Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Multimodale Komplex- behandlung des Bewegungssystems im ANOA-Konzept
Spezifische Differentialdiagnostik und befundegerechte Therapie von chronischen Rückenschmerzen

gezielt manualmedizinisch/ manualtherapeutisch behandelt werden müssen

einer krankengymnastisch übenden Behandlung bedürfen

weitere Diagnostik erfordern.

Manualmedizinische Funktionsdiagnostik bedeutet auch die Probebehandlung auffälliger Einzelbefunde mit der Frage der therapeutischen Beeinflussbarkeit. Im Verlauf der Komplextherapie dient die manualmedizinische Untersuchung des Patienten während der ärztlichen Einzeltermine der Überprüfung der Therapieeffekte und der Anpassung des Therapieprogrammes. Auch in den interdisziplinären Teambesprechungen werden die Befunde der verschiedenen Berufsgruppen gegeneinander abgeglichen.

Weitere ärztliche Diagnostik

Zu einer befundgerechten Therapie gehört nicht nur die Orientierung auf die zu behandelnden Befunde, sondern auch der Blick auf die Prognose. Neben der adäquaten Auswahl der Therapieverfahren sind die Beachtung der Ressourcenlage des Patienten und eine Abschätzung von Risiken erforderlich. Da die zu übenden Verfahren und deren regelmäßige Umsetzung in der Häuslichkeit als Voraussetzung für nachhaltige Therapieeffekte anzusehen sind, müssen adäquate sprachliche und kognitive Fähigkeiten des Patienten und eine gewisse Mobilität gegeben sein.

Bei zunehmendem Altersdurchschnitt der Bevölkerung nehmen Polymorbidität und Polymedikation zu. Vor Beginn einer Komplextherapie ist daher die Erhebung internistischer, neurologischer und dermatologischer Befunde mit Blick auf die kardiopulmonale Belastbarkeit sowie eventuelle Risiken oder Kontraindikationen für therapeutische Maßnahmen (Physio- und Trainingstherapie, medikamentöse oder interventionelle Therapie) notwendig.

Psychologische Diagnostik

Die Psychodiagnostik stellt einen wesentlichen Baustein der interdisziplinären Diagnostik dar. Neben prädisponierenden und auslösenden Bedingungen werden aufrechterhaltende psychosoziale Einflussfaktoren eruiert und im Rahmen der interdisziplinären Teambesprechung zu den erhobenen somatischen Befunden in Beziehung gesetzt und gewichtet. Im interdisziplinären Diagnostik-Setting ist die psychologische Diagnostik neben der somatischen Diagnostik die Voraussetzung, um über die Therapiestrategie (therapeutische Pfade) zu entscheiden.

In der multimodalen Komplextherapie des Bewegungssystems sind psychotherapeutische Anteile enthalten, die Behandlung der somatischen Befunde steht jedoch im Vordergrund.

Die multimodale Schmerztherapie ist hingegen stärker auf die psychosozialen Krankheitsaspekte und/oder die neurophysiologischen Schmerzchronifizierung ausgerichtet. Relevante somatische Befunde sind aber auch hier zu behandeln.

Spezielle Schmerzdiagnostik

Der Deutsche Schmerzfragebogen [5] enthält außer den visuellen Analogskalen für die aktuelle, durchschnittliche und maximale Schmerzstärke eine Vielzahl valider Scores mit Bezug auf den Schmerz, die psychischen und sozialen Faktoren sowie die Beeinträchtigung, aber auch die Medikamentenanamnese und bisherige Therapie. Die Informationen sind bereits im Anamnesegespräch sehr nützlich. Daher sollte der Patient den Fragebogen bereits im Vorfeld mit ausreichend Zeit und ggf. Hilfe ausgefüllt haben. Ein weiterer Nutzen der standardisierten Fragebögen ist die Möglichkeit einer Folgeerhebung am Ende der Behandlung oder im weiteren Verlauf.

Apparative Funktionsdiagnostik

Die apparative Funktionsdiagnostik wird unter der Zielsetzung durchgeführt, weitere Informationen über Funktionszusammenhänge zu erhalten. Im Kontext zu chronischen Rückenschmerzen werden insbesondere Untersuchungsverfahren zur Beurteilung der Haltungs- und Bewegungskontrolle sowie anderer Funktionen des Bewegungssystems wie z.B. Kraft, Ausdauer, Koordination oder Sturzgefährdung genutzt. Geeignet sind beispielsweise die videogestützte Bewegungsanalyse, Posturographie, computergestützte Bewegungs- oder Kraftmessung, neurophysiologische Messungen oder Bildgebung unter funktionellen Gesichtspunkten. Quantifizierbare Parameter sind für die Therapiekontrolle im Verlauf nutzbar.

Einordnung und Wertung von Befunden und die pathogenetische Aktualitätsdiagnose – Voraussetzung für eine
befundgerechte Therapie

Für die Ableitung adäquater therapeutischer Entscheidungen reicht das Erheben und Benennen von Befunden nicht aus. Die Relevanz der erhobenen Befunde für die Symptomatik selbst, für deren Entstehung und Aufrechterhaltung ist entscheidend dafür, ob sie therapeutisch in den Fokus gerückt werden müssen oder nicht. Darin unterscheidet sich eine befundgerechte von einer polypragmatischen Therapie. Die Wertung der Befunde im Gesamtkontext erfolgt im Rahmen einer interdisziplinären Teambesprechung (Tab. 2).

Jede einzelne Befundebene wird durch einen Score bewertet. Neben der Ausprägung der Befunde fließt insbesondere deren Bedeutung für das klinische Bild in die Bewertung ein. Ein Score von 0 (keine relevanten Befunde) zieht keine therapeutische Konsequenz nach sich. Befundebenen, die mit 1 (geringer Einfluss) scoren, können begleitend therapiert werden. Ein Score von 2 (mittelgradiger Einfluss) oder 3 (bedeutsamer Einfluss) weisen auf eine klare Behandlungsindikation hin.

Aus der Bewertung der Befunde ergibt sich die pathogenetische Aktualitätsdiagnose [9] als Basis einer befundgerechten Therapie. Relevant sind Befunde, die:

symptomatische Funktionsstörungen verursachen können

selbst symptomatisch sind

zur aktuellen Dekompensation beigetragen haben

Strukturpathologien begünstigen können

Das Befundsystem [14] macht die relevanten Befunde deutlich. Ob daraus eine therapeutische Intervention resultiert, hängt allerdings von weiteren Überlegungen ab. In die Entscheidungsfindung muss einbezogen werden, ob eine therapeutische Intervention eine Aussicht auf Erfolg hat, wie das Verhältnis von Nutzen und Risiko ist und welche Therapiealternativen es gibt. Der Wille des Patienten ist in die therapeutische Strategie ebenfalls einzubeziehen.

Eine therapeutische Zurückhaltung besonders auf der Strukturebene kann auch beim Vorliegen relevanter Befunde sinnvoll sein, wenn der therapeutische Einfluss auf einer anderen Ebene im Rahmen der Aktualitätsdiagnose ebenfalls aussichtsreich ist.

Schließlich ist zu bedenken, welche Befunde vorrangig behandelt werden müssen, um die Voraussetzungen für weitere therapeutische Schritte zu schaffen (s.u.).

Therapie

Das wichtigste Ziel der Behandlung besteht darin, die Patienten dabei zu unterstützen, selbst wirksam zu werden und durch aktive Veränderungen des alltäglichen Verhaltens nachhaltig Einfluss auf Schmerz und Einschränkungen bzw. Einschränkungserleben zu gewinnen (Selbstwirksamkeit). Alle therapeutischen Maßnahmen sind auf dieses Ziel ausgerichtet. Abhängig von den erhobenen Befunden kommt ein individuell an die Befunde angepasster Therapiekomplex zur Anwendung. Darin unterscheidet sich die befundgerechte Komplexbehandlung grundlegend von einem polypragmatischen Ansatz [16].

Differenzierung von
Subgruppen und Behandlung in klinischen Pfaden

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