Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016

Medizinische Ökonomie und Ethik
Vortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf

Soweit das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss des Ersten Senats vom 20. März 2001 (1BvR 491/96, zur Altersbeschränkung für Kassenärzte). Das ist, knapp und leidenschaftslos, die Beschreibung des Ist-Zustandes des deutschen Gesundheitssystems durch das höchste Gericht. Dank medizinischer Erfolge leben die Menschen heute deutlich länger, und selbst wenn sie schwer krank werden, bedeutet das noch lange nicht, dass sie bald sterben werden. Zwischen der Krankheit, der Morbidität , und der Sterblichkeit, der Mortalität, liegt heute ein viel weiteres Lebensfeld als vor 100 Jahren.

Seit Jahrzehnten reiht sich daher eine Gesundheitsreform an die andere. Es geht um Kosteneindämmung. Kostentreibend neben dem medizinischen Fortschritt , teurer Technik und längerer Lebensdauer der Menschen ist insbesondere die Struktur des Gesundheitswesens mit einem Dschungel an Institutionen, einer Unzahl an privaten und gesetzlichen Krankenkassen (da ist die KV, das sind die Gemeinsamen Ausschüsse, die niedergelassenen Kassenärzte, da sind die Labore, Heilberufe, Kliniken, die Pharmaindustrie, die Apotheken. Alle sind kompetenzmäßig aneinander gebunden, rechnen ab, konkurrieren miteinander und kontrollieren einander.) Bisherige Rezepte: Verdienstbeschneidungen durch Kappungen, Leistungskürzungen, Privatisierung einzelner Kosten durch Selbstzahlung. All dies ist schon gemacht worden – und den Fortgang der Versuche und Experimente samt der Diskussionen darüber können Sie täglich in den Zeitungen und Nachrichtensendungen verfolgen.

Seit 2003 erfolgt in Deutschland die Abrechnung stationärer Krankenhausleistungen nicht mehr wie früher über den Krankenhaustagessatz, sondern über diese für die jeweilige Erkrankung des Patienten bundesweit festgelegte Fallpauschale. Man unterscheidet daher heute immer mehr zwischen Erkrankungen, mit denen man als Klinik Geld verdienen kann und solchen, mit denen man Verluste macht.

US-amerikanische Gesundheitsmanager in ihrer schnoddrigen Art unterscheiden zwischen Kranken als „cash cows“ und Kranken als „poor dogs“. „Cash cows“, also Melkkühe – das sind Patienten mit Krankheiten, bei denen ein Krankenhaus Gewinne macht, bei denen technisch aufwändige Maßnahmen notwendig sind: beispielsweise Hüft- und Kniegelenkoperationen, Nieren- und Knochenmarktransplantationen. Und „poor dogs“ – da sind Patienten, mit denen eine Klinik kein Geld verdienen kann, mit denen sie womöglich draufzahlt. Zu den „poor dogs“ zählen alte Patienten, Patienten mit vielen Krankheiten, chronische Kranke, Patienten, die sich wund gelegen haben oder Rheumatiker.

Was wird aus den Heilberufen, was wird aus Krankenhäusern, wenn die Krankenhaus-Verwaltungen solche Unterscheidungen zur Vorgabe machen? Es gibt natürlich auch Mittel und Möglichkeiten, auch aus einigen „poor dogs“ noch „cash cows“ zu machen – durch radikale Veränderung der Zeitabläufe in der Klinik: Weil Zeit Geld ist, muss einfach alles schneller gehen, die Arbeit wird verdichtet, die Liegezeiten werden verkürzt (was bei einem jungen Patienten sinnvoll, bei einem älteren dagegen fatal sein kann). Ein Beispiel: ein Patient mit einer Lungenentzündung ist, wenn er eine oder zwei Wochen im Krankenhaus liegt, nach der Fallpauschalentlohnung ein poor dog; bei einem stationären Aufenthalt von nur drei Tagen kann aus ihm eine lukrative cash cow werden.

Neulich war ich zu Gast bei einer alten Dame, deren Sohn aus den USA zu Besuch war. Wir kamen über die Gesundheitsversorgung hier und dort ins Gespräch. Der Sohn erzählte von einer befreundeten Frau, die er morgens zur Brustamputation ins Krankenhaus gefahren und sie nachmittags um 15 Uhr abgeholt habe – mit Schläuchen für den Lymph- und Butabfluss. Sie habe dann drei Tage im Hotel, in dem er arbeitete, gewohnt – und er habe sich um sie gekümmert.

Sind das die Zustände, die auf uns zukommen? Ich frage mich: Werden die Ärzte dem Druck standhalten, der durch so ein kommerzialisiertes Gesundheitssystem auf sie ausgeübt wird? Dieser Druck ist erfinderisch. In zahlreichen privaten Krankenhäusern werden sogenannte Chefarzt-Boni-Verträge abgeschlossen, wie wir sie aus der Finanz- und Bankenwelt kennen- und fürchten gelernt haben. Bei diesen Verträgen erhält der Chefarzt am Jahresende ein Extra-Honorar, wenn er auf eine bestimmte Zahl von besonders profitablen Leistungen kommt – dazu zählen die schon genannten Implantationen von Prothesen oder auch Herzkatheteruntersuchungen. Kommt es eines Tages so weit, dass die Patienten hinter individuellen ärztlichen Maßnahmen geldgesteuerte Handlungsanweisungen vermuten können?

Vor kurzem habe ich folgende Begebenheit erzählt bekommen: Zum Jahresende wurde der Chefarzt eines privaten Krankenhauses von seinem kaufmännischen Direktor über das Jahresergebnis infomiert. „Lieber Professor“, begann der Direktor, „bei 70 Prozent der Patienten konnten wir nach Einführung des Pauschalensystems einen Gewinn erzielen; bei 30 Prozent haben wir jedoch deutlich rote Zahlen geschrieben. Ich freue mich, dass wir trotzdem insgesamt ein kleines Plus erwirtschaftet haben“. Auf dem Gesicht des Chefarztes machte sich Erleichterung breit. Doch dann fuhr der kaufmännische Direktor fort: „Bevor Sie nun wieder gehen, lieber Herr Professor, habe ich noch eine kleine Frage: „Nennen Sie mir doch bitte ein wirtschaftliches Argument, warum ich jene 30 Prozent Verlust-Patienten – wir beide wissen, welche Krankheiten sie haben – im neuen Jahr noch aufnehmen und behandeln soll.“ Zunächst etwas irritiert aber dann sehr bestimmt antwortete der Chefarzt: „Das wirtschaftliche Argument bin ich! In dem Augenblick, in dem Sie das machen, kündige ich sofort“. Das war eine respektable, eine wunderbare, eine mutige Antwort.

Eine ganz andere Reaktion kenne ich von einem katholischen Krankenhaus in Mittelhessen. Dort weigerte sich der leitende Chirurg, allgemein-notfallchirurgische Patienten aufzunehmen – keine Verkehrsunfälle, keine Knochenbrüche etc. Er wollte sich nur noch auf Hüft- und Kniegelenkprothesen beschränken. So geschah es auch. Das Krankenhaus prosperierte nach wenigen Monaten, wurde höchst rentabel, konnte expandieren.

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