Übersichtsarbeiten - OUP 01/2023

Lumbaler Bandscheibenvorfall

Eine gezielte Anamnese ist wichtig, um schwere körperliche Erkrankungen auszuschließen. Es muss nach Dauer und Art der Beschwerden, Allgemeinsymptomen (Fieber, Gewichtsverlust, Müdigkeit), Rezidive, auslösende Faktoren, Beschreibung der Schmerzen, Lokalisation, Funktionseinschränkung, Ausstrahlung, ähnliche frühere Episoden gefragt werden. Sehr wichtig ist es, auch das physische und psychosoziale Umfeld abzuklären. Im Einzelnen muss nach der Lokalisation des Schmerzes und Ausstrahlung in das Bein gefragt werden. Es sollte das Auftreten der Beschwerden geklärt werden (z.B. plötzlich oder langsam zunehmend, nach einem Unfall oder einer Fehlbewegung etc.). Die Frage nach Schmerzverschlechterung oder -erleichterung (z.B. Stehen, Gehen, Sitzen und Liegen; Gehleistung in Hinblick auf die spinale Stenose „Claudicatio spinalis“ etc.) und die Abhängigkeit des Schmerzes von der Tageszeit (Nachtschmerz als Hinweis auf Entzündung oder systemischen Prozess, Morgensteifheit unter einer halben Stunde als Hinweis für diskogenen Schmerz oder auf aktivierte Spondylarthrose, über 1 Stunde als rheumatisches Geschehen) erlauben die Einengung der möglichen Diagnosen. Weitere wichtige Fragen sind Schmerzzunahme beim Husten, Niesen oder Bauchpressen und die Belastungsabhängigkeit der Schmerzen und Reaktion auf frühere Behandlungen und allgemeine Anamnese mit Hinweis auf Tumoren oder Infektion, Sozialanamnese, Berufsanamnese und psychische Anamnese, insbesondere hinsichtlich Depression und Angstzuständen. Bei der Anamnese ist vor allem auf „red flags“ zu achten (Tab. 1) [24].

Untersuchung

Die körperliche Untersuchung erfolgt immer am ausreichend entkleideten Patienten!

Inspektion

Die Inspektion beginnt bereits bei der Begrüßung und Erhebung der Anamnese mit der Beobachtung des Gangbildes (z.B. Schonhinken, Verkürzungshinken, Duchenne-Hinken, Trendelenburg-Hinken) und der Körperhaltung; letztere wird von hinten, vorne und der Seite beurteilt. Ebenso ist auf Hautveränderungen zu achten (z.B. Infektzeichen (Rötung, Pusteln, Blasen etc.), Verletzungsmuster oder Druckstellen, Hautfältelungen wie das Tannenbaumphänomen).

Zur Beurteilung der Symmetrie ist die Frontalebene geeignet. Es ist auf Becken- und Schultergleichstand, gleichmäßige Ausprägung der Rückenstrecker, Rippenbuckel oder Lendenwulst zu achten. Ein lumbaler BSV kann schmerzbedingt zur sog. Ischiasskoliose führen [3, 12].

Palpation

Die Palpation erfolgt in entspannter Bauchlage, es werden die einzelnen Segmente palpiert, die Facettengelenke, Dornfortsätze, paravertebrale Muskulatur, insb. der M. erector spinae und der M. quadratus lumborum. Die Palpation umfasst auch das Lig. iliolumbale und ISG bds. [3, 12].

Bewegungsumfang

Die Messung des Bewegungsumfangs erfolgt nach der Neutral-Null-Methode. Die Gesamtflexion der LWS kann mit dem Finger-Boden-Abstand (FBA) in cm bei durchgestreckten Kniegelenken beschrieben werden, wobei in diesen Wert allerdings auch die Flexionsfähigkeit der Hüftgelenke eingeht und durch eine Verkürzung der ischiocruralen Muskulatur verfälscht werden kann. Dabei sollte der Finger-Boden-Abstand 0–10 cm betragen [3, 12].
Eine differenzierte Beurteilung wird durch die Prüfung des Schober-Zeichens möglich:

In aufrechter Stellung wird vom Dornfortsatz S1 nach kranial eine Strecke von 10 cm markiert. Bei freier Flexionsfähigkeit der LWS verlängert sich diese Distanz in maximaler Flexion auf mindestens 15 cm; Dokumentation: Schober 10/15 cm.

Eine segmentale manualmedizinische Untersuchung rundet diesen Untersuchungsgang ab [3, 12]. Das Schober-Zeichen dient genauso wie das Ott-Zeichen der Verlaufsbeurteilung oder Begutachtung, jedoch weniger der akuten Untersuchung.

Zum Ausschluss einer pseudoradikulären Symptomatik sollte unbedingt das Iliosakralgelenk untersucht werden. Klassische Tests sind das Mennell-Zeichen, das Vierer-Zeichen und das Vorlaufphänomen [3, 12].

Neurologische
Untersuchung

Die Untersuchung erfolgt immer im Seitenvergleich. Bestandteil ist die Testung der groben Kraft (Kraftgrade 1–5/5 nach Janda), der entsprechenden segmentalen Kennmuskeln der unteren Extremität sowie der korrespondierenden Reflexe. Des Weiteren sollte die Sensibilität der unteren Extremität getestet werden (Tab. 2). Dabei ist auf eine dermatombezogene Ausfallsymptomatik zu achten. Blasen- und Mastdarmstörungen sind ebenfalls zu erfragen und ggf. die anale Sensibilität und der Sphinktertonus zu testen. Wichtig ist es, auf Hyperreflexie bzw. Klonus zu achten. Der Vollständigkeit halber ist auch das Gangbild zu untersuchen, z.B. in Hinblick auf Ataxien. Des Weiteren ist das Zeichen nach Lasèque, nach Bragard, der gekreuzte Lasèque und umgekehrte Lasèque zu überprüfen [3, 12].

Bildgebende Verfahren

Aufgrund des selbstlimitierenden Verlaufs ist bei Patienten mit Kreuzschmerzen ohne „red flag“-Symptome zunächst keine routinemäßige Bildgebung erforderlich. Die Korrelation der Befunde in der Bildgebung mit den klinischen Beschwerden ist nicht gut. Oft werden Befunde in der MRT-Untersuchung überbewertet, tragen zur Verunsicherung der Patienten und damit zur Chronifizierung bei und haben prognostisch wenig Relevanz [1].

Röntgen

Das konventionelle Röntgen in 2 Ebenen hat kaum eine Indikation beim BSV. Das Nativröntgen ist angezeigt bei Patienten mit neu aufgetretenen Beschwerden und Radikulopathie, bei denen keine weitergehende Schnittbilddiagnostik erforderlich ist, zur Erkennung von Osteodestruktionen, knöchernen Fehlbildungen, Stufenbildung und Osteoporosefrakturen. Bei Verdacht auf Instabilität sollten ggf. ergänzend Funktionsaufnahmen durchgeführt werden. Es wird nach wie vor häufig zur postoperativen Verlaufskontrolle und zur Lagekontrolle nach Einbringung von Implantaten angewendet [1–3].

Weitere Schnittbildverfahren sind nur angezeigt bei Vorliegen von „red flags“-Symptomen (Tab. 1) und wenn unklare oder therapieresistente Befunde vorliegen, d.h. kein ausreichendes Ansprechen auf Therapiemaßnahmen über 6–8 Wochen [3].

MRT/CT

Im MRT werden Weichteilveränderungen und die Luxation von Bandscheibensequestern (Abb.1) meist besser erfasst als im CT. Die Sensitivität des MRT zum Nachweis einer Nervenwurzelkompression ist hoch, die Spezifität jedoch gering, sodass der klinische Befund immer mit der Bildgebung korreliert werden muss! Der diagnostische Nutzen des Upright-MRT (MRT im Stehen) ist noch unklar [1–3]. Das CT ist bei der Beurteilung knöcherner Veränderungen sowie foraminaler und extraspinaler BSV mitunter überlegen. Eine wiederholte MRT- oder CT-Untersuchung sollte nur bei einem neuen oder progressiven neurologischen Defizit oder schweren Begleiterkrankungen vorgenommen werden [1, 3]. Diese Tatsache ist offensichtlich nicht weitläufig bekannt, denn Patienten legen in der Sprechstunde häufig nicht nur ein MRT/CT vor, sondern häufig unzählige Untersuchungen, die teilweise in jährlichen Abständen durchgeführt wurden. Das CT ist zwar häufig schneller verfügbar als ein MRT, ist aber bei V.a. BSV meist nicht zielführend und sollte nicht als Alternative nur wegen der schnelleren Verfügbarkeit durchgeführt werden. Ein MRT/CT ist nicht indiziert, nur weil es der Patient wünscht!

Elektrophysiologische
Untersuchung

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