Arzt und Recht - OUP 10/2012

Straf- und Haftungsfalle: Befunderhebungspflicht auch auf fremdem Fachgebiet

Hierbei nimmt das OLG auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 21.12.20102 Bezug: Ein Anästhesist hatte auf einer vor einer Meniskusoperation gefertigten Röntgenaufnahme (auch) der Lunge ein Adenokarzinom übersehen, das bei rechtzeitiger Diagnose noch vor Metastasierung hätte entfernt werden können. Der BGH kam zu dem Ergebnis, dass der für die Auswertung des Befundes medizinisch verantwortliche Anästhesist all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen hatte, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachgebietes unter Berücksichtigung der in seinem Fachgebiet vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation hätte feststellen müssen. Hierbei durfte er vor in diesem Sinne für ihn erkennbaren „Zufallsbefunden“ nicht die Augen verschließen, auch wenn sie ein anderes medizinisches Fachgebiet betreffen.

Hiervon ausgehend stellte das OLG Koblenz im Falle des Orthopäden fest, dass es an einer sorgfältigen Anamnese fehlte, die Grundlage jeden ärztlichen Handelns sein müsse. Er wäre verpflichtet gewesen, den Patienten zu fragen, wann die akuten, von dem Patienten als unerträglich beschriebenen Schmerzen an diesem Tag erstmals aufgetreten waren. Dann hätte er erfahren, dass die Schmerzsymptomatik erstmals vor knapp einer Stunde aufgetreten war. Daraus ergäbe sich ohne Weiteres, dass eine internistische Abklärung dieses Befundes nicht erfolgt sein konnte. Das Erfordernis einer derartigen Abklärung habe der beklagte Orthopäde am Untersuchungstag aber gesehen. Er habe selbst erklärt, dass der Patient angesprochen habe, dass er wegen der Schmerzen schon internistisch abgeklärt wäre. Der beklagte Orthopäde habe aber nicht mehr dezidiert nachgefragt, ob dies auch an diesem Tag erfolgt sei, sondern es so verstanden, dass die internistische Abklärung zeitnah an diesem Tag erfolgt war.

In Anbetracht der Tatsache, dass auf der vom Patienten am Untersuchungstag mitgeführten CD-ROM Bilder einer im Jahr 2006 erfolgten orthopädischen Befunderhebung gespeichert waren, ist es für das OLG nicht nachvollziehbar, weshalb keine weitergehende Anamnese erfolgte. Derart veraltete Bilder hätten allenfalls für einen Befundvergleich von Bedeutung sein können. Dem beklagten Orthopäden hätte nicht verborgen bleiben dürfen, dass der von dem Wunsch nach alsbaldiger Linderung der unerträglichen Schmerzen geprägte Bericht des Patienten über lange zurückliegende Untersuchungen keinen Bezug zur aktuellen Beschwerdesymptomatik haben konnte. Das von Zeugen mit dem Wort „Toben“ umschriebene Verhalten des Patienten hätte zwar bei dem beklagten Orthopäden erheblichen Handlungsdruck hervorrufen können und habe dies wohl auch getan. Gerade in einer derartigen Situation müsse jedoch von einem Arzt erwartet werden, dass er besonnen bleibt. Hierzu gehöre auch, dass er die scheinbar sachkundige Eigendiagnose eines derart verhaltensauffälligen Patienten besonders kritisch hinterfragt.

Die pflichtgemäße ergänzende Hinterfragung bzw. Befragung des Patienten hätte ergeben, dass die aktuelle Beschwerdesymptomatik erst eine Stunde zuvor unter Umständen aufgetreten war, die nicht ohne Weiteres an ein orthopädisches Problem denken ließen (Verheben, Verrenken etc.). Damit hätte das Erfordernis einer ergänzenden internistischen Abklärung offen zutage gelegen. Die Erklärung des Patienten zu der „internistischen Untersuchung“ hätte der beklagte Orthopäde dann nicht zeitlich derart falsch eingeordnet.

Kein grober Behandlungsfehler, dennoch
Beweislastumkehr

Für überzogen hält das Oberlandesgericht jedoch das „harsche“ Urteil des Landgerichts, dass ein grober Behandlungsfehler vorliege. Es müsse einbezogen werden, dass das außerordentlich selbstbewusste und von angeblicher Sachkunde geprägte Verhalten des Patienten den Blick auf die wahre Schmerzursache verstellen konnte. Deren konkrete Abklärung und die internistische Weiterbehandlung oblagen zudem nicht dem Beklagten als Orthopäden, sodass sich schwerlich von einem groben Behandlungsfehler sprechen lässt.

Gleichwohl erfolge aus dem an die unzureichende Anamnese anknüpfenden Versäumnis, für eine internistische Befunderhebung zu sorgen, eine Beweislastumkehr zulasten des Orthopäden, wenn bereits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung ein grobes ärztliches Versäumnis darstellt. Jedoch auch eine nicht grob fehlerhaft unterlassene Befunderhebung kann zu einer Umkehr der Beweislast führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde. In einem derartigen Fall führe bereits das (nicht grob fehlerhafte) Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten hinsichtlich des Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird3.

Schuldhaftes Versäumnis

Der beklagte Orthopäde handelte auch schuldhaft. Er hätte sich durch die vermeintliche berufsbedingte Sachkunde des Patienten (Rettungssanitäter) und dessen Wunsch nach alsbaldiger Applikation einer schmerzlindernden Spritze nicht auf eine falsche Fährte locken lassen dürfen. Jeder Arzt müsse die laienhaften „Diagnosen“, erst recht Medikationswünsche eines Patienten, mit kritischer Distanz aufnehmen. Insbesondere müsse er eigenverantwortlich sämtliche objektiven Befunde erheben und diese nicht nur unter dem möglicherweise verengten Blickwinkel seines eigenen Fachgebietes deuten.

Fazit

Die Entscheidung des OLG Koblenz stellt (dem BGH folgend nochmals) klar, dass ein Arzt bei der Anamnese und Befunderhebung nicht auf die Grenzen seines Fachgebiets beschränkt ist. Einen Maßstab, mit dem die über die Fachgebietsgrenzen hinausgehende Ermittlungspflicht und der jenseits der Fachgebietsgrenzen zu haltende Standard gemessen werden könnte, leistet die Entscheidung jedoch (leider auch) nicht. Folgender Erkenntnisstand lässt sich aufgrund der Rechtsprechung festhalten:

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