Übersichtsarbeiten - OUP 05/2017

Karl IV, der bekannteste Patient mit einer spinalen Verletzung

Im Jahre 1962 publizierte Professor Lesny eine weitere Hypothese, welche besagte, dass die Lähmungen durch eine bakterielle Entzündung der Nerven und der Spinalwurzeln verursacht worden seien [4]. 1976 wurde der in der Krypta der böhmischen Könige im St. Veit Dom in Prag stehende Sarkophag des einbalsamierten Leichnams geöffnet, durch die Arbeitsgruppe von Professor Vlcek untersucht und 1980 wieder verschlossen. So zeigte sich nach Jahrhunderten die eigentliche Krankheitsursache, die Verletzung der Halswirbelsäule. Radiologische und klinische Analysen bewiesen, daß Karl IV. einen sehr schweren Unfall erlitten hatte, mit großer Wahrscheinlichkeit bei einem von seinen beliebten Ritterturnieren. Er erlitt eine doppelte beidseitige Fraktur der Mandibula sowie Frakturen des 5. und 6., ggf. auch des nicht mehr erhaltenen 7. Halswirbels. An den Wirbeln zeigen sich deutliche posttraumatische Deformierungen der Procc. transversi C5–C6, an der Mandibula eine doppelte Fraktur an der Kinnspitze als direktes Trauma und im Bereich beider Kiefergelenke mit Gelenkdeformierungen als indirektes Trauma. Ferner zeigten sich am Skelett Veränderungen an der Maxilla, eine deutliche Einengung des Foramen transversale C6 links sowie eine sakrale Spina bifida, diese Erscheinungen sind aber wahrscheinlich genetisch bedingt, da analoge Veränderungen auch am Skelett seines Vaters Johann von Luxemburg und weiteren Mitgliedern der Dynastie nachweisbar sind [2].

Die weiteren Skelettuntersuchungen zeigten eine Armlängendifferenz von rechts ca. + 2 cm bei in etwa gleichlangen Beinen, eine berechnete Körpergröße von ca. 173 cm, ein kräftiges Skelett mit breiten muskulären Insertionszonen, jedoch auch eine Hyperkyphose der BWS, eine Kyphosierung der LWS, eine Hyperlordose der HWS sowie eine leichte Skoliose thorakolumbal und eine deutliche Linksskoliosierung der HWS. Die spärlichen Quellen über die Körperhaltung aus der Jugendzeit von Karl IV. beschrieben ihn jedoch als schlanken, aufrechten, athletischen Mann. Die Haltungsanomalien an seinem Skelett scheinen also eher posttraumatischer und nicht habitueller Genese. Es ergibt sich also orthopädisch-unfallchirurgisch [2]:

verheilte Frakturen der Mandibula in Höhe Kinnspitze (direktes Trauma) sowie in Fehlstellung verheilte Fraktur Mandibula bds. mit Deformierung der Kiefergelenke (indirektes Trauma),

Querfortsatzfrakturen von C5 und C6 links, hypothetisch auch tiefer gelegener Wirbel (C7–Th2 nicht mehr vorhanden) mit posttraumatischen Deformierungen,

resultierende Steilstellung bzw. Hyperlordose HWS mit Linksskoliosierung und Verkürzung linksseitig, radiologisch mit Einengungen v.a. in Höhe C5–6, geringer und nach oben hin abnehmend auch in den höheren Etagen C3–4 und C4–5,

Hyperkyphose BWS sowie Kyphosierung LWS mit berechnet ca. 3–4 cm Körpergrößenverlust, hier erscheint unklar, ob es sich alleinig um posttraumatische Veränderungen handelt oder ob zumindestens die leichte thorakolumbale Skoliose schon vorher bestand,

temporäre Tetraplegie, vermutlich auf Basis einer Contusio spinales und/oder einer spinalen Blutung in Höhe der unteren Halswirbelsäule.

Die resultierende Fehlhaltung der HWS und des Kopfes erkennt man auch auf zahlreichen Abbildungen und Statuen, so z.B. in der Großen Halle des Carolinum in Prag (Abb. 1).

Unfallentstehung und
posttraumatischer Verlauf

Zur Unfallentstehung wird zunächst eine direkte/indirekte Traumatisierung des Unterkiefers (doppelte direkte Fraktur im Bereich der Kinnspitze, beidseitige indirekte Fraktur in den hinteren Anteilen der Mandibula) und nachfolgend ein indirektes Trauma der unteren Halswirbelsäule in Höhe der Facettengelenke C5 und C6 links, 7. Halswirbel nicht mehr erhalten) durch den Helm im Rahmen des Sturzes vom Pferd angenommen. Nach der Traumatisierung waren gemäß den Chroniken alle 4 Extremitäten paretisch, während der Akutpflege wurde alles versucht, um ihn zu retten. Die Quellen beschreiben, dass dem Herrscher die Haare herausgerissen wurden, dies entspricht wohl dem Extensionsversuch der behandelnden Ärzte mit dem Ziel der Reposition und Entlastung der Halswirbelsäule. Das Turnier fand in Italien statt, welches zur damaligen Zeit bereits über eine Reihe bekannter universitärer Medizinschulen verfügte. Der Ort und der Umstand, dass es sich bei Ritterturnieren um Veranstaltungen der gesellschaftlich führenden Schichten handelte, lassen die Vermutung zu, dass die medizinische Versorgung zum Zeitpunkt des dortigen Unfalls der Spitze des damaligen Wissensstands entsprach.

Zur damaligen Zeit war bereits eine gewisse Form der Analgesie und Narkose möglich: Man benutzte sogenannte Schlafschwämme, welche mit Opium oder anderen Mohnextrakten getränkt wurden [7]. Die Tatsache, dass er dieses schwere Trauma überlebte, ist wohl einerseits auf die einsetzende ärztliche Behandlung zurückzuführen, andererseits aber auch auf seine gute körperliche Konstitution. Des Weiteren hatte er wohl „Glück im Unglück“, dass die Verletzung der Wirbelsäule erst in Höhe Segment C5 begann und so der für das Überleben eines hohen Querschnitts notwendige und das Zwerchfell versorgende paarig angelegte Nervus phrenicus aus den Segmenten C3–5 nicht oder nur gering betroffen war, anderenfalls hätte er die einsetzende Ateminsuffizienz nicht überlebt. Die genauen Umstände seiner weiteren Versorgung sind nicht bekannt, eine stationäre Versorgung erscheint eher unwahrscheinlich, zumal in Prag um die Zeit nur wenige Spitäler existierten, in welchen auch eher der pflegerische Aspekt im Vordergrund stand [8]. Die Dauer der Behandlung wurde mit ca. einem Jahr veranschlagt und verlief immerhin so erfolgreich, dass er einige Jahre später seinen wichtigsten Titel des römisch-deutschen Kaisers erhielt und die Verletzung insgesamt 28 Jahre überlebte. Nachweislich litt Karl IV. später an einer Gicht mit Gelenkveränderungen an den Großzehengrundgelenken und starb später an einer Pneumonie nach einer medialen Schenkelhalsfraktur links [3].

Rekonvaleszenz und
Rehabilitation von Karl IV aus heutiger Sicht

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