Übersichtsarbeiten - OUP 09/2019

Physiologische Achsverhältnisse und Auswirkung von Achsenfehlstellungen der unteren Extremität

Fehlstellungen im Kindesalter können z.B. durch einen vorzeitigen Epiphysenfugenschluss (Trauma, Osteitis, Tumor), durch metabolische Erkrankungen (Rachitis, Phosphatdiabetes) und Osteopathien (renale Osteopathie) bedingt sein [8]. Bei myopathischen und neurogenen Systemerkrankungen werden Beinachsfehlstellungen gehäuft beobachtet. Im Erwachsenenalter ist die posttraumatische Achsenfehlstellung sowie der sekundäre Knorpelschaden nach Meniskektomie zu nennen [9].

Abweichungen von den physiologischen Achsen können in der Frontal-, Sagittal- und Transversalebene auftreten. Sind mehrere Ebenen betroffen, handelt es sich um komplexe Achsdeviationen. In der Transversalebene werden Rotations- und Torsionsfehlstellungen beschrieben. Die klinisch häufigsten Achsabweichungen treten in der Frontalebene (Varus-Valgus-Deviation) auf und werden daher im Weiteren näher behandelt.

Analyse von Achsenfehlstellungen

Eine strukturierte Analyse ist die Grundlage für eine erfolgreiche Diagnostik und Therapie von Beinachsdeformitäten. Diese beginnt mit der klinischen Untersuchung des Patienten. Beim Betreten des Untersuchungszimmers und Entkleiden können bereits inspektorisch Asymmetrien und Störungen des Gangzyklus erkannt werden. In der frontalen Aufsicht ergibt sich ein erster Eindruck der Beinachse. Eine einfache Methode zur Evaluation des Ausmaßes frontaler Beinachsabweichungen ist die Messung des Abstands zwischen den Femurkondylen und Innenknöcheln. Bei einem positiven Interkondylarabstand handelt es sich um Genua vara, bei positivem Intermalleolarabstand um Genua valga. Ebenfalls sollte auf eine vermehrte Ante- bzw. Rekurvation in der Sagittalebene und auf Rotationsabweichungen geachtet werden.

Im eigenen Vorgehen empfehlen wir folgende radiologische Standarddiagnostik:

Ganzbeinaufnahme mit Referenzkugel

seitliche Aufnahme

Patella axial.

Abhängig von der Anamnese und den klinischen Befunden wird zusätzlich eine Rosenberg-Aufnahme (ap-Aufnahme in 45°-Beugung unter Belastung) zur Bestimmung von Gelenkspaltverschmälerungen angefertigt.

Bei der Ganzbeinaufnahme wird der Fokus auf das Kniegelenk eingestellt. Die Patella muss streng nach ventral orientiert sein, um Messfehler zu vermeiden. Nun erfolgt die systematische Analyse anhand der oben beschriebenen Gelenkwinkel. Nach dem Einzeichnen der Mikulicz-Linie wird der Malalignment-Test nach Paley durchgeführt [10]. Der Abstand vom Mittelpunkt des Tibiaplateaus zur Mikulicz-Linie wird als MAD (main axis deviation) bezeichnet. Ist dieser > 15 mm nach medial verlagert, handelt es sich um ein Genu varum, und bei einem Abstand > 10 mm nach lateral um ein Genu valgum (Abb. 4). Abweichungen der Beinachse können femoral und/oder tibial bedingt sein. Zur Differenzierung erfolgt die Bestimmung des mechanischen lateralen distalen Femurwinkels (mLDFW) und des mechanischen medialen proximalen Tibiawinkels (mMPTW). Der Normwert für beide Winkel beträgt 87° ± 3° (Abb. 5).

Eine femoral bedingte Varusfehlstellung liegt bei einer Vergrößerung des mLDFW vor. Ist der mMPTW geringer als der Normwert, handelt es sich um eine tibial bedingte varische Achsabweichung (Abb. 6). Umgekehrt ist beim Genu valgum der mLDFW kleiner und der mMPTW größer als der Normwert (Abb. 7). Bei ausgeprägten Achsabweichungen liegen häufig kombinierte femorale und tibiale Achsdeviationen vor.

Zum Abschluss der strukturierten Analyse der Beinachsen wird der Gelenkflächenwinkel (GFW bzw. JLAC) bestimmt. Der GFW (Normwert 0–3°) gibt Rückschlüsse auf Bandinstabilitäten und Knorpelverluste als (Mit-)Ursache für Achsabweichungen. Ein medial vermehrt geöffneter GFW kann durch eine Innenbandinstabilität und/oder einen lateralen Knorpelverlust verursacht sein. Ist der GFW lateral geöffnet, kommen als Ursache eine laterale Bandinstabilität und/oder ein medialer Knorpelverlust in Frage.

In der seitlichen Röntgenaufnahme erfolgt die Bestimmmung der Patellahöhe und des tibialen Slope. Zur Messung der Patellahöhe gibt es verschiedene Methoden. Der Caton-Dechamps-Index berechnet sich aus dem Quotienten des Abstands der distalen Begrenzung der Facies articularis der Patella zum ventralsten Punkt des Tibiaplateaus und der Ausdehnung der retropatellaren Facies articularis [11]. Der Normwert ist zwischen 0,6 und 1,3 (Abb. 8) definiert. Bei einem Wert unter 0,6 handelt es sich um eine Patella baja und bei einem Wert über 1,3 um eine Patella alta. Der Blackburn-Peel-Index berechnet sich aus dem Abstand von der distalen Begrenzung der Patellagelenkfläche zur Senkrechten des Tibiaplateaus im Verhältnis zur Facies articularis gesetzt (Abb. 9) [12]. Der Normwert beträgt 0,8. Eine Patella alta liegt bei einem Index > 1,0 und eine Patella baja bei einem Index < 0,5 vor. Der Insall-Salvati-Index bildet einen Quotienten aus der Strecke vom Apex der Patella zum Ansatz der Patellarsehne an der Tuberositas tibiae und der größten diagonalen Länge der Patella (Abb. 10) [13]. Der Normbereich liegt zwischen 0,8 und 1,2. Werte > 1,2 werden als Patella alta und Werte < 0,8 als Patella baja bezeichnet. Unabhängig davon, welche Messmethode mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen angewandt wird, ist es wichtig, einen Eindruck über die Patellahöhe zu gewinnen. Diese Kenntnisse sind essenziell bei der Planung und Durchführung der tibialen Osteotomie. Bei einer Patella baja sollte im Rahmen der Osteotomie die biplanare Schnittführung absteigend erfolgen.

Die Messung des tibialen Slope erfolgt ebenfalls in der seitlichen Röntgenaufnahme. Bei der Messung nach Brazier wird eine gerade an die dorsale Tibia angelegt und dazu eine Senkrechte gezogen (Abb. 11). Der Winkel zwischen der Senkrechten und dem Tibiaplateau bildet den tibialen Slope [14]. Eine weitere Methode ist die Bestimmung nach Moore und Harvey (Abb. 12). Hierbei wird eine Gerade an der ventralen Tibia angelegt und die Senkrechte dazu eingezeichnet [15]. Den tibialen Slope bildet, wie bei der Methode nach Brazier, der Winkel zwischen der Senkrechten und dem Tibiaplateau. Beide Methoden eignen sich zur Bestimmung des tibialen Slope bei kurz abgebildeten Tibiaschaftanteilen.

Auswirkung von Achsfehlstellung

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