Informationen aus der Gesellschaft - OUP 07-08/2012

Placebo-Therapie ist wirksam
Rede des Kongresspräsidenten Prof. Martin Krismer zur 60. Jahrestagung der VSOU am 28.04.2012 in Baden-Baden

Viele wichtige Behandlungsarten am Bewegungsapparat sind Placebo-äquivalente Therapien. Natürlich ist ein solcher Sachverhalt auch ein Appell an mehr Forschung. Bei all diesen Therapien hat der Placebo-Effekt einen wesentlichen Anteil am Gesamteffekt.

Die negativen Folgen einer Placebo-Therapie

Der Begriff „Placebo-Therapie“ hat eine negative Konnotation. Auf den Einwand, „Das ist ja nur eine Placebo-Therapie.“, kommt oft die Replik: „Aber, Herr Krismer, Sie müssen bedenken, dass auch die Placebo-Therapie wirkt, und noch dazu hat sie keine Nebenwirkungen!“.

Im Großen und Ganzen stimmt diese Replik. Dass dem nicht ganz so ist, erhellt das Beispiel Knorpelglättung bei Arthrose. Es kann durchaus eine Infektion als Folge des Eingriffs entstehen. Sonst sind die Nebenwirkungen vorwiegend von den Erwartungen abhängig.

Gibt es wirksame Therapien als Alternative zu einer Placebo-Therapie, so entstehen Opportunitätskosten. Wenn statt einer Chemotherapie bei Krebs eine unwirksame Therapie durchgeführt wird, können die Opportunitätskosten im vorzeitigen Tod bestehen

Wenn man dem Patienten nicht klar macht, dass man eine Placebo-äquivalente Therapie einsetzt, unterminiert man das Vertrauen des Patienten, wenn dieser den Sachverhalt entdeckt. Der Vertrauensverlust trifft allerdings dann oft alle Ärzte.

Moralische Aspekte

Die Verwendung von Placebo-äquivalenten Therapien hat moralische Aspekte, die uns häufig nicht gegenwärtig sind. Als Einführung beginne ich mit einem Gedankenexperiment:

Sie suchen eine auf Tuning spezialisierte Reparaturwerkstatt auf und möchten die Leistung Ihres BMW steigern lassen. Ihnen wird versichert, der Motor werde nach den geplanten Änderungen 50 PS mehr Leistung haben. Dafür zahlen Sie 5.000,-- Euro. Gleichbleibender Treibstoffverbrauch macht Sie misstrauisch. Bei einem späteren Test wird gefunden, dass die Leistung der Leistung vor dem Tuning entspricht.

Würden Sie die Tuning-Firma wegen Betrugs klagen?

Bestehen Parallelen zu einer Akupunktur-Behandlung wegen chronischen Kreuzschmerzen, wenn der Patient nach erfolgloser Behandlung auf den oben erwähnten Cochrane Review stößt?

Offensichtlich ist wichtig, was mitgeteilt wird. Hätte die Tuning-Firma mitgeteilt, dass eine Leistungssteigerung wahrscheinlich eintritt, aber nicht garantiert werden kann, dann wäre der Fall anders gelagert.

Derartige Fälle sind häufig mit moralischen Urteilen verbunden. Solche moralische Urteile existieren auch zwischen konservativ und operativ tätigen Orthopäden und Unfallchirurgen:

„Er ist so geldgierig. Dem entkommt kein Patient. Bei Gonarthrose macht er immer zuerst eine Arthroskopie und ein halbes Jahr später ein Knie-Prothese!“

„Er ist wie ein Voodoo-Zauberer. Er verwendet jede erdenkliche Therapie von Iliosakral-Therapie bis Ayurveda. Seit kurzem malt er gegen Geld Buchstaben auf Patienten!“

Solche moralischen Urteile gibt es auch unter Mitgliedern der VSOU. Daher sind sie interessant und wichtig, und ich werde Sie auf einen Exkurs in die Welt moralischer Urteile mitnehmen:

Moralische Urteile haben Besonderheiten. Urteile wie „Sie Betrüger!“ oder „Er ist ein selbstloser, begeisterter Arzt!“ sind mit starken Emotionen verbunden. Ein Philosoph vertritt sogar die Meinung, dass bei moralischen Urteilen der emotionale Hund mit seinem rationalen Schwanz wedelt [6]. Er begründet dies unter anderem mit einem Experiment, bei dem leicht hypnotisierbare Personen in Hypnose den Auftrag erhielten, bei zufällig ausgewählten Wörtern wie dem Wort „oft“ Ekel zu empfinden. Dann wurden den Personen Kurzgeschichten erzählt, die manchmal etwas moralisch Verwerfliches enthielten, dann wieder nicht, z.B.: „Daniel ist der Schülervertreter der Schule. Dieses Semester organisiert er eine Reihe von Diskussionen über akademische Themen. Er wählt oft Themen aus, die sowohl den Schülern als auch den Professoren gefallen.“ Interessanterweise empfinden die Versuchspersonen nicht nur Ekel, wie in Hypnose aufgetragen, sondern verurteilen Daniel auch moralisch, weil er ein Snob ist, bis zu „ich weiß nicht genau, was er falsch macht, aber es ist nicht richtig, was er macht“.

Moralische Urteile sind Diskussionsstopper. Die Aussage: „Man darf einen Menschen nicht töten, nur weil man Lust darauf hat!“ braucht man nicht mehr weiter diskutieren. Sie können aber nur dann Diskussionsstopper sein, wenn sie den Anspruch der allgemeinen Gültigkeit erheben.

Trotz des Anspruchs der Allgemeingültigkeit wird man für die meisten moralischen Urteile zumindest 2 Menschen finden, die eine gegensätzliche Position vertreten. Denken Sie an Guantanamo. Viele Amerikaner halten Folter für erlaubt und notwendig, um einen weiteren Anschlag wie den auf das World Trade Center zu verhindern. Viele Europäer lehnen Folter auch in diesem Fall strikt ab.

Wir haben somit die paradoxe Situation, dass die Autorität moralischer Urteile auf ihrer vermeintlichen Allgemeingültigkeit beruht, während moralische Urteile wohl eher zu gesellschaftlich erwünschtem Verhalten ermutigen. Werte sind wohl eines der wichtigsten Mittel zur gegenseitigen Koordinierung des Lebens. Wir appellieren an sie, um etwas gemeinsam zu erreichen [7].

Unterschiedliche Berufsgruppen, ob niedergelassen oder im Krankenhaus tätig, haben etwas unterschiedliche Ziele und auch Werte. Die Fiktion der Allgemeingültigkeit ist nur erreichbar, wenn wir uns auf allgemein gesellschaftlich akzeptierte Ziele stützen.

Gehen wir von der Idee des mündigen Staatsbürgers aus, der für sich entscheiden kann, welche politische Partei er wählt, ob er Schulden macht, und welcher Behandlung er sich unterzieht. Es ist notwendig, dass er für seine Entscheidungen ausreichend informiert wird. So wie es dessen Einwilligung bedarf, um eine Operation durchzuführen, so ist es nur konsistent, dass wir unseren Patienten sagen müssen, wenn wir eine Placebo-äquivalente Behandlung durchführen.

Damit stehen wir aber vor einem Dilemma! Wir müssen sagen, dass wir eine Placebo-Behandlung empfehlen. Sagen wir dies, so gefährden wir den Erfolg der Behandlung!

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