in den Facharztprüfungen auch nur dann abgefragt werden, wenn ein Zertifikat über eine strukturierte Weiterbildung vorgelegt wird. Nur diese Ärzte sollten auch geprüft werden.

Die KV prüft zur Abrechnungsfähigkeit allerdings noch, ob die in der Vereinbarung vorgeschriebene Anzahl von 200 Kindern (also 400 Hüftgelenken) nachgewiesen werden kann. Ein derartiges Konzept wird derzeit in der Ärztekammer Westfalen-Lippe beraten. Nicht jeder zur Facharztprüfung zugelassene Kollege – wenn er z.B. in der Unfallchirurgie weiterarbeiten möchte – müsste dann die Sonografie der Säuglingshüfte nach Graf beherrschen und der Chefarzt würde nicht genötigt, ein Gefälligkeits-zeugnis auszustellen.

Schlussfolgerungen

Die Analyse der Regressfälle und der operativ zu behandelnden Hüftgelenke sowie die Ergebnisse der Qualitätskom-missionen der KVen bestätigen die Notwendigkeit der strukturieten Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten in einem strukturierten Ausbildungssystem (Grund-, Aufbau- und Abschlusskurs) sowie die Sinnhaftigkeit einer regelmäßigen Rezertifizierung (Refresherkurse). Das Curriculum dieser Kurse wird durch den Ausbildungskatalog nach Graf [1] strukturiert, der einen Mindeststandard darstellt. Sämtliche Details sind in der jeweils aktuellsten Auflage des Graf-Kompendiums nachlesbar.

Die Kenntnis der Literatur kann allerdings die Teilnahme an einem strukturierten Kurssystem nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen. Gleichbedeutend ist in der Ultraschallvereinbarung vom 31.10.2008 der Erwerb der fachlichen Befähigung durch computer-gestützte Fortbildung in Verbindung mit Ultraschallkursen festgeschrieben. Ebenso sollte die technische Ausstattung (Lagerungsschale plus Schallkopfführung) dem „State of the Art“ 2012 entsprechen. Eine unstrukturierte „Ausbildung am Krankenbett“ durch nicht speziell in der Hüftsonografie ausgebildete Kursleiter systematisiert Fehler und zerstört letztlich Hüftgelenke von Säuglingen.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Christian Tschauner

Abteilung für Orthopädie
des LKH Stolzalpe

A-8852 Stolzalpe

E-Mail:
christian.tschauner@lkh-stolzalpe.at

 

Dr. med. Hans Dieter Matthiessen

Facharzt für Orthopädie,
Rheumatologie, Kinderorthopädie,
Chirotherapie, Sportmedizin,

DEGUM Seminarleiter

Möllenhoffstraße 4

44287 Dortmund

E-Mail:

dieter@matthiessen.eu

Literatur

1. Graf R. Warum ein Ausbildungskatalog für die Hüftsonographie? Orthopädische Praxis 2009; 45:67–73
Weitere Literatur bei den Verfassern

Fussnoten

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags aus „Orthopädie & Rheuma“ 2012; 15(2) 43–47

Abteilung für Orthopädie des LKH Stolzalpe, Österreich

Facharzt für Orthopädie, Rheumatologie, Kinderorthopädie, Chirotherapie, Sportmedizin, Dortmund

DOI 10.3238/oup.2012.0288-0291

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