Übersichtsarbeiten - OUP 03/2022

Osteoporotische Beckenfrakturen – die unterschätzte Fraktur?

Katharina Schultz, Christoph Beyersdorf, Uwe Maus

Zusammenfassung:
Osteoporosebedingte Frakturen sind mit einer erheblichen Morbidität und Mortalität verbunden und gewinnen in einer alternden Bevölkerung immer mehr an Bedeutung. Neben den klassischen Osteoporosebedingten Frakturen wie Wirbelkörper-, Radius- und proximale Femurfrakturen zeigen auch Insuffizienz- oder Fragilitätsfrakturen des Beckens eine steigende Inzidenz.Neben dem deutlich erhöhten Risiko für Folgeverletzungen, gehen geriatrische Beckenringverletzungen mit einer erheblichen Morbidität und Mortalität einher. Klassischerweise werden Fragilitätsfrakturen des Beckens weiterhin konservativ versorgt. Sollte das konservative Vorgehen jedoch mit längerer Immobilität und einem prolongierten Krankenhausaufenthalt einhergehen, sollte frühzeitig an eine operative Stabilisierung gedacht werden. Gerade minimalinvasive Verfahren weisen niedrige Komplikationsraten auf.Eine adäquate Osteoporosediagnostik und -therapie sind der Grundstein der Behandlung. Ein Großteil der Fragilitäts- und vor allem Insuffizienzfrakturen des Beckens sind mit Osteoporose assoziiert und die Osteoporose ist deutlich unterdiagnostiziert und -therapiert. Für osteoanabole Substanzen wie Teriparatid konnten in den letzten Jahren bei Insuffizienzfrakturen des Beckens positive Effekte bezüglich der Frakturheilung, Schmerzintensität und somit Therapiedauer gezeigt werden.

Schlüsselwörter:
Osteoporotische Beckenfraktur, Osteoporose, Frakturrisiko

Zitierweise:
Schultz K, Beyersdorf C, Maus U: Osteoporotische Beckenfrakturen – die unterschätzte Fraktur?
OUP 2022; 11: 0100–0104
DOI 10.53180/oup.2022.0100-0104

Summary: Osteoporosis-related fractures are associated with significant morbidity and mortality and are of increasing concern in an aging population. In addition to the classic osteoporosis-related fractures such as vertebral body, radius and proximal femur fractures, insufficiency or fragility fractures of the pelvis are also showing an increasing incidence. In addition to the significantly increased risk of subsequent injuries, geriatric pelvic ring injuries are associated with significant morbidity and mortality. Classically, fragility fractures of the pelvis continue to be treated conservatively. However, if the conservative approach is associated with prolonged immobility and a prolonged hospital stay, surgical stabilization should be considered at an early stage. Minimally invasive procedures in particular have low complication rates. Adequate osteoporosis diagnosis and therapy should form the basis of the treatment of geriatric pelvic ring injuries. A large part of the fragility and above all insufficiency fractures of the pelvis are associated with osteoporosis and at the same time the osteoporosis is clearly underdiagnosed and undertreated. In recent years, osteoanabolic substances such as teriparatide have been shown to have positive effects on fracture healing, pain intensity and thus duration of therapy for insufficiency fractures of the pelvis.

Keywords: Osteoporotic pelvic fractures, osteoporosis, fracture risk

Citation: Schultz K, Beyersdorf C, Maus U: Osteoporotic pelvic fractures – the underestimated fracture?
OUP 2022; 11: 0100–0104. DOI 10.53180/oup.2022.0100-0104

Universitätsklinik Düsseldorf, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie

Einleitung

Osteoporosebedingte Frakturen sind mit einer erheblichen Morbidität und Mortalität assoziiert und gewinnen in einer alternden Bevölkerung immer mehr an Bedeutung. Es wird davon ausgegangen, dass 50 % der Frauen und 20 % der Männer im Laufe ihres Lebens eine Osteoporosebedingte Fraktur erleiden [20]. Neben den klassischen Osteoporosebedingten Frakturen wie Wirbelkörper-, Radius- und proximale Femurfrakturen zeigen auch Insuffizienz- oder Fragilitätsfrakturen des Beckens eine steigende Inzidenz. So machen Beckenringfrakturen nach einer Studie von Burge und Mitarbeitern aus dem Jahr 2007 etwa 7 % aller osteoporotischen Frakturen bei geriatrischen Patienten aus [6]. In den USA haben diese Frakturen im Zeitraum zwischen 1993 und 2010 um 24 % zugenommen [26, 39]. Osteoporotische Beckenringverletzungen zeigen eine deutliche Altersabhängigkeit mit einem Gipfel der Inzidenz in der 9. Lebensdekade [10]. Über zwei Drittel aller Beckenfrakturen sind im geriatrischen Patientenkollektiv zu finden [8]. Neben dem demografischen Wandel muss allerdings auch eine breiter verfügbare Schnittbildgebung für diese steigende Inzidenz mitverantwortlich diskutiert werden [32]. Nach Definition der WHO entstehen Fragilitätsfrakturen durch ein inadäquates Trauma, welches bei normaler Knochenqualität nicht zu einer knöchernen Verletzung geführt hätte [46]. Hiervon zu unterscheiden sind Insuffizienzfrakturen, welche ohne Trauma entstehen [33, 38]. Neben Osteoporose gelten das weibliche Geschlecht, eine Steroidtherapie, eine rheumatoide Arthritis oder eine Bestrahlung des Beckens als Risikofaktoren [26]. Geriatrische Beckenfrakturen zeigen eine deutlichere Assoziation zu einer verminderten Knochenqualität als andere geriatrische Frakturen wie etwa proximale Femurfrakturen. So zeigt eine Studie von Morris und Mitarbeitern, dass 93 % der Patienten mit einer Beckenringfraktur in geriatrischen Einrichtungen eine Osteopenie oder Osteoporose aufwiesen (einhergehend mit einem Singh-Index ? 4) [24]. Im Vergleich hierzu konnten Pogrund und Mitarbeiter dies in einer separaten Studie nur für etwa 68 % der Patienten mit proximalen Femurfrakturen nachweisen [31, 37]. Obwohl bekannt ist, dass eine stattgehabte Fragilitätsfraktur das Risiko einer weiteren Fragilitätsfraktur in Zukunft verdoppelt, wurden nach einem Bericht des NCQA (National Committee for Quality Assurance) aus dem Jahr 2014 nur etwa jeder dritte bis vierte Patient mit einer Fragilitätsfraktur mit Osteoporose diagnostiziert oder hierfür behandelt [37].

Klassifikationen

Beckenringfrakturen werden klassischerweise nach Tile und Pennal [40] beziehungsweise nach Young und Burgess [7] klassifiziert. Ebenfalls im klinischen Alltag sehr gebräuchlich ist die AO-Klassifikation, welche A-, B- und C-Frakturen unterscheidet und in der Betrachtung an die Tile-Klassifikation angelehnt ist. A-Frakturen beschreiben hierbei stabile Beckenverletzungen, B-Frakturen hingegen weisen eine Rotationsinstabilität auf, während C-Frakturen sowohl durch eine vertikale als auch durch eine Rotationsinstabilität gekennzeichnet sind [26, 32]. Geriatrische Beckenringverletzungen unterscheiden sich allerdings deutlich von Beckenringverletzungen bei jüngeren Patienten, die klassischerweise durch Hochrasanztraumata entstehen. Geriatrische Beckenringfrakturen dagegen entstehen aufgrund einer verminderten Knochenqualität meist durch Niedrigenergietraumata oder auch gänzlich ohne Trauma und sind nur in Ausnahmefällen mit hämodynamischer Instabilität oder intrapelvinen Organverletzungen assoziiert [34]. So wäre ein klassisches Verletzungsmuster bspw. ein Sturz auf die Seite mit resultierender Kompressionsfraktur der Massa lateralis des Os sacrum mit ggf. begleitender Fraktur des Ramus superior ossis pubis [26, 33, 34]. Auch bilaterale Sakruminsuffizienzfrakturen kommen bei geriatrischen Patienten regelhaft vor, während sie bei jüngeren Patienten eher eine Seltenheit darstellen und meist durch Einwirkung großer Energien entstehen (C3 Fraktur nach der AO-Klassifikation). Neben der erwähnten Osteoporose als dominantem Risikofaktor begünstigt beispielsweise auch ein Verlust der Beckenelastizität im Alter das Auftreten von Frakturen [26]. Gerade das Os sacrum scheint durch die im Alter auftretenden biomechanischen Veränderungen frakturgefährdet zu sein [19, 44]. Um diesen Unterschieden Rechnung zu tragen, wurde 2013 von Rommens und Mitarbeitern ein neues Klassifikationssystem mit Fokus auf Fragilitätsfrakturen des Beckens entworfen [33], welches sich vor allem an dem Ausmaß der Instabilität und der Lokalisation der instabilen Frakturen im Bereich des hinteren Beckenringes orientiert. Hierbei werden Beckenringfrakturen nach FFP Typ I–IV (Fragility Fractures of the Pelvis) eingeteilt. Typ I beschreibt isoliert anteriore Beckenringfrakturen, Typ II-Frakturen weisen eine nicht-dislozierte Fraktur des hinteren Beckenringes auf, Typ III-Frakturen sind durch unilateral dislozierte hintere Beckenringfrakturen charakterisiert, während Typ IV-Verletzungen bilateral dislozierte hintere Beckenringverletzungen beschreiben und mit der höchsten Instabilität einhergehen.

Diagnostik

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