Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Multimodale Komplex- behandlung des Bewegungssystems im ANOA-Konzept
Spezifische Differentialdiagnostik und befundegerechte Therapie von chronischen Rückenschmerzen

Besonders schwierig ist die Differenzierung altersentsprechender Normalbefunde gegenüber relevanten Pathologien. Beispielsweise liegt die Prävalenz der Facettengelenksarthrose ab dem 70. Lebensjahr bei 100 % [3]. Die Punktprävalenz von Rückenschmerzen liegt in dieser Altersgruppe bei ca. 47 % bei Frauen und ca. 37 % bei Männern [17]. Auch die klinische Erfahrung zeigt, dass der Kausalzusammenhang zwischen der Facettengelenksarthrose und Rückenschmerzen nur teilweise herzustellen ist.

Neben der Ausbildung überlastungsbedingter Strukturschädigungen führt auch die Nichtbenutzung von Teilen des Bewegungssystems zu strukturellen Veränderungen. Ein häufiger Befund bei chronischen Rückenschmerzen ist die fettige Atrophie der Mm. Multifidi (Abb. 2). Dieser Befund ist Ursache und Folge von Defiziten der Wirbelsäulenstabilisation. Es kommt beispielsweise zur Ausbildung von Triggerpunkten in den verbliebenen aktiven und damit überlasteten Muskelanteilen und zu Defiziten in der Propriozeption, einer wichtigen Funktion dieser Muskeln. Kompensatorisch übernehmen die langen Rückenstrecker vermehrt Haltearbeit. Das Resultat sind Verspannung, Triggerpunkte, zunehmende Dysbalance durch Antagonistenhemmung und weitere Dekonditionierung durch Schmerzvermeidungsverhalten.

Grundlegende Funktionsstörungen sind an der Entwicklung von Strukturpathologien, beispielsweise der Osteochondrose, der Facettengelenksarthrose oder des Bandscheibenprolaps, maßgeblich beteiligt. Einzelfunktionsstörungen als Folge grundlegender Funktionsstörungen sind rückwirkend für deren Aufrechterhaltung relevant und spielen dadurch mittelbar ebenfalls eine Rolle für die Entwicklung der Strukturpathologie. Wir finden komplexe Zusammenhänge also innerhalb und zwischen und den beteiligten Befundebenen.

Die große individuelle Vielfalt der klinischen Befunde beim Symptom chronischer Rückenschmerz ergibt sich aus deren vielen möglichen Wechselbeziehungen. Die klinische Exazerbation als Zeichen der Dekompensation des Systems kann nicht nur auf jeder der Befundebenen ausgelöst werden, sondern bei demselben Patienten zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf verschiedenen Befunden beruhen.

Die der klinischen Untersuchung zugänglichen Defizite der Haltungs- und Bewegungskontrolle, erkennbar durch gestörte Bewegungsmuster, können ihre Ursachen sowohl auf der Ebene der Strukturpathologie, der Funktionspathologie aber auch der Neurologie haben. Sie alle müssen in die Diagnostik einbezogen werden.

Diagnostik und spezifische Differentialdiagnostik

„Vor die Therapie setzten die Götter die Diagnose“ [20]. Rückenschmerzen sind als ICD-10-Diagnosen unter M54 abgebildet. Der Patient kommt also mit einem Symptom zum Arzt, das als Diagnose verschlüsselt wird, obwohl sich dahinter aus Sicht der Pathogenese und der therapeutischen Optionen sehr heterogene Erkrankungen verbergen. Die notwendige Diagnostik setzt sich aus der neuroorthopädischen Strukturdiagnostik, der manualmedizinischen Funktionsdiagnostik, einer speziellen Schmerzdiagnostik, psychologischen Diagnostik und apparativen Funktionsdiagnostik zusammen. Gezielten klinischen und apparativen Untersuchungen liegt die fachübergreifende Anamnese zugrunde. Ausgehend von der Symptomatik ist analytisch vorzugehen, wobei für einen Teil der Erkrankungen typische klinische Bilder vorkommen.

Anamnese

Aus der Schmerzanamnese lässt sich bereits der größte Teil der nötigen Informationen gewinnen, um die weitere Diagnostik möglichst effizient und zielgerichtet durchführen zu können. Allein aufgrund der schlechten Korrelation zwischen den morphologischen Befunden und der Symptomatik [3], ist es notwendig, ausreichend Zeit und Aufmerksamkeit in die Anamnese zu investieren. Folgende Informationen sind zu erfassen:

  • 1. Schmerzlokalisation

lokaler Schmerz

multilokulärer oder weit verbreiteter Schmerz

ausstrahlender oder übertragener Schmerz (radikulär, nicht- bzw. pseudoradikulär, peripherer Nerv)

  • 2. Schmerzqualität

Nozizeptorschmerz

neuropathischer Schmerz

zentraler Schmerz

  • 3. Schmerzdauer und -verlauf
  • 4. Schmerzschilderung

sensorisch

affektiv

  • 5. Einschränkungen

Mobilität, Gehstrecke (Claudicatio spinalis oder intermittens)

Selbstversorgung und Alltag

Sport und Freizeit

Arbeit

  • 6. Schmerzauslöser (spontan oder provozierbare)

Trauma

bestimmte Bewegungen oder Haltungen

körperliche Belastungen

Stress, berufliche oder familiäre Situation

  • 7. Schmerzlinderung, bisherige Therapie und deren Effekte

Analgetika

Physiotherapie (hilfreich und andauernd?)

interventionelle Therapie oder Operationen

körperliche Entlastung, Schonung, Vermeidung

Bewegung, Aktivität

Ablenkung oder bestimmte Situationen

  • 8. Risikofaktoren für die Schmerzchronifizierung (yellow flags) [11]

Probleme am Arbeitsplatz

Konflikte in der Familie

Neuroorthopädische
Strukturdiagnostik

Dieser Teil der Diagnostik dient der Beurteilung struktureller Pathologien des Bewegungssystems. Die nötigen Informationen stammen aus der Anamnese, der klinischen Untersuchung, den vorliegenden und neu anzufertigenden bildgebenden und weiteren apparativen Befunden.

Ergebnisse der Strukturdiagnostik:

vordringliche Therapieindikationen bei „red flags“ [17]

therapierelevante Strukturbefunde und

körperliche Ressourcen und Einschränkungen für die Komplextherapie

Manualmedizinische
Funktionsdiagnostik

Die funktionelle/manualmedizinische Untersuchung gibt Aufschluss über Einschränkungen der Beweglichkeit, Defizite der Haltung und Bewegung (Koordination und Stabilisation) über symptomatische Funktionsstörungen des Bewegungssystems und reflektorische Veränderungen. Eine adäquate Untersuchung erfordert neben den gängigen orthopädischen Tests auf Strukturpathologien manualmedizinische Grundkenntnisse und -fertigkeiten zur Erfassung der Funktionsstörungen des Bewegungssystems.

Häufig besteht keine klare Bindung der orientierenden Funktionsuntersuchungen zur Struktur- oder Funktionspathologie, da diese gleichzeitig bestehen und sich gegenseitig bedingen können. So kann eine Störung der Beweglichkeit in einem Wirbelsäulenabschnitt sowohl durch eine Strukturpathologie (z.B. Osteochondrose, Facettengelenksarthrose) als auch durch eine Funktionspathologie (z.B. Muskelverspannung, Gelenkblockierung) erklärt werden. Dieser Umstand erklärt auch, warum morphologische Befunde einer Symptomatik vorschnell zugeordnet werden, wenn der Fokus nicht auch auf die funktionellen Befunde gerichtet wird.

Die manualmedizinische Funktionsdiagnostik erfolgt als Stufendiagnostik. Einer global orientierenden Untersuchung mit Inspektion der Haltung und der Bewegungsabläufe, der Suche nach Spannungsphänomenen von Muskulatur und Bindegeweben sowie reflektorisch-algetischen Krankheitszeichen folgt die regional orientierende Untersuchung, die wiederum durch eine begrenzte Zahl an gezielten Untersuchungen ergänzt wird [8]. Während auffällige Befunde in der orientierenden Untersuchung einer weiteren Differenzierung bedürfen, schließt ein regelrechter Bewegungsablauf und eine normale Beweglichkeit ohne Symptomauslösung eine relevante Pathologie sowohl der Struktur als auch der Funktion (grundlegende oder sekundäre Funktionsstörungen) im untersuchten Bereich aus. Am Ende dieser diagnostischen Kaskade lassen sich jene Befunde identifizieren, die

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5