Übersichtsarbeiten - OUP 04/2018

Kinematische Knieendoprothetik

Alexander J. Nedopil1, Stephen M. Howell2, Maury L. Hull3

Zusammenfassung: Diese Übersichtsarbeit erläutert die Ziele der kinematischen Knieendoprothetik. Diese sind die Wiederherstellung 1) der natürlichen Orientierung der tibio-femoralen Gelenklinie, 2) der natürlichen Beinachse und 3) der natürlichen Stabilität des Kniegelenks. Das Konzept der kinematischen Knieendoprothetik ist relativ neu und bis jetzt weniger verständlich als die Prinzipien der mechanischen Knieendoprothetik. Daher werden im Folgenden die Technik für die kinematische Ausrichtung der tibialen und femoralen Komponente an der natürlichen tibio-femoralen Gelenklinie im Detail erklärt. Studien, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen mechanischer und kinematischer Knieendoprothetik im Bereich Funktion, Knie- und Extremitätenausrichtung sowie Lebensdauer der Komponenten
untersuchen, werden im Anschluss daran diskutiert.

Schlüsselwörter: Knieendoprothetik, kinematische Ausrichtung, Operationstechnik

Zitierweise
Nedopil AJ, Howell SM, Hull ML: Kinematische Knieendoprothetik. OUP 2018; 7: 228–235 DOI 10.3238/oup.2018.0228–0235

Summary: This chapter introduces the three goals of kinematically aligned total knee arthroplasty (TKA), which are to restore 1) the natural tibial-femoral articular surfaces, 2) the natural knee and limb alignment, and 3) the natural laxities of the knee. Because kinematically aligned TKA is relatively new and not as well understood as mechanically aligned TKA, the technique for kinematically aligning the femoral and tibial components to the natural tibial-femoral articular surface is detailed. Finally, studies describing the similarities and differences of the function, limb, knee, and tibial component alignment, and survivorship between kinematically and mechanically aligned TKA are presented.

Keywors: total knee arthroplasty, kinematic alignment, surgical technique

Citation
Nedopil AJ, Howell SM, Hull ML: Kinematically aligned
total knee arthroplasty.

OUP 2018; 7: 228–235 DOI 10.3238/oup.2018.0228–0235

1 MD, Department of Orthopaedics, University of California

Ziel 1: Wiederherstellung der natürlichen Orientierung der tibio-femoralen Gelenklinie

Ein Ziel der kinematischen Knieendoprothetik ist die Wiederherstellung der natürlichen Orientierung der tibio-femoralen Gelenklinie in allen 6 Freiheitsgraden (antero-posterior, proximal-distal, medial-lateral, Flexion-Extension, Varus-Valgus, Innen- und Außenrotation) durch Positionierung der femoralen und tibialen Komponente. Durch Positionierung der femoralen und tibialen Komponente parallel zur Orientierung der natürlichen tibio-femoralen Gelenklinie richten sich die Achsen der Komponenten parallel zu den 3 kinematischen Achsen des normalen Kniegelenks aus (Abb. 1) [4, 7, 15]. Eine kinematische Achse des Kniegelenks ist die Flexionsachse der Tibia, welche die Mittelpunkte des zylindrischen Anteils der posterioren Femurkondylen von ca. 20–120° verbindet. Diese kinematische Achse definiert den natürlichen Bewegungsbogen der Tibia um das Femur [7, 10, 18, 26, 31]. Die 2. kinematische Achse ist die Flexionsachse der Patella. Sie verläuft parallel zur Flexionsachse der Tibia und befindet sich ca. 10 mm vor und 12 mm proximal zu dieser. Diese kinematische Achse definiert den natürlichen Bewegungsbogen der Patella um das Femur [2, 17]. Die Flexions-Extensions-Ebene des gestreckten Kniegelenks liegt senkrecht zu diesen 2 kinematischen Achsen und verläuft durch das Kniezentrum. Die 3. kinematische Achse ist die vertikale Rotationsachse der Tibia. Sie verläuft in etwa senkrecht zu den Flexionsachsen der Tibia und der Patella und definiert den natürlichen innen- und außenrotatorischen Bewegungsbogen der Tibia [2, 10]. Die 3 kinematischen Achsen sind dabei annähernd parallel oder senkrecht zur natürlichen tibio-femoralen Gelenklinie [2, 6, 7, 10, 12, 17] (Abb. 1).

Eine Positionsänderung der femoralen oder tibialen Komponente in mindestens einem der 6 Freiheitsgrade beeinflusst die Orientierung der tibio-
femoralen Gelenklinie. Dies fehlpositioniert die Achsausrichtung der Komponenten im Vergleich zu den 3 kinematischen Achsen des Kniegelenks und ändert die natürliche Ruhespannung der Seitenbänder und des hinteren Kreuzbands. Eine Veränderung der natürlichen Ruhespannung dieser Weichteilstrukturen verursacht eine unnatürliche Spannung oder Entspannung der Bänder sowie unnatürliche tibio-femorale und patello-femorale Bewegungsabläufe, die Patienten als Schmerz, Druck, Steife oder Instabilität wahrnehmen [7, 9, 10].

Ziel 2: Wiederherstellung
der natürlichen Orientierung des Kniegelenks und
der natürlichen Beinachse

Das 2. Ziel der kinematischen Knieendoprothetik ist die Wiederherstellung der natürlichen Orientierung des Kniegelenks und der natürlichen Beinachse [9, 14, 15, 16]. Zahlreiche Studien belegen den Vorteil der Wiederherstellung der natürlichen oder konstitutionellen Orientierung des Kniegelenks und der unteren Extremität im Vergleich zur Erzeugung einer neutralen mechanischen Achse (Abb. 2). Die Erzeugung einer neutralen mechanischen Achse bei Patienten mit konstitutionellem varus oder valgus ist unnatürlich und erzeugt eine stärkere Dehnung der medialen bzw. lateralen Seitenbänder im Vergleich zum nativen Kniegelenk [1, 3, 9]. Patienten mit präoperativem varus haben bessere klinische und funktionelle Ergebnisse und die gleiche Revisionsrate nach 7 Jahren, wenn der konstitutionelle varus nicht korrigiert wurde, im Vergleich zu Patienten, die zu einer geraden unteren Extremität überkorrigiert wurden [30]. Durchschnittlich 6 Jahre nach kinematischer Knieendoprothetik beeinflusste die Wiederherstellung der natürlichen Orientierung der Gelenklinie und der natürlichen Beinachse die Überlebenszeit der Implantate nicht und führte zu sehr guter Funktion [14].

Ziel 3: Wiederherstellung
der natürlichen Stabilität
des Kniegelenks

Das 3. Ziel der kinematischen Knieendoprothetik ist die Wiederherstellung der natürlichen Stabilität des Kniegelenks. Das Kniegelenk ist bei 0° Flexion straffer als bei 45° und 90° Flexion (Abb. 3) [27, 28]. Bei 0° Flexion verhält sich das Tibio-Femoral-Gelenk wie ein starrer Körper. Die durchschnittliche varische und valgische Abweichung in 0° Flexion beträgt 0,7° und 0,5°. Die durchschnittliche Innen- und Außenrotation beträgt 4,6° und 4,4° [8, 27, 28]. Bei 45° und 90° Flexion beträgt die varische Abweichung 3,1° und die valgische Abweichung 1,4°. Die rotatorische Stabilität ist ebenfalls geringer bei durchschnittlicher Innen- und Außenrotation von 14,7°. Die vordere Schublade erhöht sich um ca. 50 % von 0° zu 90° Flexion [27,28]. Der Erhalt des natürlichen Unterschieds in der Spannung der Kniegelenk-stabilisierenden Strukturen bei unterschiedlichen Graden der Knieflexion bedarf des Erhalts der natürlichen Ruhespannung der Seitenbänder, des hinteren Kreuzbands und des Retinakulums. „Gap-balancing“ erhöht die Spannung der Flexionslücke bei 45° und 90°, da die Spannung der Flexionslücke an die Spannung der Extensionslücke angepasst wird. Dies kann von Patienten als Schmerz oder Bewegungseinschränkung wahrgenommen werden [7, 27].

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