Übersichtsarbeiten - OUP 01/2020

Periphere Nervenläsionen
Standards für Diagnosestellung und Therapie

Martin Aman, Simeon C. Daeschler, Arne H. Boecker, Ulrich Kneser, Leila Harhaus

Zusammenfassung:

Nervenverletzungen sind schwerwiegende und komplexe Verletzungen, die häufig junge, im Arbeitsleben stehende Patienten betreffen. Nicht nur für den Betroffenen und sein Umfeld, sondern auch für das Gesundheits- und Sozialsystem haben sie oft weitreichende sozioökonomische Folgen. Da bei der Rekonstruktion nur ein begrenztes Zeitfenster zur Wiederherstellung der Funktion zur Verfügung steht, sollte rasch eine entsprechende Diagnostik und Therapieplanung erfolgen. Diese Arbeit zeigt die aktuell empfohlene Herangehensweise an periphere Nervenläsionen, von der Diagnostik bis zur Rekonstruktion. Ziel ist es, schon frühzeitig ein Gesamt-Therapiekonzept für die Patienten zu erstellen, um eine rasche und möglichst vollständige Funktionswiederkehr und damit Reintegration in das Sozial- und Erwerbsleben zu ermöglichen.

Schlüsselwörter:
peripherer Nerv, Nervenläsion, Diagnostik, Nervenrekonstruktion, Nerventransfer

Zitierweise:

Aman M, Daeschler SC, Boecker AH, Kneser U, Harhaus L: Periphere Nervenläsionen.
Standards für Diagnosestellung und Therapie. OUP 2020; 9: 023–029

DOI 10.3238/oup.2020.0023–0029

Summary: Peripheral nerve lesions are often complex and severe injuries affecting mainly young patients.
This reveals not only burden for individual patients, but also major socioeconomic consequences. As “time is muscle”, early diagnosis and a sophisticated surgical and therapeutical plan is of upmost importance. Therefore, we present an overview on current diagnostical and surgical options, to optimize treatment of patients to finally improve outcome of the patients and reintegration into social and work life.

Keywords: peripheral nerve, nerve damage, nerve reconstruction, nerve transfer

Citation: Aman M, Daeschler SC, Boecker AH, Kneser U, Harhaus L: Reconstruction of peripheral nerve defects. current standards for diagnosis and treatment. OUP 2020; 9: 023–029. DOI 10.3238/oup.2020.0023–0029

Klinik für Hand-, Plastische- und Rekonstruktive Chirurgie – Schwerbrandverletzenzentrum, Ludwigshafen

Einleitung

Periphere Nervenläsionen sind komplexe Verletzungen mit sehr unterschiedlich ausgeprägten Erscheinungsbildern. Hierbei sind nicht nur die mikrochirurgische Versorgung, sondern vielmehr auch vorangehende Diagnostik und sorgfältige Therapieplanung relevant und aufgrund einer Vielzahl von biologischen Faktoren häufig anspruchsvoll. Pathophysiologische Grundkenntnisse sind entscheidend für die Therapieplanung sowohl hinsichtlich des optimalen Zeitpunkts als auch der Wahl der Rekonstruktionsmethode. Auch postoperativ ist, im Vergleich zu vielen anderen Operationen, ein direkter Behandlungserfolg nicht sofort sichtbar, was die Abschätzung des Therapieerfolgs erschwert. Ziel dieser Arbeit ist es, auch für den nicht-spezialisierten Chirurgen eine Übersicht an die Herangehensweise an eine Nervenverletzung zu schaffen – von der klinischen Untersuchung über die Diagnostik bis hin zur Rekonstruktion – wie sie nach derzeitigem Stand der Wissenschaft erfolgen sollte.

In Europa zeigt sich durch eine jährliche Inzidenzrate von 13,9 auf 100.000 Personen die Relevanz dieser oft komplexen Verletzungsbilder [3, 8]. Nervenverletzungen betreffen hierbei hauptsächlich die obere Extremität junger Männer mit einem Durchschnittsalter von 32–35 Jahren [15, 7].

Die häufigsten Verletzungen sind hierbei Schnittverletzungen, gefolgt von Avulsionsverletzungen – vor allem nach Verkehrsunfällen mit Hochrasanzkomponente, welche oft mit großem und langfristigem Funktionsverlust einhergehen [25, 6]. Natürlich sind auch andere Mechanismen wie Schuss- und Quetschverletzungen sowie Penetrationstraumata möglich. Des Weiteren darf nicht unbeachtet bleiben, dass 17–25,7 % aller Nervenläsionen iatrogenen Ursprungs sind [21]. Hierbei gibt es vielfältige Mechanismen, von der Kompression durch chirurgische Instrumente oder Implantate über thermische Schäden (Elektrokoagulation, Zementieren z.B. bei Hüft-TEP) bis hin zur scharfen Durchtrennung. Orthopädisch-unfallchirurgische Zugangswege zeigen aufgrund ihrer teilweise unmittelbaren Lagebeziehung zu peripheren Nerven eine besondere Prädisposition für Verletzungen (Tab. 1).

Aber auch sekundär (z.B. bei Frakturen) und durch akute oder chronische Einengung von peripheren Nerven an anatomischen Engstellen oder aufgrund postoperativer Vernarbungen können Nervenschäden verursacht werden.

Aufgrund der Tatsache, dass vor allem junge, im Arbeitsleben stehende Patienten plötzliche und oft schwerwiegende Verletzungen mit andauernden Funktionsausfällen an der oberen Extremität erleiden, kann dies zu einer großen sozioökonomischen Belastung des Gesundheits- und Sozialsystems führen [16]. Auch der Leidensdruck für den Patienten ist durch Verlust der Unabhängigkeit und vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit groß. Trotz intensiver Forschung der letzten Jahrzehnte auf dem Gebiet der peripheren Nervenchirurgie, zeigen klinische und experimentelle Erfahrungen, dass vor allem bei schweren Nervenverletzungen das Outcome in vielen Fällen nach wie vor nicht vorhersagbar und nicht zufriedenstellend ist. Hierbei sind vor allem andauernde Einschränkungen im Alltag und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit für die Patienten belastend [18].

Daher sind Grundkenntnisse der Versorgung von Nervenverletzungen, insbesondere auch für nicht auf die Chirurgie der peripheren Nerven spezialisierte Chirurgen, essenziell, um eine rasche Zuweisung der Patienten in ein spezialisiertes Zentrum zu ermöglichen. So können die notwendige Diagnostik und eine etwaige chirurgische Rekonstruktion frühzeitig geplant und zeitgerecht durchgeführt werden.

Einteilung der
Nervenverletzungen

Der Erfolg von Nervenrekonstruktionen hängt maßgeblich vom Grad der Nervenläsion ab. Zur Einteilung der Verletzungen definierte Sir Herbert Seddon 1943 erstmals 3 Typen der Nervenläsionen. Er beschrieb sie als Neurapraxie, Axonotmesis und Neurotmesis [20]. 1951 erweiterte Sunderland diese Klassifikation auf insgesamt 5 Grade [24] und Mackinnon fügte dann noch einen 6. Grad hinzu [10]. Sunderlands Klassifikation beschreibt präzise die anatomischen Veränderungen einzelner Läsionstypen. Allerdings präsentieren sich diese klinisch oftmals kombiniert. Mackinnon beschreibt deshalb einen 6. Grad der Nervenläsionen als Kombination mehrerer Läsionen [10].

Für den nicht-spezialisierten Chirurgen ist im klinischen Alltag jedoch grundsätzlich die Einteilung nach Seddon ausreichend und sie gibt einen Anhaltspunkt für die weitere Therapieplanung.

Grad 1 – Neurapraxie

Die Neurapraxie ist die mildeste Form der Schädigung, charakterisiert durch eine lokale, segmentale Demyelinisierung bzw. Myelinschädigung bei erhaltener Axonkontinuität. Dadurch kommt es zu einer temporären Unterbrechung der Reizleitung. Es kommt jedoch nicht zu einer Waller‘schen Degeneration und damit nicht zum Untergang der distalen Axone. In der Regel kommt es wenige Wochen bis Monate nach Trauma bzw. Dekompression eines eingeengten Nervs zu einer Restitutio ad integrum durch Remyelinisierung der betroffenen Nervensegmente [26]. Problematisch und interventionsbedürftig sind hierbei jedoch prolongierte Neurapraxien, bei denen es z.B. durch narbige Kompression und daraus resultierender Ischämie des Nervs zur irreversiblen Schädigung kommen kann.

Grad 2 – Axonotmesis

Die Axonotmesis ist definiert als ein kompletter Kontinuitätsverlust der Axone bei intakt erhaltenen Hüllstrukturen (Endo-, Peri- und Epineurium), wie es z.B. bei Traktionsschäden vorkommt. Distal der Läsion kommt es dann zur sogenannten Waller‘schen Degeneration, also zum Abbau der distalen Axone. Ein Großteil der durchtrennten Axone ist jedoch in der Lage, ausgehend vom proximalen Axonsegment nachzuwachsen. Durch die noch vorhandenen endoneuralen Hüllstrukturen findet in der Regel eine gerichtete Regeneration spontan statt. Eine komplette, funktionelle Regeneration ist prognostisch wahrscheinlich, hängt aber signifikant von der Höhe der Läsion und der dadurch entstandenen Regenerationsdauer ab (Geschwindigkeit der Nervenregeneration vs. Denervierungszeit des Muskels) [26]. Distale Verletzungen zeigen hierbei bei einer durchschnittlichen Regenerationsgeschwindigkeit von 1 mm/d eine schnellere Funktionswiederkehr als proximale Verletzungen.

Parallel zu Veränderungen im distalen Anteil des verletzten Nervs kommt es im Endorgan des Nervs, dem Muskel, zunächst zur Atrophie und schließlich zur Fibrose [28, 1]. Die motorischen Endplatten zeigen morphologische Veränderungen und verlieren ihre Fähigkeit, eine funktionelle Verbindung zwischen dem reinnervierenden Axon und der Muskelfaser zu etablieren [9, 17]. Obwohl klinisch immer wieder kontrovers diskutiert, gilt der Grundsatz „time is muscle“ und somit ist eine relevante Funktionswiederkehr der Muskulatur nach einer Denervationszeit von mehr als 12–18 Monaten unwahrscheinlich [2].

Grad 3 – Neurotmesis

Seddons Neurotmesis entspricht einer Grad 5-Läsion nach Sunderland [24] und beschreibt die vollständige Durchtrennung sowohl der Axone als auch der Hüllstrukturen und somit einen Kontinuitätsverlust des Nervs (z.B. bei einer Schnittverletzung). Durch die Destruktion der für die Regeneration wichtigen Leitstruktur kann der Nerv nicht nach distal regenerieren und endet häufig „blind“ in einem Neurom. Eine mikrochirurgische Rekonstruktion des Nervs zur Wiederherstellung der Kontinuität ist daher essenziell und sollte nach Diagnose möglichst zeitnahe angestrebt werden.

Diagnostik

Beim Verdacht auf eine potenzielle Nervenläsion sollte innerhalb von 24 Stunden nach Trauma ein vollständiger klinischer Status erhoben werden. Hierbei ist es wichtig, sensible und motorische Ausfälle jedes Zielgebiets und -muskels genau zu dokumentieren, um potenzielle Regeneration auch erkennen und deuten zu können. So kann z.B. bei einer proximalen Läsion Grad 2 nach Seddon die Regenerationshöhe und das Voranschreiten durch funktionelle Reinnervation distal der Läsion gelegener Muskelgruppen verfolgt werden. Hierzu ist die Einteilung in Kraftgrade und Sensibilitätsgrade hilfreich (Tab. 2).

Vor allem geschlossene Verletzungen sind in ihrem Ausmaß und der Aussicht auf spontane Funktionswiederkehr schwierig einzuschätzen. Auch sollte berücksichtigt werden, dass derselbe Nerv in seltenen Fällen auf 2 verschiedenen Höhen geschädigt sein kann. Die chirurgische Intervention kann hier oft erst im Verlauf bei ausbleibender Regeneration indiziert werden. Hierbei spielt die klinische Untersuchung des Patienten sowie regelmäßige Reevaluationen von gleichbleibenden und erfahrenen Untersuchern eine sehr wichtige Rolle, um, falls erforderlich, mit einer möglichst raschen Intervention das Outcome zu verbessern.

Neben der klinischen Untersuchung des Patienten sollten weitere diagnostische Schritte erfolgen. Die neurophysiologische Untersuchung (NLG, EMG), ist hierbei eine wichtige Untersuchung, da dadurch oftmals eine Differenzierung zwischen den Schweregraden der Nervenläsionen unterschieden werden kann. Diese Untersuchung ist jedoch erst ab 7 Tagen nach Verletzung sinnvoll, da nach diesem Zeitraum die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) abfällt und man so zwischen partiellen und kompletten Leitungsblöcken unterscheiden kann. Durch Parameter wie Nervenleitgeschwindigkeit, motorische Latenz und Amplitude erfolgt eine primäre Einschätzung der Schädigung. Verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeiten deuten auf eine segmentale Demyelinisierung hin, wie sie bei einer Neurapraxie zu finden ist. Eine normale bzw. geringgradig erniedrigte NLG in Kombination mit einer reduzierten Amplitude ist wegweisend für eine axonale Schädigung (Axonotmesis). Fehlende NLG und Amplituden sind klassischerweise bei der Neurotmesis zu finden. Zusätzlich zu Untersuchungen am Nerven kann auch eine Elektromyographie (EMG) diagnostisch hilfreich sein. Hier zeigen sich pathologische Spontanaktivitäten (Fibrillationen) bei axonaler Schädigung, nicht jedoch bei Neurapraxie. Die Neurotmesis führt, wie in der NLG, zu keiner Reizantwort im EMG. Anzumerken ist jedoch, dass die EMG-Untersuchung frühestens 14 Tage nach Schädigung sinnvoll ist, da die Waller‘sche Degeneration entsprechend weit fortgeschritten sein muss, um Denervierungszeichen zu zeigen. Zusätzlich bietet das EMG eine gute Möglichkeit, Reinnervationstendenzen zu zeigen und den Patienten mittels Bio-Feedback auch frühzeitig physiotherapeutisch beüben zu können [23, 11].

Ergänzend sollten bildgebende Verfahren wie Neurosonografie und Neuro-MRT erfolgen. Durch die in den letzten Jahren deutlich optimierte Bildgebung können viele Verletzungen sicher eingeordnet und somit ohne offene Exploration zur Diagnosefindung direkt konservativ behandelt werden. Die Neurosonografie ist ein schnelles und leicht verfügbares Verfahren, das dank der Verwendung hochauflösender Schallköpfe von 12–24 Mhz eine Darstellung der Nervenläsion mit hoher Auflösung ermöglicht. Durch besondere Algorithmen lassen sich sogar einzelne Faszikel oberflächlich gelegener Nerven darstellen, ohne zu viel Hintergrundrauschen zu produzieren. Hierzu bedarf es aber eines entsprechend erfahrenen Untersuchers.

Eine vielversprechende Technik zur Visualisierung peripherer Nervenläsionen ist die MR-Neurografie. Dank der Verwendung neuester Magnetspulentechnik in 3-Tesla-MRTs kann die Signal-Noise-Ratio verbessert und so eine hohe räumliche Auflösung gewährleistet werden [5]. Das birgt den Vorteil, auch tiefergelegene Strukturen multidimensional darstellen zu können. Größter Nachteil dieser Untersuchung ist die limitierte Verfügbarkeit, da derzeit nur wenige Zentren diese besondere Bildgebung anbieten können. Der Untersuchungsablauf, die Dauer (in der Regel 45–60 min) sowie Kontraindikationen sind identisch mit denen eines normalen MRTs. Bestimmte Verletzungsmuster erschweren die Durchführung dieser Diagnostik, da der Patient meist mit maximal eleviertem Arm gelagert werden muss. Einliegendes Titan-Osteosynthesematerial stellt in der Regel keine absolute Kontraindikation für das MRT dar. Die Nervenpathologie kann jedoch teilweise durch Metallartefakte überlagert sein, sodass die Indikation hier gemeinsam mit einem erfahrenen Neuroradiologen gestellt werden sollte.

In Summe sollte unter Zusammenschau aller Befunde zeitgerecht ein Behandlungskonzept erstellt werden, um zwischen konservativer und operativer Versorgung abzuwägen. Bei nicht eindeutiger oder unklarer Befundkonstellation bzw. Prognose ist die chirurgische Exploration unumgänglich (Abb. 1).

Rekonstruktion

Die Rekonstruktion peripherer Nervenläsionen erfordert neben erfahrenen Operateuren mit entsprechenden mikrochirurgischen Fähigkeiten, eine entsprechende Infrastruktur mit Operationsmikroskop, Nervenstimulator, mikrochirurgischen Instrumenten und mit der Nachsorge vertrauten Therapeuten.

Direkte Koaptation

Oberstes Ziel der chirurgischen Rekonstruktion ist eine spannungsfreie Koaptation der Nervenenden. Dies erfolgt im Idealfall primär und direkt durch eine epineurale Naht. Bei Verletzungen in größeren, polyfaszikulären Stammnerven ist die Zuordnung der Faszikel nicht immer möglich. Direkt nach dem Trauma kann gegebenenfalls noch eine faszikuläre Rekonstruktion erfolgen, wenn durch elektrische Stimulation motorische und sensorische Faszikel noch unterscheidbar sind. Bei der faszikulären Naht ist aber die Stabilität der Naht gegenüber dem Risiko der Fremdkörperreaktion sowie intraneuraler Vernarbung gegenüberzustellen [2]. Die Primärnaht hat den Vorteil, dass regenerierende Axone nur eine Koaptationsstelle „durchwachsen“ müssen. Zur Optimierung von Primärnähten kann zusätzlich um die Koaptationsstelle eine Leitschiene (Nerveguide), eingebracht werden. Nerveguides aus Chitosan z.B. zeigten in einer aktuellen Studie bei End-zu-End koaptierten Digitalnerven eine signifikant bessere sensible Funktion [14]. Gerade im Bereich der Finger muss hier aber auf eine ausreichende Weichteildeckung geachtet werden, um die Tubes nicht als von außen störend wahrzunehmen.

Nerveninterponat

Ist wegen eines ausgedehnten Nervenschadens eine spannungsfreie Koaptation der Nervenenden nicht möglich, muss der Defekt durch ein Interponat überbrückt werden [2]. Die Wahl des richtigen Interponats ergibt sich hierbei meist aus der Länge der Defektstrecke und dem Durchmesser, sowie der Verfügbarkeit autologer Nerventransplantate.

Goldstandard in der Rekonstruktion ausgedehnter und funktionell relevanter Defekte, wo eine direkte End-zu-End-Koaptation nicht spannungsfrei möglich ist, ist immer noch das autologe Nerventransplantat [2]. Obwohl erste Studien mit dezellularisierten Allotransplantaten aus Körperspendern akzeptable Ergebnisse bei der Rekonstruktion sensibler Nerven andeuten, bleibt deren Verwendung umstritten und ist in Deutschland derzeit noch nicht zugelassen[4, 12, 13].

Nachteil des autologen Nerventransplantats ist der Hebedefekt und der damit verbundene (meist sensible) Funktionsverlust an der Hebestelle. Die Indikationsstellung muss unter Abwägung des funktionellen Benefits und der Hebemorbidität erfolgen [2]. Hier stehen u.a. der Nervus cutaneus antebrachii lateralis und medialis an der oberen Extremität sowie der Nervus suralis oder Nervus saphenus an der unteren Extremität zur Verfügung. Hierbei kann die Hebung der Transplantate offen, über mehretagige Schnittführung, endoskopisch oder mittels Nervenstripper (z.B N. suralis) über eine Einzelinzision am Knöchel erfolgen [22].

Zur Rekonstruktion von Nerven mit größerem Kaliber als der Spendernerv können auch mehrere Spendernerven parallel geschaltet werden (sog. Cable-grafts). Bei der Längenwahl sollten die Spendertransplantate 10–30 % länger sein als der Defekt, um spannungsfreie Nähte auch bei Extremitätenbewegungen und damit verbundenen Elongationen des Nerven zu gewährleisten [2].

Nerventransfers und
Sehnentransfers

Wenn aufgrund ausgedehnter Defekte oder sehr weit proximalen Verletzungen keine Rekonstruktion möglich ist bzw. kein zufriedenstellendes Ergebnis zu erwarten ist, kommen sogenannte Ersatzoperationen zum Einsatz.

Hierbei kann man zwischen motorischer Ersatzplastik und den sogenannten Nerventransfers unterscheiden. Der Nerventransfer beschreibt die Technik, targetnah einen entbehrlichen motorischen Spendernerv auf den Nervenast der gewünschten Zielmuskulatur zu transferieren [27]. Dabei ergeben sich mehrere Vorteile: Der Eingriff findet meist in gesunden, nicht durch das Trauma geschädigten Bereichen statt, durch distale Nerventransfers wird die proximale in eine distale Läsion konvertiert und damit die Regenerationsstrecke und -zeit kurz gehalten. Außerdem bleibt hier die physiologische Biomechanik der Muskulatur erhalten, was bei der Alternative, der motorischen Ersatzplastik nicht der Fall ist.

Sollte es zu keiner erfolgreichen Reinnervation kommen oder kein geeigneter Spendernerv für Nerventransfers zur Verfügung stehen, kommen motorische Ersatzplastiken zum Einsatz. Hierbei werden Sehnen und Muskeln dauerhaft transpositioniert, um einzelne motorische Funktionen wiederherzustellen (z.B Handgelenkextension nach N.-radialis-Läsion). Vorteil der motorischen Ersatzplastik ist, dass sie auch lange Zeit nach Nervenverletzung und Degeneration der Zielmuskulatur kräftige und rasche Funktionswiederkehr bringen kann. Der Nachteil ist, dass das physiologische Bewegungsmuster der Originalmuskulatur nicht erreicht werden kann und es sich sozusagen um „Ersatzbewegungen“ handelt. Voraussetzung für eine motorische Ersatzoperation ist eine freie Beweglichkeit der betroffenen Gelenke, eine gute Weichteilbedeckung sowie eine freie Gleitfähigkeit der zu behandelnden Sehnen. Selbstverständlich müssen auch Motoren mit solider Innervation und gutem Kraftgrad (mindestens M4) verfügbar sein.

Wichtig ist vor Einleitung einer spezifischen Therapie eine ausgiebige Aufklärung des Patienten über die Langwierigkeit einer Nervenverletzung sowie das zu erwartende funktionelle Ergebnis. Im klinischen Alltag zeigen sich hier teilweise unrealistische Erwartungshaltungen der betroffenen Patienten.

Zusätzlich zur operativen sowie konservativen Therapie ist eine differenzierte und phasenangepasste Schienenversorgung und Physiotherapie des Patienten wichtig. Dynamische Elemente in den Schienen sorgen dafür, das natürliche Agonist-Antagonist-Verhältnis zu bewahren und so Gelenkkontrakturen und Sehnenverkürzungen vorzubeugen. Regelmäßige Physiotherapie hilft ebenfalls Kontrakturen vorzubeugen, um auch bei langer Regenerationszeit noch genügend Beweglichkeit für funktionelle Funktionswiederherstellung zu ermöglichen. Bei Einsetzen von Reinnervationszeichen kann die Physiotherapie die Kräftigung der einzelnen Targetmuskeln unterstützen.

Conclusio

Nervenverletzungen sind schwerwiegende und komplexe Verletzungen, welche häufig zu dauerhaften Funktionseinschränkungen führen. Dies hat sowohl für den Patienten, sein soziales Umfeld und die Gesellschaft gravierende Folgen und sozioökonomische Belastungen zur Folge. Eine gezielte Diagnostik und Therapie sollte daher möglichst direkt nach dem Trauma erfolgen, um gerade wegen der limitierten Regenerationsgeschwindigkeit der Axone sowie des limitierten Zeitfensters für die muskuläre Reinnervation die richtige Therapie so früh wie möglich einzuleiten. Neben der klinischen Untersuchung sind spezifische Zusatzuntersuchungen wie NLG, EMG und Bildgebung mittels Ultraschall und Neuro-MRT unerlässlich. Es ist oftmals empfehlenswert, bereits die Diagnostik in spezialisierten Zentren durchführen zu lassen, die dann auch die mikrochirurgische Versorgung sowie entsprechende Nachsorge und Reha-Maßnahmen durchführen.

Interessenkonflikt:

L. Harhaus hat Fördergelder der DGUV zur Durchführung einer Studie zur Evaluation von Nervenläsionen mittels Neuro-MRT-Diagnostik erhalten. Die Klinik für Hand-, Plastische und Rekonstruktive Chirurgie hat Fördermittel der Firma Medovent zur Evaluation von REAXON Chitosan-Nervetubes bei der Rekonstruktion von Nervenläsionen erhalten. Beide Studienprojekte haben keinen Einfluss auf die hier vorgestellte Übersichtsarbeit.

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Korrespondenzadresse

Dr. med. univ. Martin Aman

Klinik für Hand-, Plastische und
Rekonstruktive Chirurgie

Schwerbrandverletztenzentrum

Hand- und Plastische Chirurgie
Universität Heidelberg

Ludwig-Guttmann-Straße 13

67071 Ludwigshafen

martin.aman@bgu-ludwigshafen.de

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