Übersichtsarbeiten - OUP 09/2019

Physiologische Achsverhältnisse und Auswirkung von Achsenfehlstellungen der unteren Extremität

Jules-Nikolaus Rippke, Andree Ellermann, Natalie Mengis

Zusammenfassung:

Aufgrund des demografischen Wandels steigt die Zahl von Arthrosen stetig. Auch jüngere Patienten zeigen eine steigende Inzidenz von Arthrosen durch eine deutliche Risikosteigerung in ihren Freizeitaktivitäten mit konsekutiver Zunahme von Knorpel- und Meniskusverletzungen. Die Hauptbehandlungsindikationen sind lokalisierte Knorpelschäden und unikompartimentelle Arthrosen. Die korrekte Messung und Beurteilung der Beinachse ist essenziell für die Planung der weiteren Versorgung.

Schlüsselwörter:
physiologische Beinachse, Achsenfehlstellung untere Extremität, Varus, Valgus

Zitierweise:
Rippke JN, Ellermann A, Mengis N: Physiologische Achsverhältnisse und Auswirkung von
Achsenfehlstellungen der unteren Extremität. OUP 2019; 8: 462–467

DOI 10.3238/oup.2019.0462–0467

Summary: Due to demographic changes the number of osteoarthritis is continuously rising. Also, younger patients show an increasing incidence of osteoarthritis by a significantly increased risk-taking in their leisure time activities. The main indications for treatment are focal cartilage damage and unicompartimental osteoarthritis. The correct measurement and assessment of the mechanical axes of the lower extremity are essential for the planning of further care.

Keywords: physiological mechanical axes lower extremity, malalignment lower extremity, varus, valgus

Citation: Rippke JN, Ellermann A, Mengis N: Physiological mechanical axes and clinical effects of malalignment of the lower extremity. OUP 2019; 8: 462–467 DOI 10.3238/oup.2019.0462–0467

Für alle Autoren: ARCUS Sportklinik, Pforzheim

Einleitung

Konsultationen bezüglich Beschwerden der unteren Extremität, besonders im Bereich des Kniegelenks, stellen einen hohen Anteil der in der täglichen Praxis vorstelligen Patienten dar [1, 2]. Im Kniegelenk ist hauptsächlich eine Bewegung durch Extension und Flexion möglich. Weitere Freiheitsgrade sind die Rotation in Beugung sowie die anteriore und posteriore Translation. Das Kniegelenk weist die längsten Hebelarme aller Gelenke auf, dies führt zu einer erheblichen Belastung der gelenkbildenden Strukturen. Beim Gehen auf ebenem Grund und beim Treppensteigen wirkt das 3- bis 4-Fache des Körpergewichts als Druckkraft auf das Kniegelenk ein [3]. Durch den demografischen Wandel und die zunehmende Risikobereitschaft bei Freizeitaktivitäten mit konsekutiver Zunahme von Knorpel- und Meniskusverletzungen steigt die Anzahl von Arthrosen. Umso wichtiger ist die Kenntnis der physiologischen Achsverhältnisse um Achsfehlstellungen korrekt interpretieren und behandeln zu können. Liegen metaphysäre Achsfehlstellungen vor, besteht u.a. die Möglichkeit der operativen Achskorrektur. Lokalisierte Knorpelschäden und unikompartimentelle Arthrosen stellen die Hauptindikation für kniegelenksnahe Umstellungsosteotomien dar. Die Weiterentwicklung interner Plattenfixateure und die Verbesserung der Osteotomietechnik mittels biplanarer Schnittführung führten zu einer sicheren Fixierung ohne Korrekturverlust auch bei öffnenden Osteotomien [4]. Im Vergleich zu einer schließenden Osteotomie konnte die Komplikationsrate sogar verringert werden [5]. Des Weiteren erlaubt die öffnende hohe Tibiaosteotomie eine individuelle Anpassung des tibialen Slopes [4].

Physiologische Achsen der unteren Extremität

An der unteren Extremität werden anatomische und mechanische Achsen differenziert. Die mechanische Beinachse (Mikulicz-Linie) verläuft als Verbindungslinie zwischen dem Zentrum des Hüftkopfs und dem Zentrum des oberen Sprunggelenks. Physiologisch verläuft die Mikulizc-Linie 4 (± 2) mm medial des Kniegelenkzentrums (Abb. 1a). Die anatomischen Femur- und Tibiaachsen entsprechen den Mittschaftlinien der langen Röhrenknochen. Sie bilden einen nach lateral offenen Winkel von 173–175°.

Die mechanische Femurachse ist als Verbindungslinie zwischen Hüftkopf- und Kniezentrum, die mechanische Tibiaachse als Verbindungslinie zwischen Kniegelenks- und Sprunggelenkszentrum definiert. Am Femur bilden die anatomische und mechanische Achse einen Winkel (aMFW) von 6° (± 1°). Die anatomische und mechanische Tibiaachse sind nahezu identisch (Abb. 1b). Die Kniebasislinie (Tangente der Femurkondylen) und die Tibiaplateaulinie bilden den Gelenkflächenwinkel (GFW) bzw. joint line convergence angle (JLCA). Physiologisch verlaufen die beiden Tangenten annähernd parallel (0–3°).

Die anatomischen und mechanischen Gelenkwinkel an Knie- und Sprunggelenk werden durch den Winkel zwischen Kniebasis- bzw. Sprunggelenklinie und den jeweiligen Achsen bestimmt. Der mechanische laterale distale Femurwinkel (mLDFW) beträgt 87° ± 3°. In Bezug auf die Kniebasislinie bildet die anatomische Femurachse einen distalen lateralen Femurwinkel (aLDFW) von 81 ± 2°. Tibial beträgt der mediale proximale Tibiawinkel (MPTW) der anatomischen und mechanischen Achse 87° ± 3° und der laterale distale Tibiawinkel (LDTW) 89° ± 3° ( Abb. 2 und 3).

Das große Bewegungsausmaß, vor allem in der Beugefähigkeit, ist durch die Anatomie der Femur- und Tibiadiaphyse sowie der Konfiguration der Gelenkkondylen bedingt. In der Sagittalebene sind sowohl die Femur- als auch die Tibiadiaphyse konkav nach dorsal gekrümmt. Das Tibiaplateau ist um etwa 6° ± 3° nach dorsal geneigt (tibialer Slope) und gegenüber der Femurschaftachse leicht nach dorsal versetzt [6]. Hierdurch wird ein knöchernes und weichteiliges Impingement verhindert.

Ursachen von
Achsfehlstellungen

Zahlreiche Faktoren können ursächlich für eine Abweichung von der physiologischen Beinachse sein. Im Kindesalter gibt es physiologische Beinachsabweichungen, wobei es sich um vorübergehende Phasen handelt. Im Säuglings- und Kleinstkindalter zeigt sich eine deutliche O-Bein(Genu varum)-Stellung. Durch die mechanische Belastung nach Laufbeginn kommt es zu einer Aufrichtung der Beinachse bis etwa zum 2. Lebensjahr, welche dann in eine X-Bein(Genu valgum)-Stellung mit maximaler Ausprägung zwischen dem 3. und 4. Lebensjahr übergeht. Die endgültige Achsausrichtung ist ca. im 8.–10. Lebensjahr erreicht [7].

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