Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016

Medizinische Ökonomie und Ethik
Vortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf

Eine solche Entlassung gilt als unternehmerische Leistung. Die eingesparten Kosten fallen in letzter Instanz auf das Gemeinwesen, auf den Steuerzahler. 30-jährige Bubis der Betriebswirtschaft, auf deren Laptop es kein Programm für „soziales Kapital“ gibt, bestimmen nicht selten über Wohl und Wehe. So ökonomisiert und rationalisiert wurden und werden nicht nur Wirtschaftsbetriebe, sondern auch Universitäten, Kinderläden, Schwimmbäder, Bibliotheken – und Krankenhäuser, auch psychiatrische Kliniken, auch Alten- und Pflegeheime. Die Ökonomisierung ergreift auch das ärztliche Handeln und Denken. Und Ökonomisierung meint dabei nicht einfach Wirtschaftlichkeit, das wäre ja in Ordnung, sondern ein neues Denkprinzip und ein neues Menschenbild. Ein radikaler Ökonomismus glaubt ja, er könne auch noch aus einem Gefängnis ein Profit-Center machen. Er glaubt, dass die Summe der rationalisierten Betriebe sich zu einem wunderbaren Standort und zum Wohlstand des Gemeinwesens fügt. Es ist dies wohl ein Midas-Glaube. Midas ist das Urbild des Rationalisierers.

Midas, der König von Phrygien, wollte bekanntlich alles zu Gold machen, und wäre daran fast zugrunde gegangen. Er hatte sich, so geht die Sage, von Dionysos gewünscht, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Als Midas auf dem Heimweg einen Zweig streifte, einen Stein in die Hand nahm, Ähren pflückte, wurden Zweig, Stein und Ähren zu reinem Gold. Das gleiche geschah mit dem Brot, wenn er sich an den gedeckten Tisch setzte. Auch die Getränke und das mit Wein vermischte Wasser, das er sich in den Hals goss, wurde zu Gold. Midas lief Gefahr, vor Hunger und Durst zu sterben, sodass er schließlich Dionysos bat, ihn von dieser verhängnisvollen Gabe zu befreien. Der Gott befreite Midas durch ein Bad in einer Quelle, die seither Goldsand führt.

Unsere Gesellschaft braucht solche befreienden Bäder. Sie berauschte sich zu lange daran, alles zu Gold zu machen –und tut das manchmal immer noch: Sie privatisiert die Wasserversorgung, sie privatisiert das Schul- und Bildungswesen, sie vermarktet die Gene von Pflanzen, Tieren und Menschen. Dabei fehlt die Erkenntnis, die Midas gerade noch rechtzeitig hatte. Diese Erkenntnis lautet: Man kann am eigenen Erfolg auch krepieren. Der Unterschied zwischen Midas und dem radikalen Ökonomismus ist allerdings der, dass an der Sucht des letzteren erst einmal die anderen krepieren – die eingesparten Arbeitskräfte, die Freigesetzten, die Entlassenen, die nutzlos Gemachten. Später leiden dann womöglich auch diejenigen, die man Kunden nennt. Neuerdings nennt man auch in den Krankenhäusern die Patienten immer öfter Kunden.

Der Staat sucht angesichts der gewaltigen Schulden der öffentlichen Hand sein Heil in der Privatisierung seiner Unternehmungen. Er lässt sich, wenn es etwa um die Deutsche Bahn geht, nicht davon irritieren, dass die British Rail seit ihrer Privatisierung immer häufiger neben den Gleisen fährt und die Briten sich dringend die Rückverstaatlichung wünschen. Nicht von ungefähr ereignete sich der große Blackout bei der Londoner U-Bahn etwa eineinhalb Jahre nach der Privatisierung von deren Stromversorgung. Über den letztlich gescheiterten Börsengang der Deutschen Bahn gab es immerhin große Debatten in der Öffentlichkeit. Vergleichbare Debatten hat es darüber, dass Krankenhäuser an der Börse notiert sind, nie gegeben. Was zählt mehr, wenn Krankenhäuser an der Börse notiert sind: Die Bedürfnisse des Shareholders oder die der Patienten? Der dann doch gescheiterte Drang an die Börse hat der Deutschen Bahn nicht gut getan: Die Renditeversprechen, mit denen Investoren angelockt werden sollten, wurden teuer erkauft; Personal wurde entlassen, Ausbesserungswerke wurden geschlossen, Prüfintervalle gestreckt – zum Schaden des Produkts und auf Kosten des Vertrauens der Kunden. Das einstige Vorzeigeunternehmen Bahn ist mittlerweile eher zum Symbol von Unzuverlässigkeit geworden.

„Pflege und Krankheit sind nicht börsen- und renditefähig“, sagt der Münchner Pflegekritiker Claus Fussek. Die Praxis lehrt aber anderes: Private Klinikketten sind an der Börse notiert und machen respektable Gewinne. Die deutsche Krankenhauslandschaft ist im Umbruch. Ländern und Kommunen fehlt das Geld für Investitionen. Zahlreiche kommunale Kliniken kommen aus den roten Zahlen nicht mehr heraus. Viele Dutzend Häuser wurden in den vergangenen Jahren geschlossen. Länder und Kommunen sehen angesichts ihrer leeren Kassen in der Privatisierung ihre letzte Rettung, manche Kliniken werden zu Dumpingpreisen verkauft. Die Fragen liegen auf der Hand: Wird in der Folge das Behandlungsspektrum eingeschränkt, nicht insgesamt, aber für langwierige, teure Krankheiten? Sind die Notarztdienste rund um die Uhr in Gefahr? Die Aktionäre wollen ja Geld sehen. Wo bleibt die Daseinsvorsorge, zu der der Staat verpflichtet ist, wenn Angebot, Nachfrage und Rentabilität angepasst wird? Wo bleiben Arme, Alte und chronisch Kranke?

Nun muss man nicht so tun, als ob bis gestern das Gesundheitswesen nur von bedürfnislosen Samaritern bevölkert gewesen sei und als ob soeben eine feindliche Übernahme durch Leute stattgefunden haben, die mit ihrem schweren Geldbeutel auf Kranke werfen. Natürlich ist im Gesundheitswesen auch immer verdient worden – vielleicht von anderen Leuten als heute, und vielleicht mit anderen Methoden als heute. Die Grundregeln der medizinischen Betriebswirtschaft haben auch gestern und vorgestern schon gegolten: Danach gibt es zwei unerwünschte Zustände: Erstens die Gesundheit und zweitens den Tod. Am gesunden Menschen kann man nämlich noch nicht richtig verdienen und am toten Menschen verdient man gar nichts mehr. Nur ein kranker Kunde ist also ein guter Kunde. Diese Erkenntnis hat zum „Triumph der Medizin“ geführt. Unter dem Titel „Knock oder Triumph der Medizin“ kam 1923 in Paris ein Theaterstück des französischen Schriftstellers Jules Romains auf die Bühne.

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