Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Nicht spezifischer Rückenschmerz oder spezifische Subgruppenbildung?
Diskussion einer Modellbildung

Kay Niemier

Zusammenfassung:
Aktuell existieren 2 Sorten von Rückenschmerzen, spezifischer und nicht spezifischer.
Auf dieser Grundlage werden Versorgungsleitlinien entwickelt, Studien durchgeführt und Patienten behandelt. Die Ergebnisse sind wie der Rückenschmerz nicht spezifisch bzw. schlecht.

Das Bewegungssystem ist ein funktionelles System und dient in der Interaktion mit anderen Systemen der Bedürfnisbefriedigung. Auf der Grundlage des funktionellen Systems des Verhaltens nach Anochin lässt sich ein funktionelles Modell zum biopsychosozialen Verständnis von Rückenschmerzen entwickeln. Pathomorphologische, funktionelle, psychosoziale und neurophysiologische Aspekte der Entwicklung und Chronifizierung von Rückenschmerzen
fließen hier ein und bilden die Grundlage für eine spezifische Subgruppeneinteilung.

Die multimodale Komplextherapie des Bewegungssystems nach dem ANOA-Konzept behandelt spezifisch Patienten, bei denen die Funktionsstörungen des Bewegungssystems der zentrale Faktor in der Pathogenese sind. Für diese Subgruppe von Patienten konnten gute und nachhaltige Behandlungsergebnisse dargestellt werden.

Schlüsselwörter:
Rückenschmerz, Funktionsstörungen, Funktionelles System, Subgruppen, ANOA-Konzept

Zitierweise:
Niemier K: Nicht spezifischer Rückenschmerz oder spezifische Subgruppenbildung?
Diskussion einer Modellbildung. OUP 2020; 9: 285–292 DOI 10.3238/oup.2020.0285–0292

Summary: Up till now, there are only 2 types of low back pain, specific and non-specific. On this basis, clinical guidelines were developed, studies undertaken and patients treated. The results are, like the low back pain somewhat non-specific, if not to say poor.
The loco-motor-system is a functional system with the aim to satisfy needs. On the basis of the functional model of behavior (Anochin) it is possible to develop a bio-psycho-social understanding of low back pain. Pathormophological and psychosocial findings, somatic dysfunctions as well as neurophysiological aspects are included and are a sound basis to classify subgroups.
The complex treatment of the loco-motor-system according to the ANOA-concept treats patients with somatic dysfunction as the central problem. Positive results of this approach were demonstrated.

Keywords: low back pain, somatic dysfunction, functional system, subgroups, non-specific, ANOA-concept

Citation: Niemier K: Non specific low back pain or specific subgroups? Discussion of a new model.
OUP 2020; 9: 285–292 DOI 10.3238/oup.2020.0285–0292

Westmecklenburg Klinikum Helene von Bülow, Krankenhaus Hagenow

Einführung

Die Klassifikation von Rückenschmerzen in spezifische und nicht spezifische Schmerzen ist über 20 Jahre alt. Ausgangspunkt dieser Klassifikation waren Studien, die zeigten, dass nur eine Minderheit von Rückenschmerzen pathomorphologisch definierten Erkrankungen zuzuordnen ist (Tab. 1) [12].

Inwiefern diese als spezifisch bezeichneten Schmerzen wirklich auf die dargestellten pathomorphologischen Befunde zurückzuführen sind, ist zu hinterfragen. Klinisch sind z.B. osteoporotische Wirbelkörperfrakturen oft nicht schmerzhaft bzw. Schmerzen entstehen erst aufgrund sekundärer Funktionsstörungen. Das gleiche gilt für andere Erkrankungen bzw. Befunde (Abb. 1).

Befunde aus der funktionellen oder psychosomatischen Medizin bzw. neurophysiologische Veränderungen der Schmerzmodulation werden in das System spezifisch/nicht spezifisch hinsichtlich ihrer Spezifik bzw. in ihren Interaktionen als Ursache für Schmerzen nicht integriert. Es werden alle nicht (eindeutig) pathomorphologisch zuordenbaren Rückenschmerzen als nicht spezifisch klassifiziert. Bis heute existiert kein reliables und valides Klassifikationssystem für die nicht spezifischen Rückenschmerzen [24]. Zur Problematik, die Chronifizierung von Rückenschmerzen weder reliabel noch valide zu bestimmen zu können, tritt damit das differentialdiagnostische Problem der nicht einzuordnenden Befunde bzw. Befundkonstellationen. Auf dieser Grundlage sind weder valide epidemiologische [40] noch klinische Studien möglich.

Für die Klassifikation spezifisch/nicht spezifisch selbst existieren nach Kenntnis des Autors keine Daten zur Reliabilität oder Validität. Die Klassifikation kann als ein (weithin) akzeptierter, wenn auch umstrittener Expertenkonsens, jedoch nicht als ein wissenschaftlich etabliertes Instrument angesehen werden. Trotzdem wurden auf dieser Grundlage in Deutschland eine Nationale Versorgungsleitlinie zum nicht spezifischen Kreuzschmerz (NVL) und eine S2K-Leitlinie zum spezifischen Rückenschmerz erstellt [21, 23]. In der NVL Kreuzschmerz wird die Einteilung spezifisch/nicht spezifisch nicht diskutiert, sondern als gegeben angenommen. Es erfolgt keine Wichtung der Evidenz hinsichtlich der Grundannahme der Leitlinie. Die S2K-Leitlinie spezifischer Rückenschmerz kontrakariert die Klassifikation vollends. War ein ursprüngliches Ziel der Klassifikation spezifisch/nicht spezifisch die Schärfung des Bewusstseins für die Schwierigkeit die Mehrzahl der Rückenschmerzen mit der herkömmlichen Diagnostik und Therapie zu erfassen, werden in der S2K-Leitlinie Einzelbefunde (z.B. Blockierung, Fazettenarthrose) wider besseres Wissen zu spezifischen Schmerzursachen.

Interpretiert man die Klassifikation spezifisch/nicht spezifisch positiv, ist sie ein (gescheiterter) Versuch, mit monokausalen Erklärungsmodellen und resultierenden Diagnostik- sowie Therapieansätzen aufzuräumen. Die Mehrzahl der Schmerzen des Bewegungssystems lassen sich nicht durch eine bildmorphologisch sichtbare Diagnose erklären. Vielmehr ist bei der absoluten Mehrzahl, auch bei als spezifisch klassifizierten Schmerzen, das Zusammenspiel verschiedenster Faktoren für die Schmerzentstehung und Chronifizierung ursächlich. Bei spezifischen Schmerzen steht möglicherweise zur Diagnosestellung der spezifische pathomorphologische Befund im Mittelpunkt, dieser ist jedoch in der Regel nicht alleinig therapierelevant. Nimmt man die positive Interpretation des Systems spezifisch/nicht spezifisch ernst, wäre damit zumindest für die nicht spezifischen Schmerzen des Bewegungssystems der Weg für eine echte interdisziplinäre Diagnostik, Subgruppeneinteilung und spezifische, ggf. multimodale interdisziplinäre Therapie bereitet (siehe auch Beitrag J. Schulz, Seite 295, und J. Emmerich, Seite 309). Dies, insbesondere die Suche nach Subgruppen, findet jedoch mit wenigen Ausnahmen nicht statt. Wichtige Ausnahmen sind die Patientenauswahl für die Therapieprogramme auf der Basis der „functional restoration“ (dysfunktionale Kognitionen [25] und die Auswahl von Patienten für die multimodale Komplextherapie der Bewegungssystems (Funktionserkrankungen des Bewegungssystems) [11, 41]. Ansonsten gilt, dass Patienten das bekommen, was es gibt. Die Diagnostik und Therapie ist nicht abhängig von der Befundkonstellation, sondern von der behandelnden Abteilung/Praxis [10].

Epidemiologische Daten, die Ergebnisse der Behandlung von Patienten und die Therapieevaluationen auf Grundlage der Klassifikation spezifisch/nicht spezifisch sind jedoch nicht überzeugend. Die Operationszahlen und Krankenhausaufenthalte aufgrund von Rückenschmerzen nehmen zu, die Kosten sind enorm und wissenschaftliche Studien bzw. Metaanalysen kommen nur zu insuffizienten Aussagen. Anstatt die Klassifikation in Frage zu stellen und andere Wege zu beschreiten, werden Leitlinien erstellt, die den Status quo stabilisieren und die alten/nicht erfolgreichen Diagnostik- und Therapieansätze manifestieren.

Subgruppenbildung beim chronischen Rückenschmerz, eine realistische
Möglichkeit?

Für die Pathogenese des chronischen Rückenschmerzes werden pathomorphologische, funktionelle und psychosoziale Einflussfaktoren sowie neurophysiologische Prozesse der Chronifizierung als relevant betrachtet. Das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren führt patientenindividuell zur Entwicklung und letztlich zur Chronifizierung der Schmerzen. Es stellt sich die Frage, ob es auf Grundlage von diagnostischen Kriterien möglich ist, Subgruppen zu bilden.

Psychosoziale Einflussfaktoren und Subgruppenbildung werden im Beitrag von J. Schulz in diesem Heft besprochen (Seite 285).

Pathomorphologien

Pathomorphologien können in unterschiedlicher Weise die Entwicklung und Chronifizierung eines chronischen Rückenschmerzes beeinflussen. Entscheidend ist, dass das bloße Vorhandensein einer morphologischen Veränderung nicht ausreicht, um deren Bedeutung zu belegen (Abb. 2).

Pathomorphologien können [32]:

Nozizeption auslösen

Schmerzen verursachen

Funktion beeinflussen

Funktion beeinflussen

Nervenfunktionen (z.B. Propriozeption)

Gelenkbeweglichkeiten

Bewegungssteuerung (Entlastung (Abb. 3))

sekundär zu grundlegenden Funktionsstörungen bestehen (Abb. 4)

ohne Bedeutung sein (Abb. 2).

Für die tägliche Praxis ist es entscheidend, die Relevanz eines Befundes für den Schmerz und die Funktionalität herauszuarbeiten. In wenigen Fällen ist die Pathomorphologie der entscheidende Faktor (z.B. red flags, Coxarthrose, Claudikatio spinalis mit Spinalkanalstenose). Bei diesen Patienten wäre der bisherige spezifische Schmerz eine eigenständige Subgruppe. In anderen Subgruppen mag die Pathomorphologie eine Rolle spielen, wird jedoch in ihrer therapeutischen Bedeutung oft überschätzt.

Neurophysiologische Prozesse der Schmerzchronifizierung

Nozizeption, also die Umwandlung von schädlichen bzw. potentiell schädlichen Reizen in Aktionspotentiale, ist nicht mit der Wahrnehmung von Schmerzen gleichzusetzen. Nicht jede Nozizeption führt zu Schmerz (Abb. 5) und nicht jeder Schmerz setzt eine Nozizeption voraus (z.B. Phantomschmerz).

In der neurophysiologischen Forschung konnten Veränderungen im nozizeptiven System bei länger anhaltenden Schmerzen, bzw. bei länger anhaltendem nozizeptivem Input gezeigt werden. Einige neurophysiologische Modelle beruhen ausschließlich auf Tierexperimenten, während andere Prozesse auch beim Menschen nachweisbar sind. Eine Übertragung der neurophysiologischen Modelle in die klinische Forschung bzw. klinische Arbeit ist bisher nicht bzw. nur ansatzweise gelungen. Beispiele wären die nachweisbaren Veränderungen in der kortikalen Präsentation von Extremitäten beim Complex Regional Pain Syndrom (CRPS) oder des Rückens beim chronischen Rückenschmerz. Eine effektive funktionelle Behandlung führt nicht nur zur Wiedererlangung der normalen Funktion und Verringerung von Schmerz, sondern auch zur Normalisierung der kortikalen Repräsentation [6, 7, 9, 13–19, 26, 43, 44].

Andere Prozesse sind bisher nicht so klar beschrieben oder verstanden. Ein Modell der Chronifizierung von Schmerz auf Grundlage der neurophysiologischen Basisdaten stammt von Treede et al. [42]. In diesem 3-Phasenmodell (Abb. 6) sind Stadium 1 und 2 weiterhin von einem nozizeptiven Input abhängig, während Stadium 3 von nozizeptiven Reizen unabhängig ist (chronische Schmerzkrankheit). Im klinischen Kontext existieren Patienten, die eine Diskrepanz zwischen den erhobenen somatischen Befunden auf der einen Seite und dem Schmerz- und Beeinträchtigungserleben auf der anderen Seite zeigen. Ebenso können durch neurophysiologische Untersuchungen (z.B. Quantitative Sensorische Testung (QST)) Sensitivierungsvorgänge im nozizeptiven System erfasst werden. Diese Patienten können in Stadium 2 oder 3 klassifiziert werden. Eine klinische oder apparative Differenzierung zwischen Stadium 2 und 3 ist nicht möglich. Während das Stadium 2 als eine Änderung im Sinne eines Prozesses definiert werden kann, stellt Stadium 3 ein fiktives Endstadium der Chronifizierung von Schmerz, die Schmerzkrankheit dar. Somit wird von Treede et al. diskutiert, dass der chronische Schmerz auch „nur“ ein Fortbestehen des akuten Schmerzes im Sinne von Stadium 2 bedeuten könnte [42].

Für den klinischen Alltag und für wissenschaftliche Arbeiten ist es entscheidend, neurophysiologische Prozesse der Schmerzchronifizierung mit in die Bewertung einzubeziehen und Schmerz nicht auf Nozizeption zu reduzieren (Abb. 2).

Funktionserkrankungen
des Bewegungssystems

Funktionsstörungen des Bewegungssystems werden in der Betrachtung der Pathogenese und Chronifizierung von Rückenschmerzen oft vernachlässigt. Wahrscheinlich ist aber gerade die Funktion und Dysfunktion des Bewegungssystems oder seiner Komponenten sowie die Interaktion zu anderen Systemen (z.B. Herz-Kreislaufsystem) der fehlende Link zum Gesamtverständnis des Problems Rückenschmerz.

Grundlage für die folgende Modellbildung ist das funktionelle System des Verhaltens nach Anochin [3]. Er entwickelte dieses Modell als Schüler Pawlows, um die vorherrschende Dominanz des „Reflexdenkens“ zu überwinden. Auf Grundlage der eingehenden Afferenzen (Gesamtheit der äußeren und inneren einwirkenden Faktoren), der Motivationslage und von Gedächtniskomponenten, entsteht über die Afferenzsynthese ein Handlungsziel. Dieses Handlungsziel wird über entsprechende Bewegungsprogramme, die sich daraus ergebenden Efferenzen an die Effektoren (u.a. Bewegungssystem) geleitet. Eine Kopie des Handlungsprogramms verbleibt im Zentralnervensystem (ZNS) als Efferenzkopie bzw. Bewegungsvorhersage. Das Resultat wird über die Reafferenz an das ZNS zurückgeleitet und mit der Efferenzkopie abgeglichen. Bei Übereinstimmung werden die entsprechenden Erregungsmuster gelöscht, bei Abweichungen erfolgen eine Orientierungsreaktion und entsprechende Korrekturen [3, 8].

Bewegung und Haltung als Grundlage für Handlungen und somit für Interaktionen mit der Umwelt inklusive der Partizipation beruhen also auf einem komplexen, durch das ZNS gesteuerten Regelmechanismus. In diesem Regelmechanismus sind alle aus dem biopsychosozialen Krankheitskonzept bekannten Komponenten enthalten (Abb. 7). Durch vielfältige Einflüsse und damit auch Störmöglichkeiten resultiert eine relative Anfälligkeit des Bewegungssystems für Funktionsstörungen (Abb. 8) und damit für Schmerzen.

Die interagierenden primären Störungen resultieren bei Überschreitung der Kompensationsmöglichkeiten in sekundären, Nozizeption auslösenden Funktionsstörungen (potentielle Gewebeschädigung) und ggf. pathomorphologischen Veränderungen. Eine Nichtkongruenz zwischen tatsächlicher und antizipierter Afferenz ist ein weiterer potentiell nozizeptiver Reiz für das ZNS. Die Nozizeption kann Schmerzen auslösen sowie zu Veränderungen in der neurophysiologischen Modulationsfähigkeit führen (s.o.). Schmerz selber führt wiederum zu komplexen Verhaltensreaktionen.

In diesem Modell bilden also die primären und sekundären Funktionsstörungen des Bewegungssystems zusammen mit anderen Einflussfaktoren die Grundlage für das „sozialmedizinische Problem Rückenschmerz“. Primäre Funktionsstörungen sind dabei Störungen, die entweder die Belastbarkeit in einer Struktur vermindern bzw. deren Belastung erhöhen (z.B. Koordinationsstörungen, Dekonditionierung). Sekundäre Störungen sind die Ergebnisse der Diskrepanz zwischen Belastung und Belastbarkeit und rufen Nozizeption hervor und führen zu Dysbalancen (z.B. Verspannungen, Triggerpunkte (TRP), Abb. 9).

Funktionserkrankungen des Bewegungssystems werden als gesundheitliche Störungen, bei denen Funktionsstörungen des Bewegungssystems die Ursache/Haupteinflussfaktoren von Funktions-, Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen und/oder Schmerzen sind, definiert. Morphologische und psychosoziale Faktoren sowie Veränderungen in der neurophysiologischen Modulation der Nozizeption können relevant sein [33].

Einzelne Funktionsstörungen werden in der Regel gut kompensiert. Kommt es zur Überforderung der Kompensationsmechanismen, werden Funktionsstörungen symptomatisch, verursachen typische Leitsymptome (Schmerz, Bewegungs- und Partizipationsstörungen) und werden zur Funktionserkrankung. In der Regel sind Funktionserkrankungen selbstlimitierend und kurzlebig. Ausgeprägte/nicht beachtete primären Funktionsstörungen im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, z.B. Veränderungen der neurophysiologischen Schmerzregulationsfähigkeit, autonome Dysbalancen oder psychosozialen Einflussfaktoren führt zu Rezidiven und zur Chronifizierung von Funktionserkrankungen des Bewegungssystems [32–34].

Subgruppenbasierte
Behandlungskonzepte
am Beispiel des
ANOA-Konzepts [32]

Das ANOA-Konzept (Arbeitsgemeinschaft nichtoperativer orthopädischer/manualmedizinischer Akutkrankenhäuser) wurde für die tertiäre Versorgung von Patienten mit Erkrankungen des Bewegungssystems entwickelt. Auf Grundlage einer interdisziplinären Differentialdiagnostik inklusive der Einbeziehung funktioneller, psychosozialer, morphologischer und neurophysiologischer Aspekte erfolgt eine Subgruppenbildung und Zuordnung von Patienten in verschiedene Therapiepfade. Das ANOA-Konzept ist eines der wenigen Konzepte mit einer Subgruppen-basierten Therapiesteuerung von Patienten mit Erkrankungen des Bewegungssystems [20]. Es wurde auf der Basis des Diagnostik- und Therapiekonzepts der Klinik für Manuelle Medizin in Kremmen/Sommerfeld entwickelt. Wesentliche Annahmen liegen diesem System zu Grunde:

Neben der chronischen Schmerzerkrankung des Bewegungssystems im Sinne der eigenständigen Schmerzerkrankung bestehen andere Entitäten bei denen funktionelle, psychosoziale und pathomorphologische Befunde relevant sind.

Funktionsstörungen des Bewegungssystems spielen in der Pathogenese von Schmerzen des Bewegungssystems und deren Chronifizierung eine wichtige Rolle.

Eine Subgruppenbildung auf Basis einer interdisziplinären Diagnostik, insbesondere der Funktionsdiagnostik, ist möglich.

Für die gebildeten Subgruppen können entsprechende Therapiekonzepte/Therapiepfade entwickelt werden.

In Studien konnten Behandlungskonzepte auf dieser Grundlage positiv evaluiert werden. Neben einer Schmerzlinderung konnte insbesondere die Funktionalität verbessert werden. Positive Effekte lassen sich auch im Langzeit-follow up nachweisen [11, 38, 39, 41].

Im Gegensatz hierzu führen Behandlungskonzepte, die von monokausalen Zusammenhängen ausgehen, zu negativen Ergebnissen, z.B. zur Schmerzgeneralisierung, Zunahme von Chronifizierung sowie hoher Inanspruchnahme medizinischer Leistungen [28, 29, 35].

Um Patienten im Vorfeld zu selektieren, wurde im Schmerz- und Rückenzentrum am Westmecklenburg Klinikum Helene von Bülow ein Triagesystem für zugewiesene Patienten entwickelt (Abb. 10). Entsprechend der Triage erfolgt die Zuordnung der Patienten in spezifische Diagnostik- und Therapieangebote.

Im Rahmen der multimodalen Komplextherapie des Bewegungssystems ist ein standardisiertes Assessment obligat (siehe OPS 8–977). Mit dem Sommerfelder Diagnostik System (SDS) wurde ein Expertenrating für die Tertiärversorgung entwickelt und evaluiert [36, 37]. Die Evaluation erfolgt im Rahmen eines Ratings von 0–3 für 4 Befundebenen, zuzüglich der Chronifizierung von Schmerz und relevanten Komorbiditäten.

Folgende Befundebenen werden in das SDS einbezogen:

Morphologische Befundebene

Funktionelle Befundebene

Regionale Befunde

Bewegungsmusterstörungen/Koordinationsstörungen

Vegetative Störungen

Psychische Befundebene

Soziale Befundebene

Neben der quantitativen und qualitativen Befunderhebung erfolgt die Bewertung der Befunde auf ihre Relevanz für das bestehende Krankheitsbild.

Das interdisziplinäre Assessment im Rahmen des ANOA-Konzeptes erfolgt durch die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen. Folgende Fachdisziplinen sind im Rahmen des Assessment empfohlen:

Arzt mit Zusatzqualifikation Manuelle Medizin/bei der Erbringung Schmerztherapeutischer Leistungen auch spezielle Schmerztherapie

Psychologe

Physiotherapeut mit Weiterbildung Manuelle Therapie

Pflege

Neben der Anamnese und klinischen Befunderhebung werden im Rahmen des Assessments die Vorbefunde gesichtet und bewertet, ggf. weitere diagnostische Verfahren veranlasst und die Funktionsdiagnostik durch apparative Verfahren der Funktionsdiagnostik, z.B. Ergometrie, Gang- und Bewegungsanalysen und Kraftanalysen unterstützt [2, 30, 31].

Auf Grundlage des Assessments werden Patienten in verschiedene Therapiepfade eingeordnet. Die Zuordnung erfolgt anhand der Befundlage bzw. der Befundkombination. Innerhalb der Therapiepfade werden weitere Subgruppen gebildet, um eine möglichst passgenaue individuelle Therapie für jeden Patienten darzustellen. Siehe auch Beitrag J. Emmerich in diesem Heft.

In ANOA-Zentren mit dem gesamten Spektrum von Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten, werden Patienten anhand ihrer Befundlage auf die geeigneten Behandlungssettings verteilt (Abb. 11). Die Zuordnung zur teilstationären bzw. stationären Schmerztherapie erfolgt anhand von aufgestellten Kriterien [5, 27] (Tab. 2).

Die konzeptuelle Arbeit führte letztendlich zur Anerkennung des ANOA-Konzeptes und die Aufnahme der multimodalen Komplexbehandlung des Bewegungssystems in das Finanzierungssystem für Krankenhäuser in Deutschland durch das INEK-Institut mit einer eigenen OPS-Ziffer (8–977). Des Weiteren wurde mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK, SEG 4) ein Prüfleitfaden für die Komplexbehandlung entwickelt und publiziert [4, 22]. Um die strukturelle und die Ergebnisqualität des ANOA-Konzeptes sichern zu können, wurde in Kooperation mit Certcom ein Qualitätssiegel entwickelt und in die Praxis eingeführt.

In den ANOA-Kliniken werden in der Regel die stationäre multimodale Schmerztherapie (OPS 8–918) und die multimodale Komplexbehandlung des Bewegungssystems (OPS 8–977) durchgeführt. Die Mehrzahl der heute bestehenden ANOA-Kliniken hat sich erst auf Grundlage der aus der konzeptuellen Vorarbeit resultierenden OPS-Ziffern, insbesondere der 8–977 etabliert. Es ist davon auszugehen, dass trotz der entstehenden Behandlungskosten, eine langfristige Kostenreduktion durch Verhinderung von chronischen Erkrankungen bzw. durch die Unterbrechung des Chronifizierungsprozesses resultiert. Die Unterscheidung zwischen den OPS-Ziffern 8–918 und 8–977 liegt in der spezifischen Befundlage eines jeden individuellen Patienten.

Fazit

Chronischer Rückenschmerz bleibt ein medizinisches und ökonomisches Problem. Die aktuelle Herangehensweise und Unterteilung der Schmerzen in spezifische und nicht spezifische Rückenschmerzen hat nicht zu einer Verbesserung der Versorgung von Patienten oder der wissenschaftlichen Datenlage geführt. Vielmehr scheinen wir uns immer tiefer in eine Sackgasse zu begeben.

Alternative Modelle und Herangehensweisen sind notwendig, um Wege aus dieser Misere zu finden. Eine Klassifikation von Rückenschmerzen unter Einbeziehung von pathomorphologischen, funktionellen, psychosozialen und neurophysiologischen Aspekten der Entwicklung und Chronifizierung von Rückenschmerzen ist plausibel, die Operationalisierung jedoch schwierig.

Die Betrachtung des Bewegungssystems als funktionelles System bietet die Grundlage für ein wirklich bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis. Erst das Verständnis des Bewegungssystems als nicht statisches System sowie dessen Interaktionen im Gesamtsystem Mensch mit dem Ziel der Bedürfnisbefriedigung lässt viele Störungen besser verstehen. Die Funktion und die Störungen der Funktion wurden in den bisherigen Krankheitsmodellen nur unzureichend berücksichtigt, sind aber möglicherweise der Schlüssel zum besseren Verständnis.

Vorbilder für die Entwicklung von Subgruppen spezifischer Therapie sind z.B. die Rheumatologie und Hämatologie. Erst durch die Klassifizierung von Krankheitsentitäten war es möglich, spezifische und letztlich erfolgreiche Behandlungsstrategien zu entwickeln.

Um dies für den Rückenschmerz zu realisieren, ist es notwendig, eine reliable und valide Befunderhebung als Grundlage für eine entsprechende Klassifikation zu entwickeln.

Für die tertiäre Versorgung ist die multimodale Komplexbehandlung nach dem ANOA-System eine Subgruppen basierte Therapieform, die nachhaltige Effekte zeigt.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf: www.online-oup.de

Korrespondenzadresse

Dr. med. Kay Niemier

Westmecklenburg Klinikum
Helene von Bülow

Krankenhaus Hagenow

Parkstraße 12

19230 Hagenow

kay.niemier@wmk-hvb.de

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