Originalarbeiten - OUP 03/2012

Videorasterstereographische Funktionsdiagnostik zur Ermittlung der lumbalen Wirbelsäulenbeweglichkeit – eine Pilotstudie
Functional diagnosis of lumbar flexibility by means
of video rasterstereography – a pilot study

Die Reliabilität der videorasterstereographischen Funktionstestung ergab für den Lordosewinkel (Lw-max) intervallskaliert eine Reliabilität von rtt = 0,58 (r² = 0,34; p = 0,078), bzw. auf Ordinalskalenniveau einen signifikanten Zusammenhang von rs = 0,67 (p = 0,035). Das Ergebnis wurde als Scatterplot illustriert (Abb. 5).

Eine Test-Retest-Analyse der Beweglichkeit im Rumpfbeugetest ergab einen intervallskalierten Reliabilitätskoeffizienten von rtt = 0,96 (r² = 0,91; p < 0,001) und eine Rangkorrelation von rs = 0,95 (p < 0,001).

Die Zusammenhangsanalyse der Ergebnisse des Rumpfbeugetests und der Testung der lumbalen Hyperextension ergab auf Intervallskalenniveau eine nicht signifikante Korrelation von rxy = 0,50 (r² = 0,25; p = 0,167), auf Ordinalskalenniveau einen ebenfalls nicht signifikanten Wert von rs = 0,54 (p = 0,135).

Für einen Einzelfall wurde aus 4 an unterschiedlichen Tagen wiederholten Testdurchläufen die Merkmalsstabilität der untersuchten Kennziffern als Variationskoeffizient ausgedrückt:

– VKRumpfbeugung ventral = 24,8 %

– VKLw-max Hyperextension = 9,7 %.

 

Für die Stichprobe der beschwerdefreien Probanden (n=10) wurde die lumbale Hyperextension als 95%-Konfidenzintervall um den Mittelwert dargestellt und um die Testergebnisse zweier Rückenschmerzpatienten ergänzt (Abb. 6).

Diskussion

Die Reproduzierbarkeit der Beweglichkeitstestung in der standardisierten Rumpfbeugung nach ventral wurde mit einem Reliabilitätskoeffizienten von rtt = 0,96 (p < 0,001) als hochreliabel bestätigt. Das vorliegende Ergebnis übertraf sogar den in der Literatur angegeben Wert von rtt = 0,92 [20]. Allerdings wies der relativ geringe Zusammenhang zwischen der Testung der Rumpfbeugung nach ventral und der Testung der lumbalen Hyperextension von lediglich rxy = 0,50 mit einer gegenseitigen Varianzaufklärung von 25 % darauf hin, dass hier unterschiedliche Gegenstandsbereiche getestet wurden. Für die Rumpfbeugung nach ventral müssen – im Gegensatz zur lumbalen Hyperextension – maßgebliche Limitierungen in der maximalen Bewegungsamplitude durch Eigenschaften tendo-muskulärer Strukturen der ischiocruralen Muskelschlinge angenommen werden [21]. Aussagen zur Wirbelsäulenbeweglichkeit in der Dorsalflexion sollten demnach nicht aufgrund von Testergebnissen in der Rumpfbeugung getroffen werden.

Die hier beobachteten Befunde zur Wirbelsäulenüberstreckung müssen differenziert betrachtet werden, zumal es Literaturhinweise gibt, die die Ermittlung der lumbalen Segmentbeweglichkeit anhand einer Rückenoberflächenanalyse als grundsätzlich kritisch einstufen [22].

In der vorliegenden Pilotstudie konnte für die berührungslose, rückwirkungsfreie und somit vom Untersucher weitgehend unabhängige Erfassung der lumbalen Wirbelsäulenbeweglichkeit in der maximalen Hyperextension exemplarisch zwar eine geringere intraindividuelle Variabilität (VK = 9,7%) beobachtet werden als in der hoch reliablen Testung der Rumpfbeugung nach ventral (VK = 24,8%). Gruppenstatistisch konnte jedoch lediglich eine eingeschränkte Reproduzierbarkeit ermittelt werden, die hinter den Ergebnissen der mechanischen Wirbelsäulenkurvaturanalysen mit Hilfe der Medi-Mouse® (rtt =0,80) zurückstand [16], auch wenn non-parametrisch ein signifikanter Test-Retest-Koeffizient von rs = 0,67 (p = 0,035) ermittelt wurde. Parametrisch wurde eine Reliabilität von rtt =0,58 errechnet. Bei einer gegenseitigen Varianzaufklärung von 34% gingen in der vorliegenden Testung somit bis zu 65% der Varianz auf Fehlereinflüsse zurück.

Das heißt jedoch nicht, dass der methodische Ansatz der videorasterstereographischen Funktionsdiagnostik verworfen werden sollte. Das verbietet die klinische Relevanz des Untersuchungsgegenstandes [23] und die Notwendigkeit einer minimal invasiven Diagnostik im klinischen Alltag [18]. Vielmehr deuten die Befunde darauf hin, dass die getroffenen Standardisierungsmaßnahmen in der Pilotuntersuchung nicht hinreichend waren und adaptiert werden sollten.

In der gegenwärtigen Durchführung war es problematisch, dass die Probanden ihr Gleichgewicht in der maximalen Hyperextension für etwa drei bis fünf Sekunden halten mussten. Für videorasterstereographische Aufnahmen im freien bipedalen Stand ist es sinnvoll im Aufnahmemodus (3D-Average/4D) zu arbeiten. Hier werden neun Videostandbilder innerhalb von drei Sekunden erstellt, sodass über ein Averaging-Verfahren geringfügige Schwankungen und atemabhängige Oberkörperbewegungen herausgerechnet werden können; im Normalfall werden die ermittelten Wirbelsäulenformkennziffern somit robuster. In den hier vorliegenden funktionsdiagnostischen Aufnahmen ergaben sich jedoch größere Schwankungen in dieser relativ instabilen Position mit maximal überstreckten Oberkörper. Für nachfolgende Evaluationen wird daher vorgeschlagen im einfacheren Snap-Shot-Modus der DICAM-Software des Formetric®-Systems (3D) zu arbeiten, bei dem nur ein Einzelbild aufgenommen wird, sodass die maximale Überstreckung innerhalb von weniger als einer Sekunde festgehalten werden kann.

Darüber hinaus sollte das taktile Feedback mit Hilfe der Kontaktlatte (Abb. 2) verändert werden. Der Kontakt in Höhe der Oberschenkelrückseite ermöglichte offenbar Ausweichbewegungen durch ein Vorschieben der Hüfte, die vom Untersucher im abgedunkelten Raum nicht so leicht zu kontrollieren waren wie ein Einsinken im Kniegelenk, das umgehend korrigiert werden konnte. Vorgeschlagen wird, die Feedback-Latte in Höhe der Sitzfalte zu positionieren, ohne dass die – messmethodisch unverzichtbare – Region um die Lumbalgrübchen verdeckt wird.

Wenn ein Vorschieben der Hüfte kontrolliert werden kann, wird die maximale Hyperextension bereits in einer aufrechteren und weniger instabilen Oberkörperposition erreicht, sodass weniger Schwankungen während der Datenerfassung provoziert werden. Hierdurch könnte auch ein weiteres messmethodisches Problem entschärft werden, das sich daraus ergab, dass die Kameraposition – insbesondere in der maximalen Überstreckung des Oberkörpers – deutlich oberhalb des Kopfes der Probanden lag.

In der Hyperextension wiesen die Projektionslinien auf der Rückenoberfläche einen deutlich verringerten Abstand auf und wurden im Einzelfall wegen des spitzen Kamerawinkels nicht immer zuverlässig erfasst. Dies konnte zu Artefakte bei der Analyse der Dornfortsatzlinie und zu Rekonstruktionsfehlern führen, sodass im Extremfall Messungen wiederholt werden mussten (Abb. 7).

Die grundsätzliche Machbarkeit und Nützlichkeit einer videoraster-
stereographischen Bestimmung der ma-ximalen Wirbelsäulenhyperextension konnte in dieser Pilotstudie jedoch durch Einzelfallanalysen unterstrichen werden. Eine Patientin mit einem ausgeprägten Flachrücken und Beschwerden im lumbosakralen Übergang wies eine lumbale Hypermobilität auf, die deutlich außerhalb des Beweglichkeitskonfidenzintervalls beschwerdefreier Probanden lag, während ein Patient mit Beschwerden im Segment L4/L5 und einer ausgeprägteren Kurvatur eine reduzierte lumbale Mobilität in der lumbalen Überstreckung aufwies, die sich am unteren Ende des Konfidenzintervalls einordnete (Abb. 6), was sich mit manualmedizinischen Erwartungen deckte. Lewit postuliert für Personen mit einem steilen Assimilationsbecken und einer Flachrückenformvariante eine Hypermobilität und assoziierte Beschwerden im Segment L5/S1 und für Personen mit ausgeprägteren sagittalen Wirbelsäulenschwingungen eher eine Hypomobilität mit Beschwerden in höheren lumbalen Segmenten [12]. Die isolierte Betrachtung der lumbalen Dorsalflexion erscheint hilfreich, da für die lumbale Ventralflexion andere limitierende Faktoren in Frage kommen und Zusammenhänge zu Rückenschmerzsyndromen eventuell verschleiert werden, wenn der ROM (range of motion) über die gesamte Amplitude ermittelt wird [11]. Mittelwertbildungen und Korrelationsanalysen zur Beschreibung von Stichprobeneigenschaften von Patienten mit Beschwerden des unteren Rückens sollten nur dann vorgenommen, wenn sicher zu stellen ist, dass sich die individuellen lumbalen Beweglichkeitseigenschaften – Hyper- oder Hypomobilität – nicht gegenseitig neutralisieren [14]. Die vorgestellte videorasterstereographische Ermittlung der lumbalen Mobilität wird in diesem Sinne als geeignetes, von Untersucher unabhängiges, rückwirkungsfreies und non-invasives Verfahren vorgeschlagen.

Fazit

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