Arzt und Recht - OUP 10/2012

Straf- und Haftungsfalle: Befunderhebungspflicht auch auf fremdem Fachgebiet

Rechtsanwalt Dr. Christoph Osmialowski, Karlsruhe

Einleitung

Die Fachgebietsgrenze definiert den Bereich, in dem eine Ärztin/ein Arzt auf Grundlage einer entsprechenden Zulassung durch den Zulassungsausschuss Leistungen in der vertragsärztlichen Versorgung und nach den berufsrechtlichen Vorgaben erbringen und abrechnen darf. Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um eine vertragsarzt- und berufsrechtliche Beschränkung, die den Facharzt nicht auf die Tätigkeit ausschließlich in seinem Fachgebiet beschränkt. Insbesondere ist der Facharzt nicht von seiner Pflicht entbunden, bei jedem Patienten neben seiner fachgebietsspezifischen Spezialkenntnisse die allgemeine berufsspezifische Sorgfalt aufzuwenden.

Als Grundlage zur Erfüllung dieser Sorgfaltspflichten muss insbesondere auch die Anamnese entsprechend umfassend erhoben werden. Sofern mangels ausreichender Anamnese eine erforderliche Befunderhebung unterbleibt, stellt sich die Frage, ob der für die Erhebung der Anamnese verantwortliche Arzt den Sachverhalt zu einseitig ermittelt hat. Dies kann gegebenenfalls sogar einen groben Behandlungsfehler darstellen, der in einem Arzthaftpflichtprozess zur Beweislastumkehr zugunsten des verletzten Patienten bzw. der Erben eines verstorbenen Patienten führt.

Grenzen und Inhalte der Anamnese und Befunderhebung(sveranlassung) durch einen Orthopäden über die Grenzen seines Fachgebietes hinaus hatte jüngst das Oberlandesgericht Koblenz zu beurteilen. In seiner Entscheidung vom 30.01.20121 kam es zu dem Ergebnis, dass der beklagte Orthopäde seine Sorgfaltspflichten nicht erfüllt und deshalb Schadensersatz zu leisten hatte. Der Streitwert belief sich auf 348.525,34 $.

Zum Sachverhalt

Der beklagte Orthopäde untersuchte und behandelte einen Patienten im Universitätsklinikum, wohin der Patient, selbst Rettungssanitäter von Beruf, von 2 Kollegen mit dem Krankenwagen unter Einsatz von Blaulicht und Martinshorn transportiert worden war. Der Patient schilderte außergewöhnlich starke Schmerzen der linken Körperseite und äußerte den Verdacht, dass diese – ähnlich wie im Oktober des Vorjahres – auf der Einklemmung eines Nervs im Bereich der Halswirbelsäule beruhten. Hierbei erwähnte der Patient, „das Ganze sei bereits internistisch abgeklärt“. Damit meinte der Patient eine im Vorjahr erfolgte internistische Befunderhebung, während der beklagte Orthopäde davon ausging, dass die internistische Untersuchung an demselben Tag vor der Vorstellung bei ihm erfolgt war.

Der beklagte Orthopäde diagnostizierte eine Querwirbelblockade und eine Muskelverspannung und entließ den Patienten nach Hause. 1 Stunde 20 Minuten nach der Entlassung fand die Ehefrau den Patienten bewusstlos; der herbeigerufene Notarzt konnte nach erfolgloser Reanimation nur noch den Tod feststellen.

Eine Obduktion ergab, dass der verstorbene Patient ältere Herzmuskelinfarkte im Bereich der Kammerrückwand links zur Herzspitze und Kammerscheidewand erlitten hatte sowie Zeichen frischer Herzmuskeluntergänge im Bereich des alten Herzmuskelinfarktbezirks. Todesursache war letztendlich ein akuter vollständiger Verschluss der rechten Herzkranzarterie.

Aufgrund der versäumten Abklärung des internistischen Befundes hatte das Strafgericht wegen fahrlässiger Tötung gegen den Orthopäden bereits eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen festgesetzt. Der Orthopäde wurde zudem von der Ehefrau und den beiden Kindern des verstorbenen Patienten auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verklagt.

In dem Arzthaftungsprozess verteidigte er sich in I. Instanz vor dem Landgericht (LG) damit, dass die von ihm gestellte Diagnose aufgrund der Schilderung der Vorgeschichte und der aktuell vom Patienten geklagten Beschwerden vertretbar gewesen sei. Er habe das zur Sprache gekommene EKG und die internistische Untersuchung nicht dem Vorjahr zugeordnet und habe diese auch nicht dem Vorjahr zuordnen müssen. Das LG kam jedoch zu dem Ergebnis, dass das Beschwerdebild am Tag der Untersuchung durch den beklagten Orthopäden eine internistische Abklärung erfordert habe. Diese zu veranlassen sei Sache des beklagten Orthopäden gewesen. Da es sich bei dem Versäumnis um einen groben Behandlungsfehler handele, erfolge eine Umkehr der Beweislast zulasten des beklagten Orthopäden. Er habe den erforderlichen Entlastungsbeweis jedoch nicht geführt.

In seiner Berufung vor dem Oberlandesgericht (OLG) Koblenz stellte sich der beklagte Orthopäde unter anderem auf den Standpunkt, dass die Erklärungen des Patienten irreführend waren und einer dem Patienten selbst anzulastenden Blickverengung auf ein vermeintlich orthopädisches Problem unterlagen.

Aus den Gründen:

Das OLG kam zu dem Ergebnis, dass die Berufung nicht begründet ist. Das angefochtene Urteil des LG halte dem Berufungsangriff stand. Der beklagte Orthopäde sei allen 3 Klägern schadensersatz- und unterhaltspflichtig. Zudem habe er an die Ehefrau als Alleinerbin des Patienten Schmerzensgeld zu zahlen.

Befunderhebungsversäumnis

Dem beklagten Orthopäden sei ein Befunderhebungsversäumnis unterlaufen. Die gebotene alsbaldige internistische Befunderhebung hätte einen infarktbedingten Untergang der Herzbeutelmuskulatur zutage gefördert; die daran anknüpfende unverzügliche kardiologische und internistische Krisenintervention hätte das Leben des Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit gerettet. Der beklagte Orthopäde sei nicht lediglich verpflichtet gewesen, entsprechend dem ausdrücklichen Wunsch des Patienten eine Befunderhebung und Behandlung nur auf seinem orthopädischen Fachgebiet vorzunehmen.

Zwar könnte das selbstbewusste und sachkundige Auftreten des Patienten, der nicht nur die auf einer CD-ROM gespeicherten (veralteten) Befundbilder eines orthopädischen Problems der Wirbelsäule präsentierte, sondern darüber hinaus eine scheinbar plausible Eigendiagnose, in die Irre führen. Daraus ließe sich aber nicht ableiten, dass der Behandlungsvertrag auf orthopädische Befunderhebung und Diagnose beschränkt war. Selbstverständlich habe jeder Patient den Wunsch, dass alles zur Erforschung und Behebung seiner Erkrankung Erforderliche getan wird. Dies gelte ungeachtet der jeweiligen Spezialisierung des befragten Arztes.

Damit sei der konsultierte Spezialist auch nicht überfordert, da ihm nicht abverlangt werde, auch in einem fremden Fachgebiet sachkundig tätig zu werden. Er habe die ganz selbstverständliche Pflicht, selbstkritisch die Grenzen seiner eigenen Erkenntnismöglichkeiten auf dem jeweiligen Fachgebiet zu erkennen und zu erwägen, dass angesichts der mannigfachen denkbaren Ursachen für eine Erkrankung oder Beschwerdesymptomatik der Arzt einer anderen Fachrichtung hinzugezogen werden muss.

Hierbei nimmt das OLG auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 21.12.20102 Bezug: Ein Anästhesist hatte auf einer vor einer Meniskusoperation gefertigten Röntgenaufnahme (auch) der Lunge ein Adenokarzinom übersehen, das bei rechtzeitiger Diagnose noch vor Metastasierung hätte entfernt werden können. Der BGH kam zu dem Ergebnis, dass der für die Auswertung des Befundes medizinisch verantwortliche Anästhesist all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen hatte, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachgebietes unter Berücksichtigung der in seinem Fachgebiet vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation hätte feststellen müssen. Hierbei durfte er vor in diesem Sinne für ihn erkennbaren „Zufallsbefunden“ nicht die Augen verschließen, auch wenn sie ein anderes medizinisches Fachgebiet betreffen.

Hiervon ausgehend stellte das OLG Koblenz im Falle des Orthopäden fest, dass es an einer sorgfältigen Anamnese fehlte, die Grundlage jeden ärztlichen Handelns sein müsse. Er wäre verpflichtet gewesen, den Patienten zu fragen, wann die akuten, von dem Patienten als unerträglich beschriebenen Schmerzen an diesem Tag erstmals aufgetreten waren. Dann hätte er erfahren, dass die Schmerzsymptomatik erstmals vor knapp einer Stunde aufgetreten war. Daraus ergäbe sich ohne Weiteres, dass eine internistische Abklärung dieses Befundes nicht erfolgt sein konnte. Das Erfordernis einer derartigen Abklärung habe der beklagte Orthopäde am Untersuchungstag aber gesehen. Er habe selbst erklärt, dass der Patient angesprochen habe, dass er wegen der Schmerzen schon internistisch abgeklärt wäre. Der beklagte Orthopäde habe aber nicht mehr dezidiert nachgefragt, ob dies auch an diesem Tag erfolgt sei, sondern es so verstanden, dass die internistische Abklärung zeitnah an diesem Tag erfolgt war.

In Anbetracht der Tatsache, dass auf der vom Patienten am Untersuchungstag mitgeführten CD-ROM Bilder einer im Jahr 2006 erfolgten orthopädischen Befunderhebung gespeichert waren, ist es für das OLG nicht nachvollziehbar, weshalb keine weitergehende Anamnese erfolgte. Derart veraltete Bilder hätten allenfalls für einen Befundvergleich von Bedeutung sein können. Dem beklagten Orthopäden hätte nicht verborgen bleiben dürfen, dass der von dem Wunsch nach alsbaldiger Linderung der unerträglichen Schmerzen geprägte Bericht des Patienten über lange zurückliegende Untersuchungen keinen Bezug zur aktuellen Beschwerdesymptomatik haben konnte. Das von Zeugen mit dem Wort „Toben“ umschriebene Verhalten des Patienten hätte zwar bei dem beklagten Orthopäden erheblichen Handlungsdruck hervorrufen können und habe dies wohl auch getan. Gerade in einer derartigen Situation müsse jedoch von einem Arzt erwartet werden, dass er besonnen bleibt. Hierzu gehöre auch, dass er die scheinbar sachkundige Eigendiagnose eines derart verhaltensauffälligen Patienten besonders kritisch hinterfragt.

Die pflichtgemäße ergänzende Hinterfragung bzw. Befragung des Patienten hätte ergeben, dass die aktuelle Beschwerdesymptomatik erst eine Stunde zuvor unter Umständen aufgetreten war, die nicht ohne Weiteres an ein orthopädisches Problem denken ließen (Verheben, Verrenken etc.). Damit hätte das Erfordernis einer ergänzenden internistischen Abklärung offen zutage gelegen. Die Erklärung des Patienten zu der „internistischen Untersuchung“ hätte der beklagte Orthopäde dann nicht zeitlich derart falsch eingeordnet.

Kein grober Behandlungsfehler, dennoch
Beweislastumkehr

Für überzogen hält das Oberlandesgericht jedoch das „harsche“ Urteil des Landgerichts, dass ein grober Behandlungsfehler vorliege. Es müsse einbezogen werden, dass das außerordentlich selbstbewusste und von angeblicher Sachkunde geprägte Verhalten des Patienten den Blick auf die wahre Schmerzursache verstellen konnte. Deren konkrete Abklärung und die internistische Weiterbehandlung oblagen zudem nicht dem Beklagten als Orthopäden, sodass sich schwerlich von einem groben Behandlungsfehler sprechen lässt.

Gleichwohl erfolge aus dem an die unzureichende Anamnese anknüpfenden Versäumnis, für eine internistische Befunderhebung zu sorgen, eine Beweislastumkehr zulasten des Orthopäden, wenn bereits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung ein grobes ärztliches Versäumnis darstellt. Jedoch auch eine nicht grob fehlerhaft unterlassene Befunderhebung kann zu einer Umkehr der Beweislast führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde. In einem derartigen Fall führe bereits das (nicht grob fehlerhafte) Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten hinsichtlich des Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird3.

Schuldhaftes Versäumnis

Der beklagte Orthopäde handelte auch schuldhaft. Er hätte sich durch die vermeintliche berufsbedingte Sachkunde des Patienten (Rettungssanitäter) und dessen Wunsch nach alsbaldiger Applikation einer schmerzlindernden Spritze nicht auf eine falsche Fährte locken lassen dürfen. Jeder Arzt müsse die laienhaften „Diagnosen“, erst recht Medikationswünsche eines Patienten, mit kritischer Distanz aufnehmen. Insbesondere müsse er eigenverantwortlich sämtliche objektiven Befunde erheben und diese nicht nur unter dem möglicherweise verengten Blickwinkel seines eigenen Fachgebietes deuten.

Fazit

Die Entscheidung des OLG Koblenz stellt (dem BGH folgend nochmals) klar, dass ein Arzt bei der Anamnese und Befunderhebung nicht auf die Grenzen seines Fachgebiets beschränkt ist. Einen Maßstab, mit dem die über die Fachgebietsgrenzen hinausgehende Ermittlungspflicht und der jenseits der Fachgebietsgrenzen zu haltende Standard gemessen werden könnte, leistet die Entscheidung jedoch (leider auch) nicht. Folgender Erkenntnisstand lässt sich aufgrund der Rechtsprechung festhalten:

1. Der Arzt darf sich im Rahmen der Anamnese auf die tatsächlichen Angaben des Patienten verlassen. Das OLG München4 bestätigte dies unter der Maßgabe, dass kein Verdacht für die Unrichtigkeit der Angaben des Patienten besteht. Nur wenn die Angaben des Patienten eindeutig (wie in obigem Fall nicht) und zweifelsfrei (wie in obigem Fall ebenfalls nicht) sind, muss der Arzt keine weitergehende Befragung durchführen. Nicht überraschend ist in diesem Zusammenhang die Feststellung des OLG Koblenz, dass der Arzt sich nicht auf laienhafte „Diagnosen“ und vermeintliche berufsbedingte Sachkunde von Patienten verlassen darf.

2. Die Anamnese hat im Hinblick auf die vom Patienten geschilderten Beschwerden so umfassend wie möglich zu erfolgen. Das OLG Düsseldorf5 stellte hierzu fest, dass sämtliche Hintergründe der Befindlichkeitsstörungen näher zu erfragen und abzuklären sind. Der Arzt muss die Umstände so vollständig wie möglich (Beginn, Dauer, Verlauf, Vorgeschichte bzw. mögliche Ursache, Patientengewohnheiten) erfragen.

3. Auch jenseits der Fachgebietsgrenze wird von dem Arzt eine (Veranlassung der) Befunderhebung erwartet, jedoch lediglich eingeschränkt auf die vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten. Diese Einschränkung jenseits der Fachgebietsgrenze ergibt sich schon aus der oben dargestellten BGH Rechtsprechung, die auf „Zufalls“-Befunde abstellt, denen gegenüber der Arzt seine Augen nicht verschließen darf. Die Erkennbarkeit abklärungsbedürftiger Umstände jenseits der Fachgebietsgrenzen dürfte an dem durch das Medizinstudium vermittelten Wissen unter Berücksichtigung der allgemeinen Weiterbildungspflichten zu messen sein. Welche Einschränkungen sich nach der bisher von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Formel im Einzelfall aus der „berufsfachlichen Sicht des Fachgebietes“ und den „im Fachbereich vorausgesetzten Kenntnissen und Fähigkeiten“ ohne Haftungsgefahr ergeben (dürfen), muss jedoch von einem Sachverständigen für den Zeitpunkt der streitigen Anamnese festgestellt werden.

Der Facharzt, der eine umfassende Anamnese erhebt und zuvor seinen Weiterbildungspflichten nachgekommen ist, kann (anders als der Orthopäde im oben beschriebenen Fall) im Streitfall gute Gründe vorbringen, falls fachgebietsfremde Abklärungsbedürfnisse für ihn nicht erkennbar waren. Jedenfalls ist die Anamnese möglichst genau zu dokumentieren, um sich gegebenenfalls nicht abwendbarer Beweislasten entledigen zu können.

Korrespondenzadresse

RA Dr. Christoph Osmialowski

Kanzlei für ArztRecht

Fiduciastraße 2, 76227 Karlsruhe

kanzlei@arztrecht.org

www.arztrecht.org

Fussnoten

1 Az. 5 U 857/11.

2 Az. VI ZR 284/09.

3 vgl. bereits BGH, Urteil vom 21.09.1982, Az. VI ZR 302/80, ArztRecht 1983, 60 und BGH, Urteil vom 03.02.1987, Az. VI ZR 56/86, ArztRecht 1987, 279.

4 Urteil vom 10.08.2006, Az. 1 U 2438/06.

5 Urteil vom 15.05.1997, Az. 8 U 115/96.

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