Originalarbeiten - OUP 03/2012

Videorasterstereographische Funktionsdiagnostik zur Ermittlung der lumbalen Wirbelsäulenbeweglichkeit – eine Pilotstudie
Functional diagnosis of lumbar flexibility by means
of video rasterstereography – a pilot study

J. Schröder1, T. Schmidt2, K. Mattes1

Zusammenfassung: Neben funktionellen Defiziten in der Rumpfmuskelkraft können auch Defizite der Wirbelsäulenstabilität, bzw. -mobilität relevant für Therapie und Monitoring bei Rückenschmerzpatienten sein. Ziel dieser Pilotstudie war die Evaluation der Testgüte und Nützlichkeit einer videorasterstereographischen Testung der lumbalen Beweglichkeit. Zunächst wurde die Unabhängigkeit lumbaler Dorsal- und Ventralflexion bestätigt (25% Varianzaufklärung). Bei hinreichender Merkmalsstabilität (10% intraindividuelle Variabilität) in der lumbalen Hyperextension wurden testmethodische Probleme aufgedeckt, die sich limitierend auf die Reproduzierbarkeit ausgewirkt haben (rs=0,67; p=0,035). Lösungsansätze wurden vorgeschlagen. Erste Tests mit Patienten führten im Einklang mit der einschlägigen Fachliteratur zu plausiblen Ergebnissen.

Schlüsselwörter: Funktionsdiagnostik, Wirbelsäulenhyperextension, Videorasterstereographie

Abstract: In the treatment and monitoring of low back pain, there are functional deficits not only in trunk muscle strength, but also in spinal stability or mobility. This pilot study was aiming at evaluating reliability, validity and effectiveness of a functional test procedure to quantify spinal mobility by means of video rasterstereography. First of all, lumbar extension could be established to be independent from lumbar flexion (25% of a total variance explained). Furthermore – despite a given intraindividual stability of lumbar hyperextension test values (10% variation) – we identified testing problems that were limiting reliability (rs=0,67; p=0,035). Test protocol adaptations for the future were proposed, and first applications with low back pain patients led to results that were in a line with the corresponding literature.

Keywords: functional diagnosis procedures, spinal hyperextension, video rasterstereography

Einführung

Diffuse Schmerzlokalisations- und –ausstrahlungsmuster [1] und fehlende strukturelle Korrelate in der radiologischen Bildgebung [2, 3] erschweren Diagnose und Kausaltherapie beim unspezifischen Rückenschmerz (LBP: Low Back Pain). Allerdings finden sich bei Low Back Pain-Patienten ‚funktionelle’ Korrelate: unspezifische Rückenschmerzsyndrome werden systematisch durch eingeschränkte Muskelkraftfähigkeiten begleitet, sodass von einer Dekonditionierung der Patienten gesprochen wird [4, 5]. Funktionsdiagnostisch kann die Rekonditionierung durch ein therapiebegleitendes Monitoring dokumentiert werden [6]. Den Kostenträgern gegenüber können somit Maßnahmen zur Qualitätssicherung vorgelegt werden. Für die klinische Praxis wird daher auf die Notwendigkeit einer ergänzenden Funktionsdiagnostik im Umgang mit Rückenschmerzpatienten hingewiesen [7].

Schon seit langem werden Instabilitäten der vertebralen Segmente für die Entstehung spezifischer und unspezifischer Rückenschmerzsyndrome angenommen [8, 9]; Panjabis Instabilitätshypothese gilt als anerkanntes Konstrukt zur biomechanischen Erklärung unspezifischer Rückenbeschwerden [10]. Dem Kriterium einer neuromuskulär-ligamentären Stabilisierung steht die segmentale Wirbelsäulenmobilität gegenüber. Für die Wirbelsäulenbeweglichkeit dürfen daher funktionelle Zusammenhänge mit Beschwerden des unteren Rückens angenommen werden, auch wenn direkte Beziehungen zu Funktionseinschränkungen bei LBP-Patienten nicht zwingend gefunden werden müssen [11]. Manualmedizinische Befunde gehen sogar von einem wirbelsäulenformabhängigen Risiko für hypermobilitätsassoziierte Beschwerden des unteren Rückens aus [12], während biomechanische Analysen bei LBP-Patienten auch für lumbale Beweglichkeitseinschränkungen und Ausgleichsbewegungen im Hüftbereich sprechen [13]. Jüngere funktionelle MRI-Befunde bestätigen, dass bei Rückenbeschwerden sowohl eine eingeschränkte als auch eine übermäßige segmentale Mobilität zu beobachten sein kann [14].

In der klinischen Praxis wird die Wirbelsäulenbeweglichkeit häufig als qualitative Schnelltestung mit Hilfe der Rumpfbeugung im Stehen nach ventral ermittelt; beim lumbalen Facettensyndrom gelten jedoch schmerzassoziierte Einschränkungen in der Hyperextension als hinweisgebendes Leitsymptom der Problematik [15]. Für die apparativ objektivierende Erfassung der Beweglichkeit der Wirbelsäule steht zur Zeit die Medi-Mouse® zur Verfügung, deren Einsatz wissenschaftlichen Gütekriterien genügt [16]. Allerdings muss der Untersucher beim apparativ gestützten Abtasten der Dornfortsatzreihe sehr geübt sein, wenn verlässliche Daten – insbesondere für ein längsschnittliches Monitoring – ermittelt werden sollen.

Die videorasterstereographische Rekonstruktion der Wirbelsäulenform ist demgegenüber weitestgehend unabhängig vom Untersucher, erlaubt darüber hinaus Aussagen zur Beckenstellung und genügt wissenschaftlichen Gütekriterien in gleichem Maße [17]. Funktionsdiagnostische Ansätze in der Anwendung der Videorasterstereographie (Formetric®-System) liegen bislang für die differenzierte Diagnostik anatomischer oder funktioneller Beinlängendifferenzen vor sowie für die Erfassung der sagittalen Wirbelsäulenschwingung im zeitlichen Verlauf [18].

Ziel dieser Pilotstudie war die Evaluation der Zuverlässigkeit einer videorasterstereographischen Erfassung der maximalen lumbalen Hyperextension. Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob Limitierungen der Wirbelsäulenbeweglichkeit in der Sagittalebene nach ventral und nach dorsal auf unterschiedliche Einflussfaktoren zurückgeführt werden sollten – ein Rumpfbeugetest somit keine validen Aussagen zur Abschätzung von Einschränkungen in der Dorsalflexion (Hyperextension) zuließe.

Material und Methoden

Untersuchungsdesign

In einer Querschnittstudie wurde einerseits in einem Test-Retest-Design die Reliabilität der videorasterstereographisch erfassten Hyperextension und andererseits der Zusammenhang der lumbalen Hyperextension mit der Rumpfbeugung nach ventral im Sinne einer Validitätsanalyse geprüft. Ergänzend wurden Einzelfallanalysen von Rückenschmerzpatienten vorgenommen.

Stichprobenbeschreibung

Für die vorliegende Pilotstudie wurden insgesamt 10 freiwillig teilnehmende und über den Untersuchungsablauf aufgeklärte Personen akquiriert (Alter 27,3 ± 8,1 Jahre, 21 bis 46 Jahre; Frauen N=5, Männer N=5), die eingeschlossen wurden, wenn weder fachärztlich festgestellte Rückenschmerzdiagnosen noch aktuelle Beschwerden des unteren Rückens zum Untersuchungszeitpunkt vorlagen. Die anthropometrischen Kennziffern der Probanden wurden tabellarisch aufbereitet (Tab.1). Unterschiede zwischen Frauen und Männern lagen lediglich in der Körperhöhe und –masse vor (p<0,05). Habituelle Rückenbeschwerden wurden mit Hilfe der CR10-Schmerzskala nach Borg (19) kontrolliert. Die Probanden wiesen höchstens Unbefindlichkeiten auf, die in der Borg-Skala als ‚extrem leicht’ (1 Punkt) oder ‚gerade wahrnehmbar’ (0,5 Punkte) bezeichnet wurden [19] (Tab. 1).

Zusätzlich wurden zwei Personen mit einer Rückenschmerzanamnese untersucht: beide mit rezidivierenden unspezifischen Rückenbeschwerden, eine Person weiblich, 23 Jahre, BMI 18,8 kg/m², Flachrückenformvariante mit gelenkiger Bindegewebslaxität und starken bis sehr starken Beschwerden (CR10: 6), die andere Person männlich, 28 Jahre, BMI 23,3 kg/m² mit harmonischen Wirbelsäulenschwingungen bei eher straffem Bindegewebe und mittelstarken Beschwerden (CR10: 3).

Wirbelsäulenformanalyse

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4