Übersichtsarbeiten - OUP 10/2017

Vaskularisierte Hybrid-Patellarekonstruktion nach totaler Patellektomie*

Goetz A. Giessler1, Christian Hendrich2

Zusammenfassung: Obwohl eine komplette Entfernung der Patella häufig in deutlich eingeschränkter Funktion, Schmerzen und Instabilität im betroffenen Knie resultiert, ist eine totale Patellektomie manchmal unvermeidlich. Gründe hierfür können eine traumatische Zerstörung, Neoplasien, Infektionen, schwerste Dysplasieformen oder fehlgeschlagene Operationen an der Patella sein. Alle derzeit käuflichen Patellaprothesen beruhen jedoch auf dem Vorhandensein restlichen patellären Knochens und sind deshalb nach einer kompletten Patellektomie eigentlich nicht verwendbar. Darüber hinaus sind die Optionen zur Rekonstruktion einer Neopatella durch avaskulären oder allogenen Knochen erheblich limitiert durch mechanisches Versagen, Resorption oder Infektion. Wir haben ein neuartiges Verfahren entwickelt, innerhalb von 3 operativen Schritten eine Hybrid-Patella zu rekonstruieren, welche aus einem am Knie revaskularisierten freien Knochentransplantat der Skapulaspitze besteht, in welchem vorher ein prothetischer Gleitflächensockel implantiert wurde. Das Verfahren erlaubt eine optimierte Heilung, ist sicher und führt daher zu einer relativ schnellen und stabilen Osteointegration der Prothese in lebendem Knochen. Die Bedeutung des vaskularisierten Transplantats halten wir für sehr bedeutend, wenn die extremen mechanischen Belastungen, die eine Patella bei uneingeschränkter Mobilität aushalten muss, berücksichtigt werden. Dieser Fall beschreibt zudem eine erfolgreiche interdisziplinäre Kommunikation und Zusammenarbeit und verdeutlicht ein weiteres Beispiel der Integration orthopädischer Prothesen in die Konzepte der Fabrikation von Chimärenlappen.

Schlüsselwörter: Patellarekonstruktion, fabrizierter Chimärenlappen, vaskularisiertes Knochentransplantat, Skapula, Patellektomie, Mikrochirurgie, Osteointegration, prothetischer Patellaersatz, Hybridlappen,

Zitierweise
Giessler GA, Hendrich C: Vaskularisierte Hybrid-Patellarekonstruktion nach totaler Patellektomie.
OUP 2017; 10: 506–510 DOI 10.3238/oup.2017.0506–0510

Summary: While total patellectomy often results in severely impaired function, pain and instability in the affected knee, it is sometimes still unavoidable. Reasons for this may be traumatic destruction, neoplasias, infections, severe patella dysplasia or failed operative procedures. Any patellar prosthetic solutions rely on a certain amount of remaining bone and therefore are not applicable after total patellectomy. Moreover, reconstruction of a neopatella by avascular or allogeneic bone grafts is hampered by mechanical failure, resorption or infection. We developed a new approach in 3 operative stages to reconstruct a hybrid patella composed of a revascularized scapula tip transplant fabricated with a prosthetic socket. The procedure provides optimal healing, is safe and allows relatively fast and solid prosthetic osteointegration in living bone. This is extremely important considering the considerable load a patella has to bear in unrestricted mobility. This case also demonstrates successful interdisciplinary communication and therapy and represents further integration of orthopedic prosthetic devices into current flap fabrication concepts.

Keywords: patella reconstruction, fabricated chimeric flap, vascularized bone transplant, scapula, patellectomy, microsurgery, osteointegration, prosthetic patella replacement, hybrid flap

Citation
Giessler GA, Hendrich C: Vascularized hybrid-patella reconstruction after total patellectomy.
OUP 2017; 10: 506–510 DOI 10.3238/oup.2017.0506–0510

Einleitung

Prothetischer Kniegelenkersatz bei Patienten mit vorhergehender kompletter Patellektomie nach Trauma, Infektionen, Fehlbildungen oder fehlgeschlagenen chirurgischen Eingriffen hat eine hohe Komplikationsrate. Vor allem sind hier eine reduzierte Kraftentwicklung und die insuffiziente Kniegelenkstabilisierung zu nennen [1, 6, 13]. Patellare prothetische Systeme sind im Wesentlichen für den Gleitflächenersatz entwickelt worden und bedürfen eines Minimums an verbleibendem Knochen der Restpatella zur soliden Verankerung. Nach einer kompletten Patellektomie sind diese Systeme üblicherweise nicht einsetzbar. Bisher wurden zur Rekonstruktion einer komplett fehlenden Patella avaskuläre autologe Knochenblöcke [2, 10] oder avaskuläre allogene ossäre- oder ligamentär-ossäre Transplantate verwendet [3, 5]. Sie haben aufgrund des Mangels an Durchblutung jedoch ein hohes Risiko der postoperativen Infektion, heilen nur langsam ein, versagen oft mechanisch oder werden resorbiert.

Die plastisch-chirurgische Fabrikation chimärischer, aus mehreren Einzellappen zusammengesetzter mikrochirurgischer Transplantate ist eine wertvolle Option für komplexe Gewebedefizite in speziellen Fällen [4, 9, 12, 14]. Dabei hat sich hinsichtlich der Integration von prothetischen Komponenten in diese Lappensysteme im klinischen Alltag nur die Insertion von dentalen Implantationssockeln in eine dann im gleichen Eingriff oder auch sekundär frei transplantierte Fibula zur Ober- oder Unterkieferrekonstruktion etabliert[8].

Wir präsentieren einen Fall, bei dem eine vaskularisierte Neo-Patella als ein Hybrid-Transplantat konstruiert wurde: Hierzu erfolgte primär die Implantation des prothetischen Sockels eines Gleitflächenersatzes in die kontralaterale Skapulaspitze. Sekundär wurde dann dieser Knochen-Prothesen-Hybridlappen in das Kniegelenk der Patientin transplantiert. Die Grundidee hinter diesem extrem aufwendigen Verfahren war vor allem die Vermeidung der Nachteile avaskulärer Knochentransplantate für die neu konstruierte Patella.

Fallbeschreibung und operative Technik

Eine 32 Jahre alte Frau litt an repetitiven Patellaluxationen ihres linken Knies. Multiple alio loco offen und arthroskopisch durchgeführte Operationen zur ligamentären Führungsoptimierung der Patella unter Einschluss avaskulärer Knochentransplantate zur Modifikation der Tuberositas tibiae waren langfristig erfolglos. Im Verlauf der Jahre entwickelte sie eine ausgeprägte retropatelläre und tibiofemorale Arthrose und wurde schließlich patellektomiert. Ihre Erstvorstellung bei uns erfolgte im Alter von 50 Jahren mit einer schmerzhaften Kniegelenkarthrose und eingeschränkter Beweglichkeit. Es bestand die klare Indikation zum prothetischen Kniegelenksersatz, die Patientin wünschte jedoch auch die Rekonstruktion der Patella.

Ihre rechte, altersentsprechende und weitgehend normal konfigurierte Patella wurde zunächst nach einem CT des Knies virtuell gespiegelt und ein stereolithografisches (STL) Modell angefertigt (Phacon, Leipzig), um eine Vorstellung des benötigten Knochenvolumens und der Knochen-Geometrie zu erhalten. Die Patientin lehnte eine erneute Knochenentnahme vom Beckenkamm ab, sodass die kontralaterale Skapulaspitze für die Sockelimplantation ausgewählt wurde. Hierfür wurde ein CT der Skapula mit Schnittrekonstruktionen in allen Standardebenen angefertigt, um die Knochendicke und die Größe am Schulterblatt bestimmen zu können. Eine komplett digitale Planung, wie in der maxillofazialen Rekonstruktion inzwischen üblich, war in diesem Fall nicht möglich, da ein Vektordatensatz für das verwendete Patellaimplantat (Zimmer NexGen Trabecular Metal Augmentation Patella, Warsaw, IN, USA) aktuell nicht zur Verfügung steht.

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