Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Management neuropathischer Schmerzen
Ein erfahrungs- und evidenzbasierter Behandlungsalgorithmus

Carolin Meyer, Christian Wille

Zusammenfassung:
Schmerzen sind Leitsymptom zahlreicher Erkrankungen. Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen weisen ein besonders hohes Risiko für individuelle, aber auch soziale und gesellschaftliche Folgebelastungen auf. Bewusstsein und Wissen über die Pathomechanismen chronischer Schmerzverläufe, die Bedeutung neuropathischer Schmerzen als Folge einer Chronifizierung sowohl für die Patientin/den Patienten selbst als auch für die Gesellschaft und deren Therapieresistenz sind in der ärztlichen Profession weiterhin erstaunlich unterentwickelt. Dies führt in der Praxis zu Unterversorgung und jahrelangen Leidenswegen einerseits und zu ineffizienter Positivsymptome und Übertherapie andererseits.
Aus pathophysiologischer Sicht gilt, dass jeder Schmerzzustand – unabhängig von der Ursache – je nach Dauer und Intensität strukturelle und funktionelle Veränderungen in schmerzleitenden, -verarbeitenden und -kontrollierenden Nervensystemanteilen nach sich ziehen kann. Es resultieren Schmerzsyndrome, die mit fortschreitender Chronifizierung neuropathische Komponenten erwerben und sich zunehmend therapieresistent gegenüber konventionellen Therapiemaßnahmen verhalten. Die erste große Herausforderung besteht darin, neuropathische Schmerzkomponenten zu erkennen, um eine adäquate Diagnostik zu veranlassen. Die zweite beinhaltet, zeitgerecht eine aussichtsreiche Therapie einzuleiten und weiterer Chronifizierung entgegenzuwirken. Allenfalls jede/r dritte Betroffene mit chronisch neuropathischen Schmerzen ist mit konservativen Therapiemaßnahmen wie medikamentöser Therapie, psycho-, physio- und ergotherapeutischer Behandlung langfristig zufriedenstellend behandelbar. Verschiedene interventionelle Ansätze haben nachgewiesen kurz-, mittel- aber auch langfristig effektive Behandlungsergebnisse gezeigt. Methoden der modernen minimalinvasiven, neuromodulativen Schmerztherapie wie die Spinal Cord Stimulation (SCS) und die Neurostimulation des Spinalganglions (DRG) stellen zusätzliche effektive Optionen dar, sowohl in Bezug auf die individuelle Schmerzlinderung, Verbesserung der Lebensqualität als auch hinsichtlich der (Folge-)Kosten.

Schlüsselwörter:
Chronischer Schmerz, neuropathischer Schmerz, Dysästhesie, Neuromodulation

Zitierweise:
Meyer C, Will C: Management neuropathischer Schmerzen. Ein erfahrungs- und evidenzbasierter
Behandlungsalgorithmus
OUP 2023; 12: 193–199
DOI 10.53180/oup.2023.0193-0199

Summary: Pain appears to be a leading symptom of many diseases. Patients suffering from chronic pain are of high risk to develop comorbidities coming along with profound personal- and social disadvantages. Knowledge and awareness about pathomechanisms leading to chronic pain, the individual and social consequences of neuropathic pain as result of chronification as well as its high prevalence of therapy resistance are still not common amoung medical professionals. In daily practice patients are either subject to medical neglect in years of suffering or over-diagnosed and -treated.
Pathophysiologically every pain condition depending on duration und intensity and independent from origin will provoke ongoing structural and functional changes in pain-conducting, -processing and -controlling parts of the nervous system. The resulting pain syndromes, which acquire neuropathic features along the chronification process, exhibit increasing resistance to conventional therapies.
To recognize neuropathic pain components, in order to initiate correct diagnostics appears to be the first challenge. The second challenge includes the timely initiation of the correct therapy, in order to prevent further chronification. Only a third of the patients suffering from chronic neuropathic pain can be treated sufficiently using conservative strategies as medicated therapy, psycho-, physio- or occupational therapy in the long run. Different interventional treatment strategies have proven to be effective on short-, middle- or long-term outcome. Modern, minimally invasive methods of neuromodulation as spinal cord stimulation (SCS) and dorsal root ganglion stimulation (DRG) represent additional and effective options for pain management regarding individual improvement of pain and quality of life as well as the entailing costs.

Keywords: Chronic pain, neuropathic pain, pain management, dysaesthesia, neuromodulation

Citation: Meyer C, Wille C: Management of neuropathic pain. An experience- and evidence-based
treatment algorithm
OUP 2023; 12: 193–199. DOI 10.53180/oup.2023.0193-0199

Carolin Meyer: Helios-Klinikum Bonn/Rhein-Sieg, Abteilung für Orthopädie, Unfall- und Wirbelsäulenchirurgie

Christian Wille: Neurochirurgische Praxis Neuss

Einleitung

Schmerzen sind Leitsymptom zahlreicher Erkrankungen. Bewusstsein und Wissen über die Pathomechanismen chronischer Schmerzverläufe, die Bedeutung neuropathischer Schmerzen als Folge einer Chronifizierung sowohl für die Patientin/den Patienten selbst als auch für die Gesellschaft und deren Therapieresistenz sind in der ärztlichen Profession weiterhin erstaunlich unterentwickelt. Dies führt in der Praxis zu Unterversorgung und jahrelangen Leidenswegen einerseits und zu ineffizienter Überdiagnostik und Übertherapie andererseits.

Als chronische Schmerzen gelten Schmerzen, die länger als 6 Monate anhalten. In Europa sind etwa 95 Millionen Menschen von chronischen Schmerzen betroffen, deutschlandweit etwa 12 Millionen Menschen. Die Prävalenz neuropathischer Schmerzen in der Gesamtpopulation beträgt 3,3–10 % [1, 2].

Laut aktueller Definition der Neuropathic Pain Special Interest Group der International Association for the Study of Pain (NeuPSIG der IASP) sind neuropathische Schmerzen die direkte Folge einer Schädigung oder Erkrankung somatosensorischer Nervenstrukturen im peripheren oder zentralen Nervensystem [3]. Entsprechend des Läsionsortes wird zwischen peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen unterschieden, wobei im chronischen Schmerzverlauf nicht selten Mischformen anzutreffen sind.

Aus pathophysiologischer Sicht gilt, dass jeder Schmerzzustand – unabhängig von der Ursache – je nach Dauer und Intensität strukturelle und funktionelle Veränderungen in schmerzleitenden, -verarbeitenden und -kontrollierenden Nervensystemanteilen nach sich ziehen kann. Diese Phänomene peripherer und zentraler Sensibilisierung werden unter dem Begriff „Wind-up“ zusammengefasst [4]. Es resultieren Schmerzsyndrome, die mit fortschreitender Chronifizierung neuropathische Komponenten erwerben und sich zunehmend therapieresistent gegenüber konventionellen Therapiemaßnahmen verhalten. Diesem Umstand wurde mit der Einführung des Mixed-Pain-Konzeptes und mit einer mehrfachen Überarbeitung der Definition und des Grading-Systems neuropathischer Schmerzen Rechnung getragen [5].

Menschen mit chronischen Schmerzen, die über Jahre hinweg als austherapiert gelten, sind erfahrungsgemäß gefährdet, Schmerz- bzw. Beruhigungsmittel mit Abhängigkeitspotenzial zu konsumieren. Es besteht ein erhebliches Komorbiditätsrisiko in Bezug auf Aggravation von Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Autoimmunkrankheiten. Zur Vermeidung sozialer Komplikationen wie Arbeitsplatzverlust und Frühberentung, die ein Vielfaches an Kosten verglichen mit tatsächlichen Behandlungskosten verursachen, sind eine stringente und zeitnahe Analyse und Versorgung der Betroffenen erforderlich.

Neuropathische Schmerzen sind häufig, nicht zuletzt aufgrund der Komplexität und Facettenreichheit unterdiagnostiziert und folglich unterbehandelt [6, 7]. Die erste große Herausforderung besteht darin, neuropathische Schmerzkomponenten zu erkennen, um eine adäquate Diagnostik zu veranlassen. Die zweite beinhaltet, eine aussichtsreiche Therapie einzuleiten und weiterer Chronifizierung entgegenzuwirken. Bei einer primären pharmakologischen Therapieresistenz von 20–40 % und nebenwirkungsbedingter Therapieabbruchraten von bis zu 30 % ist allenfalls jede/r dritte Betroffene mit chronisch neuropathischen Schmerzen mit konservativen Therapiemaßnahmen langfristig zufriedenstellend behandelbar [6, 8].

Methoden der modernen minimalinvasiven, neuromodulativen Schmerztherapie wie die Spinal Cord Stimulation (SCS) und die Neurostimulation des Spinalganglions (DRG) stellen zusätzliche effektive Optionen dar, sowohl in Bezug auf die individuelle Schmerzlinderung, Verbesserung der Lebensqualität als auch hinsichtlich der Kosten. Erfolgversprechend eingesetzt werden diese Methoden bei chronischen neuropathischen, ischämischen Schmerzen mit oder ohne sympathische Überaktivierung, wenn konservative Therapiekonzepte ausgeschöpft sind [9, 10]. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Opiat-Krise in den USA hatten neue Empfehlungen der International Neuromodulation Society (INS) zum Paradigmenwechsel aufgefordert [11]. Die Prüfung einer Indikation für neuromodulative Verfahren unter Beachtung etablierter Leitlinien sollte bei Therapieresistenz frühzeitig erfolgen. Dieser therapeutische Pragmatismus schlägt sich im nachfolgenden Algorithmus zum Vorgehen beim neuropathischen Schmerzsyndrom nieder.

Doch auch nach einer Anwendungszeit von mehr als 40 Jahren, zahlreichen technologischen Innovationen und einer deutlichen Verbesserung der Evidenzlage ist die Neuromodulation eher eine Nischenbehandlung mit geringer Therapiepenetration, begrenztem Anwenderkreis und massiven Vorbehalten seitens nicht partizipierender Therapeutinnen/Therapeuten. Trotz ausbleibender Verbesserungen der therapeutischen Effektivität im konservativen Spektrum sieht sich das neuromodulative Therapiespektrum mit fallbezogen schicksalsverändernder Effektstärke, gemessen an aktuellen Kriterien evidenzbasierter Medizin, zunehmend kritischer Bewertung ausgesetzt [12].

Eine Ausweitung des Anwenderkreises und deren Einbindung in multimodale Versorgungsstrukturen wird für eine Umsetzung eines solchen Paradigmenwechsels ebenso entscheidend sein, wie das Verhalten der Kostenträger für diese kosteneffizienten, jedoch nach wie vor kostenintensiven Therapien [13, 14].

Diagnostik neuropathischer Schmerzen

Das Erkennen eines neuropathischen Schmerzes ist Voraussetzung für eine zielgerichtete Diagnostik und adäquate Therapie. Publiziert wurden Leitlinien zur Diagnostik neuropathischer Schmerzen durch die European Federation of Neurological Societies (EFNS), durch die NEUPSIG der IASP und durch die Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) [2, 15].

Neben der Empfehlung einer ausführlichen Anamnese und einer gründlichen neurologischen Untersuchung unterscheiden alle Leitlinien Werkzeuge zum Assessment neuropathischer Schmerzen [16].

Die Anamnese soll Informationen zu Beginn und Dauer der Schmerzen, zu den zeitlichen Charakteristika, dem Schmerzcharakter und der -lokalisation ergründen. Ziel ist eine neuroanatomisch plausible Zuordnung der Symptome als Grundlage für die weitere Diagnostik. Besondere anamnestische Hinweise auf das Vorliegen neuropathischer Schmerzen sind z.B. ein Ruheschmerzmaximum, ein brennender oder elektrisierend einschießender Schmerzcharakter oder auch Angaben zu Therapieresistenz gegenüber herkömmlichen Schmerzmitteln wie NSAR. Die Konsensmeinung der DGN, dass bereits die Anamnese „ausreichend Informationen zu einer relevanten Läsion oder Erkrankung des peripheren oder zentralen somatosensorischen Systems“ zu liefern hat, um neuropathische Schmerzen zu diagnostizieren, teilen wir wie auch weitere Autoren nicht. Neuropathische Schmerzzustände sind ursächlich viel zu heterogen und gerade im Bereich der postentzündlichen Neuralgien geradezu okkult, als dass bereits in der Anamneseerhebung von betroffenen Patientinnen und Patienten diese Informationen in ausreichender Weise geliefert werden könnten. Sekundär neuropathische Schmerzen aufgrund chronischer nozizeptiver Schmerzzustände würden nach diesem Diagnostikalgorithmus nicht erfasst [5].

Die klinisch neurologische Untersuchung dient der Erfassung von somatosensorischen Symptomen, die typischerweise Folge der Läsion afferenter Leitungsbahnen sein können. Hierbei wird zwischen Negativsymptomen wie Hypästhesie und Hypalgesie und Positivsymptomen wie Spontanschmerz und evozierten Schmerzformen unterschieden (Tab. 1).

Screening-Werkzeuge in Form standardisierter Fragebögen stellen vor allem im ambulanten Versorgungsumfeld eine effiziente Möglichkeit zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens neuropathischer Schmerzen dar. Die Differenzierung in eine sichere, wahrscheinliche und unwahrscheinliche neuropathische Schmerzkomponente ermöglicht, die Indikation für eine weiterführende Diagnostik gezielter zu stellen. Validierte Fragebögen zur qualitativen und quantitativen Erfassung neuropathischer Schmerzzustände stehen mit DN4, LANSS, NPQ, NPSI und painDETECT zur Verfügung [17]. PainDetect und NPSI sind in deutscher Sprache validiert [18]. Die Fragebögen sind zur Verlaufskontrolle geeignet.

Chronifizierungsfragebögen (z.B. n. Korf oder n. Gerbershagen) bieten die Möglichkeit einen Chronifizierungsgrad abzuschätzen, der wiederum mit der Prävalenz psychischer Komorbidität, schmerzbedingter Behinderung und sozialer Beeinträchtigung korreliert [19]. Für die Therapieplanung und die Abschätzung von Erfolgsaussichten sollten diese Werkzeuge einen höheren Stellenwert in der Indikationsstellung einnehmen, da der Chronifizierungsgrad Einfluss auf das Therapieergebnis nimmt [20].

Die meisten Assessment-Tools sind Gegenstand erweiterter neurologischer und radiologischer Diagnostik und dienen der Diagnosefindung. Als Assessment-Tools werden in der DGN-Leitlinie vor allem die quantitativ-sensorische Testung (QST), die Hautbiopsie und neurophysiologische Untersuchungen mittels evozierter Potenziale genannt. Die QST untersucht mit 13 verschiedenen, standardisiert angewandten, thermischen und mechanischen Stimuli das komplette Spektrum somatosensorischer Fasern. Verschiedene neuropathische Schmerztypen bzw. Schmerzerkrankungen weisen hierbei unterschiedliche sensorische Profile auf und können subklassifiziert werden [2]. Aufgrund des erheblichen Zeitaufwandes und der erforderlichen Erfahrung in der Durchführung und Bewertung der QST jedoch spielt diese Testbatterie in der alltäglichen und vor allem ambulanten Versorgung von Patientinnen und Patienten mit neuropathischen Schmerzen aktuell keine Rolle, sondern hat eher Bedeutung bei wissenschaftlichen und gutachterlichen Fragestellungen.

Neurophysiologische Untersuchungstechniken wie die Bestimmung von sensiblen und motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG), Elektromyografie (EMG) und die Ableitung sensibler und motorischer evozierter Potenziale (sSEP, MEP) dienen dem Nachweis und der Lokalisation einer Erkrankung des somatosensorischen Systems. Dünn oder nicht myelinisierte, schmerzleitende Leitungsbahnen werden von diesen Verfahren jedoch nicht erfasst. Ein unauffälliger Befund schließt ein neuropathisches Schmerzsyndrom auf Grundlage einer somatosensorischen Läsion nicht aus. Die Ableitung evozierter Potentiale nach Stimulation dünn myelinisierter A?-Fasern wie z.B. Laser-evozierte Potenziale (LEP) bietet die Möglichkeit, diese Lücke zu verengen.

Bildgebende Verfahren wie die Kernspintomografie und nicht zuletzt die Nervensonografie dienen der Identifikation pathologischer, morphologischer Veränderungen. Entscheidend ist die gezielte Indikationsstellung, Fragestellung und Befundinterpretation.

Zusammenfassend ruht die Diagnostik neuropathischer Schmerzen im klinischen Alltag maßgeblich auf ärztlicher Kenntnis sowie einer sorgfältigen Anamnese und körperlichen Untersuchung. Validierte Fragebögen zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit neuropathischer Schmerzen sind hierbei einfache und effiziente Hilfsmittel. Apperative Diagnostik kann die Diagnosefindung stützen.

Therapie neuropathischer Schmerzen

Die Therapieoptionen neuropathischer Schmerzen sind zunächst grob in kausale kurative und symptomatische Therapien zu unterteilen. Liegt eine kausale Pathologie mit kurativer Therapierbarkeit vor, besteht die Option mit der Ursache auch die neuropathischen Schmerzen entsprechend zu behandeln. Als klassisches Beispiel hierfür sind operative Behandlungsmöglichkeiten der Nervenengpasssyndrome und Nervenwurzelkompressionssyndrome zu nennen.

Besteht keine kausale Therapieoption wie bei der Post-Zoster-Neuralgie oder war der kurative Therapieansatz erfolglos, bleibt die symptomatische Behandlung.

Aufgrund der Heterogenität neuropathischer Schmerzsyndrome und Limitierungen der Pharmakotherapie hinsichtlich Verträglichkeit und Effektivität gilt die individuell erfolgreiche Behandlung als schwierig. Die Vereinbarung realistischer Therapieziele setzt die Aufklärung über das Wesen des Schmerztyps, Therapieeffektivität und -nebenwirkungen voraus. Die Edukation der Patientin/des Patienten sollte ein essentieller Bestandteil des therapeutischen Prozesses sein. Gerade im chronischen Verlauf verhindert die Erkenntnis und Einsicht der Betroffenen, dass die Hoffnung auf eine kurative Behandlung nicht erfüllbar ist, das Risiko für Übertherapie und Überdiagnostik durch Ärztehopping und fördert Therapiemotivation und -adhärenz. Als realistische Therapieziele der konservativen, nicht interventionellen Behandlung werden Schmerzreduktion um 30–50 %, Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität, Erhaltung der Arbeitsfähigkeit und des sozialen Gefüges formuliert [22]. Regelmäßige, zeitweise auch engmaschige Kontrollen des klinischen Verlaufes mit Anpassung der Therapie sind notwendig und begründen einen aufwendigen therapeutischen Prozess, der in der aktuellen vor allem ambulanten Versorgungssituation in Deutschland leider ungenügend abgebildet ist. Insbesondere bei Änderungen des Schmerzbildes ist eine diagnostische Reevaluation unumgänglich, um neue Erkrankungen nicht zu übersehen und ggf. doch eine Schmerzursache mit kurativem Therapiepotenzial zu finden.

Vorhandene Leitlinien u.a. der DGN und der EFNS nennen als Therapieprinzip eine zentrale Pharmakotherapie, um die sich in Abhängigkeit vom Behandlungsverlauf weitere Therapiemaßnahmen im Sinne einer multimodalen, interdisziplinären Behandlung gruppieren [22]. Dem biopsychosozialen Krankheitsmodell des chronischen Schmerzes folgend, ruht die Therapie neuropathischer Schmerzen diesen Leitlinien gemäß auf 3 Säulen: Pharmakotherapie, Psychotherapie, physikalische und Ergotherapie.

Die symptomatische Therapie neuropathischer Schmerzen sollte jedoch auf 3 Säulen ruhen. Die 4. Säule beinhaltet die interventionelle Schmerztherapie, zu der maßgeblich neuromodulative Verfahren wie z.B. die epidurale Rückenmarksstimulation gehören. Sie sollte integraler Bestandteil eines effizienten Therapiealgorithmus des neuropathischen Schmerzes sein, der es nicht dem Zufall überlässt, ob der therapierefraktär Betroffene Zugang zu einer wirksamen und evidenzbasierten Therapie erhält.

Pharmakotherapie
neuropathischer Schmerzen

Die aktuellen Empfehlungen zur Pharmakotherapie sehen als Mittel der 1. Wahl die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin, trizyklische Antidepressiva wie z.B. Amitryptilin und selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wie Duloxetin als Mono- und Kombinationstherapie vor. Capsaicin- und Lidocainpflaster sowie Botox-A-Injektionen können bei peripher neuropathischen Schmerzen sinnvolle Ergänzung sein. Tabelle 2 gibt einen Überblick über Medikation, Dosierungen, häufige Nebenwirkungen und Therapieeffektivität (Tab. 2).

Während der Einsatz von Opiaten der WHO-Stufen 2 und 3 in den o.g. Leitlinien noch ubiquitär als möglich und z.T. sinnvoll angesehen wurde, zeichnet sich hier in jüngsten Publikationen ein Paradigmenwechsel ab. 2016 und 2017 erschienen Cochrane-Reviews zum Einsatz von verschiedensten Opiaten zur Behandlung neuropathischer Schmerzen mit der eindeutigen Aussage, dass für die Wirksamkeit dieser Substanzen bei neuropathischen Schmerzen keine oder wie ausschließlich im Fall des Tramadols nur sehr schwache Evidenz vorliegt [23–25]. Aktuelle Leitlinien empfehlen lediglich die kurzzeitige Behandlung. Dies steht tatsächlich in deutlichem Gegensatz zur aktuellen Verordnungspraxis in Deutschland.

Psychotherapie in der
Behandlung neuropathischer Schmerzen

Neuropathische Schmerzen mit hoher Schmerzintensität, quälendem Charakter, rascher Chronifizierung und häufiger Therapieresistenz erzeugen mit hoher Wahrscheinlichkeit psychische Komorbidität wie Depression und Angststörungen. Bei Betroffenen mit vorbestehenden Psychopathologien kommt es zur wechselseitigen Aggravation. Im stationären Setting ist die Psychotherapie essentieller Bestandteil der multimodalen Schmerztherapie, auch ambulant ist sie je nach Erkrankungsschwere und -dauer sinnvoll und indiziert, um Somatisierungsstörungen vorzubeugen oder sie zu behandeln. Insbesondere Schmerzpatientinnen/-patienten mit nicht konklusivem Befund sollten diesbezüglich exploriert werden, nicht zuletzt, da interventionelle schmerztherapeutische Maßnahmen leitliniengemäß kontraindiziert sind. Kontrollierte Studien und Metaanalysen zur Effektivität der Psychotherapie in der Behandlung neuropathischer Schmerzen fehlen. Untersuchungen zum Einsatz psychotherapeutischer Maßnahmen bei anderen chronischen schmerzhaften Erkrankungen wie Fibromyalgie und rheumatoider Arthritis zeigen langfristig eine moderate Verbesserung in Bezug auf Krankheitsbewältigung, körperliche Aktivität und Verhalten [26].

Physio- und Ergotherapie in der Therapie neuropathischer Schmerzen

Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit physiotherapeutischer und vor allem ergotherapeutischer Maßnahmen sind auf Leitlinienebene allgemein akzeptiert. Da insbesondere neuropathische Schmerzen mit einem raschen Funktionsverlust, verschärft durch Negativsymptome wie Hypästhesie und Paresen, assoziiert sind, dient dieser Therapiebereich nicht nur der Schmerzlinderung sondern auch dem Funktionserhalt bzw. der Funktionswiederherstellung. Fehlregulation und Schonhaltung sind bei neuropathischen Schmerzen Quelle für Folgeprobleme und Schmerzausbreitung. Zudem haben physiotherapeutische Interventionen wie z.B. Lymphdrainagetechniken, in bestimmten Krankheitsbildern die Potenz über die Verbesserung der Mikrozirkulation, eine Progression oder Aggravation neuropathischer Schmerzzustände zu verzögern oder aufzuhalten. Anzunehmen ist in Analogie zur Psychotherapie, dass erst eine langfristige und regelmäßige physiotherapeutische Betreuung relevante Effekte hat. Im Versorgungsalltag des deutschen Gesundheitswesens ist dieser besondere Versorgungsbedarf nicht abgebildet. Kontrollierte Studien mit Aussagen über Effektstärke und Kosteneffektivität physiotherapeutischer Maßnahmen fehlen auch hier.

Interventionelle und
neuromodulative Therapien

Das Spektrum der interventionellen Behandlungsmöglichkeiten bei neuropathischen Schmerzen ist weit gefächert und reicht von Infiltrationstherapien über läsionelle Verfahren bis zu neuromodulativen Therapien. Eine grobe Einteilung dieser Behandlungen nach zu erwartender Wirksamkeit in kurz-, mittel- und langfristig wirksame Therapien ist sinnvoll und hat Implikationen für den Stellenwert im Therapiealgorithmus (Abb. 2).

Infiltrationstherapien wie Plexusanästhesien, Stellatumblockaden, periradikuläre Infiltrationen, periphere Nervenblockaden sind als kurzwirksame Maßnahmen zur Schmerzkontrolle und unter diagnostischen Gesichtspunkten wertvoll. So kann Zeit gewonnen werden bis medikamentöse oder andere Behandlungsstrategien ihre Wirkung entfalten können. Mit Hilfe von Infiltrationen können nicht nur eine neuroanatomische Zuordnung der Schmerzafferenz ermöglicht, sondern auch die Anwendbarkeit einer neuromodulativen Therapiemaßnahme überprüft werden. Beispiele hierfür sind radikuläre Blockaden mit Lokalanästhetika zur Auswahl aussichtsreicher Interventionshöhen für die DRG.

Traditionelle läsionelle Verfahren sind als mittelfristig wirksame Verfahren zwar gegenüber neuromodulativen Interventionen deutlich in den Hintergrund getreten. Thermische Läsionen z.B. beim lumbalen Facettensyndrom, zuletzt in endoskopischer Technik oder bei bestimmten Formen der Trigeminusneuralgie haben jedoch nach wie vor einen Stellenwert in der Behandlung von anderweitig therapieresistenten Schmerzen. Auch Neurotomieprozeduren werden als Rescue-Strategien in der Gelenks- und Allgemeinchirurgie weiterhin angewendet.

Die nicht läsionelle, gepulste Radiofrequenztherapie als jüngstes interventionelles Therapieverfahren zur Behandlung neuropathischer Schmerzen mit ebenfalls mittelfristig anzunehmender Wirkdauer wird sicherlich zukünftig einen größeren Stellenwert einnehmen [27]. Grundsätzlich ähnelt das Radiofrequenzsignal dem der thermischen Läsion. Allerdings wird mit Hilfe eines hochpräzisen Temperaturfühlers eine Gewebserhitzung von mehr als 42 °C unterbunden, um die denaturierenden Effekte hoher Temperaturen und deren Komplikationen zu vermeiden. Neben dem Effekt der Erwärmung werden analog implantatgestützer Neuromodulation elektrische Feldeffekte und immun- sowie genmodulatorische Wirkmechanismen diskutiert [28]. Die Technik ist einfach und risikoarm, die Evidenzlage deutlich verbessert, so dass der andauernde Widerstand der Kostenträger in Deutschland, diese Behandlung zu vergüten, zunehmend fragwürdig erscheint.

Implantatgestützte neuromodulative Therapieverfahren stehen als potenziell langfristig wirksame Methoden in Form der peripheren Nervenstimulation, der Spinalganlienstimulation (DRG), der epiduralen Rückenmarksstimulation (SCS) und letztlich auch der Hirnstimulation zur Verfügung. Seit Einführung und Verfügbarkeit implantierbarer Impulsgeneratoren vor mehr als 50 Jahren hat insbesondere die SCS ihre Effizienz in der Therapie chronisch neuropathischer, aber auch nicht neuropathischer Schmerzen vielfach bewiesen [9]. Stellenwert, Indikationen, Voraussetzungen und Durchführung der SCS zur Therapie chronischer Schmerzen sind für das deutsche Gesundheitswesen in einer interdisziplinären S3-Leitlinie dargestellt [29]. Diese Leitlinie steht aktuell nach Überarbeitung zur Veröffentlichung an, da in den letzten 10 Jahren enorme technologische Fortschritte und eine erhebliche Diversifizierung in Bezug auf Implantate, Stimulationsparadigmen, -targets und resultierend Therapieoptionen stattgefunden haben. Die Einführung hochfrequenter Stimulationsparadigmen wie HF 10 (kontinuierliche Stimulation mit 10 KHz) oder Burst (Stimulation mit 500Hz Salven einer speziellen Waveform) hat nicht nur die Art der Implantation modifiziert, sondern vor allem auch Stimulationskomfort, Therapieeffizienz und wissenschaftliche Überprüfbarkeit verbessert [30]. Die Einführung der DRG-Stimulation hat zu einer erheblichen Verbesserung der Therapierbarkeit vor allem peripherer neuropathischer Schmerzen geführt [30].

Therapiealgorithmus

Jeder Therapiealgorithmus muss von einem diagnostischen Algorithmus begleitet werden (Abb. 1). Der diagnostische Algorithmus beinhaltet ein Assessment der Wahrscheinlichkeit neuropathischer Schmerzen (Grading), eine Erhebung zur schmerzbedingten individuellen Beeinträchtigung auf physischer, psychischer und sozialer Ebene und die Klärung der Frage zur Kausalität. Eine regelmäßige Evaluation sollte nicht nur die Effektivität therapeutischer Maßnahmen, sondern auch immer wieder die Frage nach der Kausalität beinhalten. Chronische Schmerzzustände, die vordergründig als nicht neuropathisch klassifiziert wurden, sollten vor allem bei Therapieresistenz einer Reevaluation bezüglich neuropathischer Schmerzkomponenten unterworfen werden.

Abbildung 2 stellt den empfohlenen erfahrungs- und evidenzbasierten Algorithmus zur Therapie neuropathischer Schmerzen dar. Dieser skizziert ein Ideal und ist in der aktuellen Versorgungsrealität schwierig umsetzbar. Vor allem um sozialen und psychischen Komplikationen zuvorzukommen, spielt die Zeit eine wichtige Rolle. Bei der Tiefen-Hirnstimulation (DBS) zur Therapie des Idiopathischen M. Parkinson wurde der Begriff des sekundären Therapieversagens so interpretiert, dass bei zu spätem Einsatz, wenn der Betroffene bereits zu weit im krankheitsbedingten sozialen Rückzug fortgeschritten ist, zwar die primären Therapieziele wie Verbesserung der motorischen Symptomkontrolle und Medikamentenreduktion erreicht, sekundäre Ziele wie Verbesserung der Lebensqualität jedoch verfehlt werden. Gleiches ist für chronische Schmerzpatientinnen/-patienten anzunehmen. Zu fordern ist bei Vorliegen einer der etablierten Hauptindikationen der epiduralen Rückenmarksstimulation, dass unter Ausschöpfung des konservativen, kausalen und kurz- bzw. mittelfristig wirksamen interventionellen Therapiespektrums spätestens nach 1 Jahr die Eignung geprüft und die neuromodulative Therapie angeboten wird. Wichtig ist, dass diese Patientinnen und Patienten auch nach erfolgreicher Intervention weiterhin in multimodale Versorgungsstrukturen eingebunden bleiben müssen, nicht zuletzt, da die Nachsorge entscheidend für die langfristig stabile und erfolgreiche neuromodulative Therapieführung ist.

Auch die ärztliche Zuständigkeit sollte entlang der genannten Zeitachse eine Evolution durchlaufen. Während anfänglich für erste medikamentöse Therapieversuche die Betreuung durch Haus- oder Facharzt als adäquat angesehen werden kann, sollte zwischen 6. und 12. Monat eine Schmerztherapeutin/ein Schmerztherapeut in die Behandlungskoordination einbezogen werden. Idealerweise sollten diese Schmerztherapeutinnen/Schmerztherapeuten das interventionelle und neuromodulative Therapiespektrum kennen und geeignete Patientinnen/Patienten selektieren, um eine Indikation interdisziplinär zu prüfen. Dies würde voraussetzen, dass die Schmerztherapeutin/der Schmerztherapeut entweder zur Anwenderin/zum Anwender wird oder eng mit einer Anwenderin/einem Anwender zusammenarbeitet. Aktuell dürfte dies nur für eine Minderheit der in Deutschland tätigen Schmerztherapeutinnen/Schmerztherapeuten zutreffen. Eine erfolgreiche Therapie chronischer Schmerzen und vor allem chronischer neuropathischer Schmerzen wird immer den Perspektivwechsel einer interdisziplinären Behandlung erfordern.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Christian Wille

Niederstraße 57

41460 Neuss

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