Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023
Management neuropathischer SchmerzenEin erfahrungs- und evidenzbasierter Behandlungsalgorithmus
Menschen mit chronischen Schmerzen, die über Jahre hinweg als austherapiert gelten, sind erfahrungsgemäß gefährdet, Schmerz- bzw. Beruhigungsmittel mit Abhängigkeitspotenzial zu konsumieren. Es besteht ein erhebliches Komorbiditätsrisiko in Bezug auf Aggravation von Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Autoimmunkrankheiten. Zur Vermeidung sozialer Komplikationen wie Arbeitsplatzverlust und Frühberentung, die ein Vielfaches an Kosten verglichen mit tatsächlichen Behandlungskosten verursachen, sind eine stringente und zeitnahe Analyse und Versorgung der Betroffenen erforderlich.
Neuropathische Schmerzen sind häufig, nicht zuletzt aufgrund der Komplexität und Facettenreichheit unterdiagnostiziert und folglich unterbehandelt [6, 7]. Die erste große Herausforderung besteht darin, neuropathische Schmerzkomponenten zu erkennen, um eine adäquate Diagnostik zu veranlassen. Die zweite beinhaltet, eine aussichtsreiche Therapie einzuleiten und weiterer Chronifizierung entgegenzuwirken. Bei einer primären pharmakologischen Therapieresistenz von 20–40 % und nebenwirkungsbedingter Therapieabbruchraten von bis zu 30 % ist allenfalls jede/r dritte Betroffene mit chronisch neuropathischen Schmerzen mit konservativen Therapiemaßnahmen langfristig zufriedenstellend behandelbar [6, 8].
Methoden der modernen minimalinvasiven, neuromodulativen Schmerztherapie wie die Spinal Cord Stimulation (SCS) und die Neurostimulation des Spinalganglions (DRG) stellen zusätzliche effektive Optionen dar, sowohl in Bezug auf die individuelle Schmerzlinderung, Verbesserung der Lebensqualität als auch hinsichtlich der Kosten. Erfolgversprechend eingesetzt werden diese Methoden bei chronischen neuropathischen, ischämischen Schmerzen mit oder ohne sympathische Überaktivierung, wenn konservative Therapiekonzepte ausgeschöpft sind [9, 10]. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Opiat-Krise in den USA hatten neue Empfehlungen der International Neuromodulation Society (INS) zum Paradigmenwechsel aufgefordert [11]. Die Prüfung einer Indikation für neuromodulative Verfahren unter Beachtung etablierter Leitlinien sollte bei Therapieresistenz frühzeitig erfolgen. Dieser therapeutische Pragmatismus schlägt sich im nachfolgenden Algorithmus zum Vorgehen beim neuropathischen Schmerzsyndrom nieder.
Doch auch nach einer Anwendungszeit von mehr als 40 Jahren, zahlreichen technologischen Innovationen und einer deutlichen Verbesserung der Evidenzlage ist die Neuromodulation eher eine Nischenbehandlung mit geringer Therapiepenetration, begrenztem Anwenderkreis und massiven Vorbehalten seitens nicht partizipierender Therapeutinnen/Therapeuten. Trotz ausbleibender Verbesserungen der therapeutischen Effektivität im konservativen Spektrum sieht sich das neuromodulative Therapiespektrum mit fallbezogen schicksalsverändernder Effektstärke, gemessen an aktuellen Kriterien evidenzbasierter Medizin, zunehmend kritischer Bewertung ausgesetzt [12].
Eine Ausweitung des Anwenderkreises und deren Einbindung in multimodale Versorgungsstrukturen wird für eine Umsetzung eines solchen Paradigmenwechsels ebenso entscheidend sein, wie das Verhalten der Kostenträger für diese kosteneffizienten, jedoch nach wie vor kostenintensiven Therapien [13, 14].
Diagnostik neuropathischer Schmerzen
Das Erkennen eines neuropathischen Schmerzes ist Voraussetzung für eine zielgerichtete Diagnostik und adäquate Therapie. Publiziert wurden Leitlinien zur Diagnostik neuropathischer Schmerzen durch die European Federation of Neurological Societies (EFNS), durch die NEUPSIG der IASP und durch die Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) [2, 15].
Neben der Empfehlung einer ausführlichen Anamnese und einer gründlichen neurologischen Untersuchung unterscheiden alle Leitlinien Werkzeuge zum Assessment neuropathischer Schmerzen [16].
Die Anamnese soll Informationen zu Beginn und Dauer der Schmerzen, zu den zeitlichen Charakteristika, dem Schmerzcharakter und der -lokalisation ergründen. Ziel ist eine neuroanatomisch plausible Zuordnung der Symptome als Grundlage für die weitere Diagnostik. Besondere anamnestische Hinweise auf das Vorliegen neuropathischer Schmerzen sind z.B. ein Ruheschmerzmaximum, ein brennender oder elektrisierend einschießender Schmerzcharakter oder auch Angaben zu Therapieresistenz gegenüber herkömmlichen Schmerzmitteln wie NSAR. Die Konsensmeinung der DGN, dass bereits die Anamnese „ausreichend Informationen zu einer relevanten Läsion oder Erkrankung des peripheren oder zentralen somatosensorischen Systems“ zu liefern hat, um neuropathische Schmerzen zu diagnostizieren, teilen wir wie auch weitere Autoren nicht. Neuropathische Schmerzzustände sind ursächlich viel zu heterogen und gerade im Bereich der postentzündlichen Neuralgien geradezu okkult, als dass bereits in der Anamneseerhebung von betroffenen Patientinnen und Patienten diese Informationen in ausreichender Weise geliefert werden könnten. Sekundär neuropathische Schmerzen aufgrund chronischer nozizeptiver Schmerzzustände würden nach diesem Diagnostikalgorithmus nicht erfasst [5].
Die klinisch neurologische Untersuchung dient der Erfassung von somatosensorischen Symptomen, die typischerweise Folge der Läsion afferenter Leitungsbahnen sein können. Hierbei wird zwischen Negativsymptomen wie Hypästhesie und Hypalgesie und Positivsymptomen wie Spontanschmerz und evozierten Schmerzformen unterschieden (Tab. 1).
Screening-Werkzeuge in Form standardisierter Fragebögen stellen vor allem im ambulanten Versorgungsumfeld eine effiziente Möglichkeit zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens neuropathischer Schmerzen dar. Die Differenzierung in eine sichere, wahrscheinliche und unwahrscheinliche neuropathische Schmerzkomponente ermöglicht, die Indikation für eine weiterführende Diagnostik gezielter zu stellen. Validierte Fragebögen zur qualitativen und quantitativen Erfassung neuropathischer Schmerzzustände stehen mit DN4, LANSS, NPQ, NPSI und painDETECT zur Verfügung [17]. PainDetect und NPSI sind in deutscher Sprache validiert [18]. Die Fragebögen sind zur Verlaufskontrolle geeignet.
Chronifizierungsfragebögen (z.B. n. Korf oder n. Gerbershagen) bieten die Möglichkeit einen Chronifizierungsgrad abzuschätzen, der wiederum mit der Prävalenz psychischer Komorbidität, schmerzbedingter Behinderung und sozialer Beeinträchtigung korreliert [19]. Für die Therapieplanung und die Abschätzung von Erfolgsaussichten sollten diese Werkzeuge einen höheren Stellenwert in der Indikationsstellung einnehmen, da der Chronifizierungsgrad Einfluss auf das Therapieergebnis nimmt [20].
Die meisten Assessment-Tools sind Gegenstand erweiterter neurologischer und radiologischer Diagnostik und dienen der Diagnosefindung. Als Assessment-Tools werden in der DGN-Leitlinie vor allem die quantitativ-sensorische Testung (QST), die Hautbiopsie und neurophysiologische Untersuchungen mittels evozierter Potenziale genannt. Die QST untersucht mit 13 verschiedenen, standardisiert angewandten, thermischen und mechanischen Stimuli das komplette Spektrum somatosensorischer Fasern. Verschiedene neuropathische Schmerztypen bzw. Schmerzerkrankungen weisen hierbei unterschiedliche sensorische Profile auf und können subklassifiziert werden [2]. Aufgrund des erheblichen Zeitaufwandes und der erforderlichen Erfahrung in der Durchführung und Bewertung der QST jedoch spielt diese Testbatterie in der alltäglichen und vor allem ambulanten Versorgung von Patientinnen und Patienten mit neuropathischen Schmerzen aktuell keine Rolle, sondern hat eher Bedeutung bei wissenschaftlichen und gutachterlichen Fragestellungen.