Arzt und Recht - OUP 09/2012

Schweigepflicht über den Tod hinaus

Hier hatte der beklagte Arzt vorgetragen, der Patient habe sich vor seinem Tod von seiner Familie und insbesondere von der Klägerin distanziert, da er sich von ihr allein gelassen gefühlt habe. Die Herausgabe entspreche nicht dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen.

Das Oberlandesgericht stellte sich zwar auf den Standpunkt, dass der Wahrung des Arztgeheimnisses der Vorrang zukommt, soweit von der ärztlichen Schweigepflicht her ernstliche Bedenken gegen eine Einsicht von Erben oder Hinterbliebenen bestehen. Bei der Erforschung des mutmaßlichen Willens des verstorbenen Patienten spiele jedoch auch das Anliegen der die Einsicht begehrenden Personen (Geltendmachung von Ansprüchen) eine entscheidende Rolle. Es spreche einiges dafür, dass sich der Verstorbene einem solchen Anliegen (Verfolgung von Behandlungsfehlern) nicht verschlossen hätte. In Fällen dieser Art werde es die Ausnahme sein, dass von einem Geheimhaltungswunsch des Patienten ausgegangen werden muss.

Auch wenn die Entscheidung des Arztes ihrer Natur nach an sich nicht justiziabel sei, weil dies von vornherein die Preisgabe des möglicherweise schutzbedürftigen Geheimnisses bedingen würde, müsse sich der Arzt bewusst sein, dass er die Einsicht nur verweigern darf, wenn gegen diese von seiner Schweigepflicht her mindestens vertretbare Bedenken bestehen können. Um der Gefahr zu begegnen, dass der Arzt aus sachfremden Gründen eine Einsicht verweigert, müsse der Arzt zumindest darlegen, unter welchem allgemeinen Gesichtspunkt er sich durch die Schweigepflicht an der Offenbarung der Unterlagen gehindert sieht, d.h. seine Weigerung auf konkrete oder mutmaßliche Belange des Verstorbenen stützen. Eine Begründung der Verweigerung kann nur in diesem allgemeinen Rahmen verlangt werden, da andernfalls die damit zu rechtfertigende Geheimhaltung im Ergebnis doch unterlaufen würde. Sofern die von dem Arzt in diesem Rahmen angeführten Gründe nicht nachvollzogen werden und eine Weigerung nicht rechtfertigen können, sei daher von einer mutmaßlichen Einwilligung auszugehen.

Soweit der Arzt sich im vorliegenden Fall darauf berufe, dass der verstorbene Patient sich vor seinem Tod von seiner Familie distanziert habe und erklärt haben soll, dass seiner Familie aus seinem Vermögen nichts zustehe, rechtfertige dies keine Verweigerung. Der Ehemann der Klägerin habe schließlich keinen Anlass gesehen, seine Familie testamentarisch von der Vermögensnachfolge auszuschließen bzw. ihre Ansprüche auf den Pflichtteil zu beschränken. Die angebliche Äußerung des verstorbenen Patienten sei vielmehr inhaltlich zutreffend, da zu Lebzeiten weder der Ehefrau noch den Kindern sein Vermögen zustand. Eine Aussage, dass seine Familie nach seinem Tod von dem noch vorhandenen Vermögen nichts erhalten solle, könne dem Zitat hingegen nicht entnommen werden.

Die von dem Arzt behauptete Distanzierung des verstorbenen Patienten von seiner Familie sei zumindest auch nicht nach außen getreten. Dieser Einschätzung des Beklagten könne allenfalls auf die Äußerungen des Patienten gegenüber ihm bzw. der in der Praxis des Beklagten tätigen Ärztin beruhen. Es sei nicht zu vertiefen, wie Äußerungen von todkranken Patienten zu bewerten sind und wie etwaige kritische oder gar verbitterte Aussagen über die Familie in Anbetracht der Hoffnungslosigkeit der Situation des Patienten einzuordnen sind. Des Weiteren sei zu bedenken, ob solche Aussagen eine die Angehörigen kränkende Wertung rechtfertigen können, dass der Ehemann bzw. der Vater sich von seiner Familie völlig distanziert habe. Insoweit sei gegenüber derartigen Bewertungen eines Arztes Zurückhaltung geboten. Dies gelte gerade vor dem Hintergrund, dass der Beklagte ein Interesse daran haben könnte, die Behandlungsunterlagen nicht herauszugeben, um eine Auseinandersetzung über seine nicht unumstrittenen Behandlungsmethoden zu vermeiden. Der Patient lebte schließlich bis zu seinem Tod in häuslicher Gemeinschaft mit der Klägerin, die Klägerin war in die Behandlung involviert und begleitete ihren Ehemann zur Behandlung beim Beklagten.

Soweit sich der Arzt darauf berufen habe, dass der verstorbene Patient geäußert habe, dass er möchte, dass alle Unterlagen bei dem Arzt bleiben und die Daten vertraulich behandelt werden, könne aus dieser Äußerung nicht gefolgert werden, dass der Patient auch nach seinem Tod die Einsicht in die Krankenunterlagen durch seine Ehefrau unter keinen Umständen gewollt hat. Allein der Umstand, dass der Patient dem Arzt und seiner Methode Vertrauen geschenkt habe, rechtfertige nicht den Schluss, dass der Patient auch eine nachträgliche Überprüfung der Behandlung verhindern wollte.

Die von dem Beklagten vorgebrachten Umstände seien demnach nicht hinreichend, da sie keinerlei konkrete Umstände und Tatsachen enthalten, die die Entscheidung des Beklagten nachvollziehbar erscheinen lassen. Allein die Berufung auf den postmortalen Persönlichkeitsschutz reiche nicht aus, da – wie der Beklagte selbst in der mündlichen Verhandlung angegeben hat – in den Unterlagen keinerlei ehrenrührige Tatsachen über den Patienten enthalten sind.

Bayerischer
Verfassungsgerichtshof vom 26.05.2011

Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts München I in dem Vorprozess hatte der Arzt Verfassungsbeschwerde zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof eingelegt. Dieser wies die Beschwerde zurück. Die Entscheidungen würden der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entsprechen, wonach den Erben eines Patienten ein Recht auf Einsicht in die Behandlungsunterlagen zusteht, wenn ausdrückliches oder vermutetes Einverständnis des Verstorbenen mit der Offenlegung gegeben ist (BGH vom 31.05.1983). Die ärztliche Schweigepflicht stehe einer Offenlegung der Behandlungsunterlagen nur dann entgegen, wenn der Arzt zumindest darlegt, unter welchem allgemeinen Gesichtspunkt er sich durch die Schweigepflicht einer Offenlegung der Unterlagen gehindert sehe.

Oberlandesgericht München I vom 19.09.2011

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