Originalarbeiten - OUP 03/2012

Videorasterstereographische Funktionsdiagnostik zur Ermittlung der lumbalen Wirbelsäulenbeweglichkeit – eine Pilotstudie
Functional diagnosis of lumbar flexibility by means
of video rasterstereography – a pilot study

J. Schröder1, T. Schmidt2, K. Mattes1

Zusammenfassung: Neben funktionellen Defiziten in der Rumpfmuskelkraft können auch Defizite der Wirbelsäulenstabilität, bzw. -mobilität relevant für Therapie und Monitoring bei Rückenschmerzpatienten sein. Ziel dieser Pilotstudie war die Evaluation der Testgüte und Nützlichkeit einer videorasterstereographischen Testung der lumbalen Beweglichkeit. Zunächst wurde die Unabhängigkeit lumbaler Dorsal- und Ventralflexion bestätigt (25% Varianzaufklärung). Bei hinreichender Merkmalsstabilität (10% intraindividuelle Variabilität) in der lumbalen Hyperextension wurden testmethodische Probleme aufgedeckt, die sich limitierend auf die Reproduzierbarkeit ausgewirkt haben (rs=0,67; p=0,035). Lösungsansätze wurden vorgeschlagen. Erste Tests mit Patienten führten im Einklang mit der einschlägigen Fachliteratur zu plausiblen Ergebnissen.

Schlüsselwörter: Funktionsdiagnostik, Wirbelsäulenhyperextension, Videorasterstereographie

Abstract: In the treatment and monitoring of low back pain, there are functional deficits not only in trunk muscle strength, but also in spinal stability or mobility. This pilot study was aiming at evaluating reliability, validity and effectiveness of a functional test procedure to quantify spinal mobility by means of video rasterstereography. First of all, lumbar extension could be established to be independent from lumbar flexion (25% of a total variance explained). Furthermore – despite a given intraindividual stability of lumbar hyperextension test values (10% variation) – we identified testing problems that were limiting reliability (rs=0,67; p=0,035). Test protocol adaptations for the future were proposed, and first applications with low back pain patients led to results that were in a line with the corresponding literature.

Keywords: functional diagnosis procedures, spinal hyperextension, video rasterstereography

Einführung

Diffuse Schmerzlokalisations- und –ausstrahlungsmuster [1] und fehlende strukturelle Korrelate in der radiologischen Bildgebung [2, 3] erschweren Diagnose und Kausaltherapie beim unspezifischen Rückenschmerz (LBP: Low Back Pain). Allerdings finden sich bei Low Back Pain-Patienten ‚funktionelle’ Korrelate: unspezifische Rückenschmerzsyndrome werden systematisch durch eingeschränkte Muskelkraftfähigkeiten begleitet, sodass von einer Dekonditionierung der Patienten gesprochen wird [4, 5]. Funktionsdiagnostisch kann die Rekonditionierung durch ein therapiebegleitendes Monitoring dokumentiert werden [6]. Den Kostenträgern gegenüber können somit Maßnahmen zur Qualitätssicherung vorgelegt werden. Für die klinische Praxis wird daher auf die Notwendigkeit einer ergänzenden Funktionsdiagnostik im Umgang mit Rückenschmerzpatienten hingewiesen [7].

Schon seit langem werden Instabilitäten der vertebralen Segmente für die Entstehung spezifischer und unspezifischer Rückenschmerzsyndrome angenommen [8, 9]; Panjabis Instabilitätshypothese gilt als anerkanntes Konstrukt zur biomechanischen Erklärung unspezifischer Rückenbeschwerden [10]. Dem Kriterium einer neuromuskulär-ligamentären Stabilisierung steht die segmentale Wirbelsäulenmobilität gegenüber. Für die Wirbelsäulenbeweglichkeit dürfen daher funktionelle Zusammenhänge mit Beschwerden des unteren Rückens angenommen werden, auch wenn direkte Beziehungen zu Funktionseinschränkungen bei LBP-Patienten nicht zwingend gefunden werden müssen [11]. Manualmedizinische Befunde gehen sogar von einem wirbelsäulenformabhängigen Risiko für hypermobilitätsassoziierte Beschwerden des unteren Rückens aus [12], während biomechanische Analysen bei LBP-Patienten auch für lumbale Beweglichkeitseinschränkungen und Ausgleichsbewegungen im Hüftbereich sprechen [13]. Jüngere funktionelle MRI-Befunde bestätigen, dass bei Rückenbeschwerden sowohl eine eingeschränkte als auch eine übermäßige segmentale Mobilität zu beobachten sein kann [14].

In der klinischen Praxis wird die Wirbelsäulenbeweglichkeit häufig als qualitative Schnelltestung mit Hilfe der Rumpfbeugung im Stehen nach ventral ermittelt; beim lumbalen Facettensyndrom gelten jedoch schmerzassoziierte Einschränkungen in der Hyperextension als hinweisgebendes Leitsymptom der Problematik [15]. Für die apparativ objektivierende Erfassung der Beweglichkeit der Wirbelsäule steht zur Zeit die Medi-Mouse® zur Verfügung, deren Einsatz wissenschaftlichen Gütekriterien genügt [16]. Allerdings muss der Untersucher beim apparativ gestützten Abtasten der Dornfortsatzreihe sehr geübt sein, wenn verlässliche Daten – insbesondere für ein längsschnittliches Monitoring – ermittelt werden sollen.

Die videorasterstereographische Rekonstruktion der Wirbelsäulenform ist demgegenüber weitestgehend unabhängig vom Untersucher, erlaubt darüber hinaus Aussagen zur Beckenstellung und genügt wissenschaftlichen Gütekriterien in gleichem Maße [17]. Funktionsdiagnostische Ansätze in der Anwendung der Videorasterstereographie (Formetric®-System) liegen bislang für die differenzierte Diagnostik anatomischer oder funktioneller Beinlängendifferenzen vor sowie für die Erfassung der sagittalen Wirbelsäulenschwingung im zeitlichen Verlauf [18].

Ziel dieser Pilotstudie war die Evaluation der Zuverlässigkeit einer videorasterstereographischen Erfassung der maximalen lumbalen Hyperextension. Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob Limitierungen der Wirbelsäulenbeweglichkeit in der Sagittalebene nach ventral und nach dorsal auf unterschiedliche Einflussfaktoren zurückgeführt werden sollten – ein Rumpfbeugetest somit keine validen Aussagen zur Abschätzung von Einschränkungen in der Dorsalflexion (Hyperextension) zuließe.

Material und Methoden

Untersuchungsdesign

In einer Querschnittstudie wurde einerseits in einem Test-Retest-Design die Reliabilität der videorasterstereographisch erfassten Hyperextension und andererseits der Zusammenhang der lumbalen Hyperextension mit der Rumpfbeugung nach ventral im Sinne einer Validitätsanalyse geprüft. Ergänzend wurden Einzelfallanalysen von Rückenschmerzpatienten vorgenommen.

Stichprobenbeschreibung

Für die vorliegende Pilotstudie wurden insgesamt 10 freiwillig teilnehmende und über den Untersuchungsablauf aufgeklärte Personen akquiriert (Alter 27,3 ± 8,1 Jahre, 21 bis 46 Jahre; Frauen N=5, Männer N=5), die eingeschlossen wurden, wenn weder fachärztlich festgestellte Rückenschmerzdiagnosen noch aktuelle Beschwerden des unteren Rückens zum Untersuchungszeitpunkt vorlagen. Die anthropometrischen Kennziffern der Probanden wurden tabellarisch aufbereitet (Tab.1). Unterschiede zwischen Frauen und Männern lagen lediglich in der Körperhöhe und –masse vor (p<0,05). Habituelle Rückenbeschwerden wurden mit Hilfe der CR10-Schmerzskala nach Borg (19) kontrolliert. Die Probanden wiesen höchstens Unbefindlichkeiten auf, die in der Borg-Skala als ‚extrem leicht’ (1 Punkt) oder ‚gerade wahrnehmbar’ (0,5 Punkte) bezeichnet wurden [19] (Tab. 1).

Zusätzlich wurden zwei Personen mit einer Rückenschmerzanamnese untersucht: beide mit rezidivierenden unspezifischen Rückenbeschwerden, eine Person weiblich, 23 Jahre, BMI 18,8 kg/m², Flachrückenformvariante mit gelenkiger Bindegewebslaxität und starken bis sehr starken Beschwerden (CR10: 6), die andere Person männlich, 28 Jahre, BMI 23,3 kg/m² mit harmonischen Wirbelsäulenschwingungen bei eher straffem Bindegewebe und mittelstarken Beschwerden (CR10: 3).

Wirbelsäulenformanalyse

Die Oberflächenvermessung des Rückens wurde mit Hilfe der Videoraster-stereographie (Formetric®-System) durchgeführt (Abb. 1A). Hierbei wurde ein Raster parallel verlaufender Linien auf die Rückenoberfläche projiziert (Abb. 1B). Das genormte Raster wurde durch die Oberflächenform deformiert und von einer Videokamera aufgenommen. Jeder Punkt auf der Rückenoberfläche konnte mit einer Auflösung von 10 Pkt./cm² – ca. 7.500 Pkt. bei durchschnittlicher Körpergröße – und mit einem Fehler von weniger als 0,2 mm stereometrisch durch bekannte geometrische Verhältnisse zwischen Kamera und Diaprojektion errechnet werden [18]. Krümmungen der Oberfläche wurden ausgehend von jedem Punkt auf der Oberfläche errechnet, indem ihre relative Lage zu den benachbarten Punkten jeweils in x- und y-Richtung beurteilt wurde, sodass ein virtuelles Abbild der Rückenoberfläche rekonstruiert wurde, das konkave, konvexe oder sattelförmige Krümmungen haben konnte [18] (Abb. 1C).

Die Rekonstruktion der Rückenoberfläche war unabhängig von der Stellung der Person im Raum, weil jeder Punkt auf ein Koordinatensystem relativiert wurde, dass anhand automatisch detektierter prominenter Strukturen auf der Rückenoberfläche errechnet wurde: der konvexe Vertebra prominens und der konkave Sakrumpunkt (Beginn der rima ani) bildeten die y-Achse und die konkaven Lumbalgrübchen (Dimple) die x-Achse [18]. Zusätzlich wurden Hilfspunkte auf der Dornfortsatzlinie automatisch detektiert (Abb. 4C).

Mit Hilfe des Formetric®-Systems konnte die Wirbelsäulenform dreidimensional – in der Sagittal-, der Frontal- und der Coronalebene – rekonstruiert werden, im vorliegenden Zusammenhang interessierte jedoch lediglich die Lateralprojektion mit den Kennziffern zur Beschreibung der sagittalen Wirbelsäulenform (Abb. 1D). Der Lordosewinkel (Lw-max) wurde als eingeschlossener Winkel der Tangenten am geometrischen Wendepunkt (inflectional point) des thorakolumbalen (ITL) Übergangs und der Tangente am geometrischen Wendepunkt (inflectional point) des lumbosakralen (ILS) Übergangs definiert. Der Lordosewinkel konnte videorasterstereographisch hochreliabel bestimmt werden: ICC = 0,99 [17].

Testung der lumbalen Beweglichkeit in der Hyperextension

Damit die automatische Erkennung prominenter Strukturen auf der Rückenoberfläche – bei einem Kamerablickwinkel von schräg oben (Abb. 1A) – auch in der maximalen Hyperextension fehlerfrei funktionieren konnte, wurde der Vertebra prominens für die Funktionsaufnahme besonders präsentiert. Hierfür nahmen die Probanden – unabhängig von einer initialen ‚nativen’ Normalaufnahme im freien bipedalen Stand – in einer weiteren Aufnahme aufrecht stehend ihren Kopf zwischen beide Hände, schlossen die Ellenbogen vor dem Kopf und brachten ihre Hals- und Brustwirbelsäule in eine artifizielle Kyphosierung: ‚Basalaufnahme’. Die nachfolgende Funktionsaufnahme in maximaler Hyperextension wurde bei gleichartiger Kyphosierung erstellt und der kyphosierten ‚Basal’-Aufnahme gegenübergestellt, um beweglichkeitsassoziierte Veränderungen des Lordosewinkels zu ermitteln. Ausweichbewegungen der Wirbelsäule in der Frontalebene konnten kontrolliert werden und waren in gültigen Messungen nur geringfügig (Abb. 2).

In der maximalen Hyperextension mussten die Probanden einerseits das Gleichgewicht halten, andererseits mussten Ausweichbewegungen – Kniebeugung und Vorschieben der Hüfte – vermieden, bzw. standardisiert werden. Durch die Verwendung einer taktilen Hilfestellung, einer Querlatte an der Oberschenkelrückseite, sollten Ausweichbewegungen kontrolliert werden: die Probanden mussten sowohl während der Basal- als auch während der Funktionsaufnahme ständig Kontakt zur Querlatte halten (Abb. 2).

Testung der Beweglichkeit im Rumpfbeugetest

Für die Testung der Rumpfbeweglichkeit in der Sagittalebene nach ventral, wurde ein standardisierter ‚Rumpfbeugetest im Stehen’ durchgeführt. Der Testaufbau war standardisiert und beinhaltete nur wenige Testanweisungen:

– Der Proband stand – ohne Schuhe – auf einer Bank, an der eine Schiebe-Schalter-Vorrichtung angebracht war.

– Die Fingerspitzen des Mittelfingers sollten am ‚Schieber’ so positioniert sein, dass sie nach bündig mit der ‚Schieberunterkante’ endeten.

– Die Beine mussten während der maximalen Rumpfbeuge im Kniegelenk gestreckt bleiben.

Die Skala der Testvorrichtung wies jeden Zentimeter eine Markierung auf und war so eingestellt, dass auf Fußsohlenniveau der Wert ‚Null’ vorlag. Die Flexionsbeweglichkeit konnte mit einer Auflösung von – gepeilt – einem halben Zentimeter an der Unterkante des ‚Schiebers’ abgelesen werden (Abb. 3).

Die Testung wurde drei mal wiederholt, der beste Wert wurde als gültiger Versuch gewertet und stand der statistischen Verarbeitung zur Verfügung. Testaufbau und Testanweisungen orientierten sich an standardisierten Vorgaben, die eine hohe Testzuverlässigkeit erwarten ließen: rtt = 0,92 [20].

Untersuchungsablauf

Die Probanden führten zunächst unaufgewärmt den Rumpfbeugetest durch, wobei der beste von drei Versuchen gewertet wurde. Im Anschluss wurde eine herkömmliche videorasterstereographische Aufnahme im freien bipedalen Stand (nativ), eine artifiziell kyphosierte Aufnahme aufrecht stehend (basal) und schließlich die Funktionsaufnahme in maximaler Hyperextension durchgeführt, wobei die Differenz von der Basalaufnahme zur Funktionsaufnahme als abhängige Variable zur Operationalisierung der lumbalen Beweglichkeit der statistischen Auswertung zugeführt wurde. Zur Bestimmung der Reliabilität wurde der gesamte Ablauf im Anschluss an eine kurze Rückmeldung an die Probanden wiederholt (Abb. 4).

Statistische Methoden

Die Stichproben wurden parametrisch durch Mittelwert und Standardabweichung beschrieben (MW ± SD). Stichprobenunterschiede wurden non-parametrisch geprüft (U-Test nach Mann/Whitney); Signifikanz wurde bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p ≤ 0,05 akzeptiert. Für Zusammenhangsanalysen wurde der Pearson-Korrelationskoeffizient (rxy) und das Bestimmtheitsmaß (r²) auf Intervallskalenniveau und vor dem Hintergrund der kleinen Stichprobe ergänzend Spearman’s Rho (rs) auf Ordinalskalenniveau berechnet. Für einen Einzelfall wurde die Merkmalsstabilität mit Hilfe des Variationskoeffizienten (VK%) operationalisiert.

Ergebnisse

Frauen und Männer wiesen in den ermittelten Kennziffern weder in der nativen Aufnahme, noch in der Veränderung zwischen Nativ- und artifiziell kyphosierter Basalaufnahme, noch in der ermittelten lumbalen Hyperextension signifikante Unterschiede auf (p > 0,05), auch wenn die geschlechtsbedingten Unterschiede deskriptiv zunächst bedeutsam wirkten (Tab. 2).

Die Reliabilität der videorasterstereographischen Funktionstestung ergab für den Lordosewinkel (Lw-max) intervallskaliert eine Reliabilität von rtt = 0,58 (r² = 0,34; p = 0,078), bzw. auf Ordinalskalenniveau einen signifikanten Zusammenhang von rs = 0,67 (p = 0,035). Das Ergebnis wurde als Scatterplot illustriert (Abb. 5).

Eine Test-Retest-Analyse der Beweglichkeit im Rumpfbeugetest ergab einen intervallskalierten Reliabilitätskoeffizienten von rtt = 0,96 (r² = 0,91; p < 0,001) und eine Rangkorrelation von rs = 0,95 (p < 0,001).

Die Zusammenhangsanalyse der Ergebnisse des Rumpfbeugetests und der Testung der lumbalen Hyperextension ergab auf Intervallskalenniveau eine nicht signifikante Korrelation von rxy = 0,50 (r² = 0,25; p = 0,167), auf Ordinalskalenniveau einen ebenfalls nicht signifikanten Wert von rs = 0,54 (p = 0,135).

Für einen Einzelfall wurde aus 4 an unterschiedlichen Tagen wiederholten Testdurchläufen die Merkmalsstabilität der untersuchten Kennziffern als Variationskoeffizient ausgedrückt:

– VKRumpfbeugung ventral = 24,8 %

– VKLw-max Hyperextension = 9,7 %.

 

Für die Stichprobe der beschwerdefreien Probanden (n=10) wurde die lumbale Hyperextension als 95%-Konfidenzintervall um den Mittelwert dargestellt und um die Testergebnisse zweier Rückenschmerzpatienten ergänzt (Abb. 6).

Diskussion

Die Reproduzierbarkeit der Beweglichkeitstestung in der standardisierten Rumpfbeugung nach ventral wurde mit einem Reliabilitätskoeffizienten von rtt = 0,96 (p < 0,001) als hochreliabel bestätigt. Das vorliegende Ergebnis übertraf sogar den in der Literatur angegeben Wert von rtt = 0,92 [20]. Allerdings wies der relativ geringe Zusammenhang zwischen der Testung der Rumpfbeugung nach ventral und der Testung der lumbalen Hyperextension von lediglich rxy = 0,50 mit einer gegenseitigen Varianzaufklärung von 25 % darauf hin, dass hier unterschiedliche Gegenstandsbereiche getestet wurden. Für die Rumpfbeugung nach ventral müssen – im Gegensatz zur lumbalen Hyperextension – maßgebliche Limitierungen in der maximalen Bewegungsamplitude durch Eigenschaften tendo-muskulärer Strukturen der ischiocruralen Muskelschlinge angenommen werden [21]. Aussagen zur Wirbelsäulenbeweglichkeit in der Dorsalflexion sollten demnach nicht aufgrund von Testergebnissen in der Rumpfbeugung getroffen werden.

Die hier beobachteten Befunde zur Wirbelsäulenüberstreckung müssen differenziert betrachtet werden, zumal es Literaturhinweise gibt, die die Ermittlung der lumbalen Segmentbeweglichkeit anhand einer Rückenoberflächenanalyse als grundsätzlich kritisch einstufen [22].

In der vorliegenden Pilotstudie konnte für die berührungslose, rückwirkungsfreie und somit vom Untersucher weitgehend unabhängige Erfassung der lumbalen Wirbelsäulenbeweglichkeit in der maximalen Hyperextension exemplarisch zwar eine geringere intraindividuelle Variabilität (VK = 9,7%) beobachtet werden als in der hoch reliablen Testung der Rumpfbeugung nach ventral (VK = 24,8%). Gruppenstatistisch konnte jedoch lediglich eine eingeschränkte Reproduzierbarkeit ermittelt werden, die hinter den Ergebnissen der mechanischen Wirbelsäulenkurvaturanalysen mit Hilfe der Medi-Mouse® (rtt =0,80) zurückstand [16], auch wenn non-parametrisch ein signifikanter Test-Retest-Koeffizient von rs = 0,67 (p = 0,035) ermittelt wurde. Parametrisch wurde eine Reliabilität von rtt =0,58 errechnet. Bei einer gegenseitigen Varianzaufklärung von 34% gingen in der vorliegenden Testung somit bis zu 65% der Varianz auf Fehlereinflüsse zurück.

Das heißt jedoch nicht, dass der methodische Ansatz der videorasterstereographischen Funktionsdiagnostik verworfen werden sollte. Das verbietet die klinische Relevanz des Untersuchungsgegenstandes [23] und die Notwendigkeit einer minimal invasiven Diagnostik im klinischen Alltag [18]. Vielmehr deuten die Befunde darauf hin, dass die getroffenen Standardisierungsmaßnahmen in der Pilotuntersuchung nicht hinreichend waren und adaptiert werden sollten.

In der gegenwärtigen Durchführung war es problematisch, dass die Probanden ihr Gleichgewicht in der maximalen Hyperextension für etwa drei bis fünf Sekunden halten mussten. Für videorasterstereographische Aufnahmen im freien bipedalen Stand ist es sinnvoll im Aufnahmemodus (3D-Average/4D) zu arbeiten. Hier werden neun Videostandbilder innerhalb von drei Sekunden erstellt, sodass über ein Averaging-Verfahren geringfügige Schwankungen und atemabhängige Oberkörperbewegungen herausgerechnet werden können; im Normalfall werden die ermittelten Wirbelsäulenformkennziffern somit robuster. In den hier vorliegenden funktionsdiagnostischen Aufnahmen ergaben sich jedoch größere Schwankungen in dieser relativ instabilen Position mit maximal überstreckten Oberkörper. Für nachfolgende Evaluationen wird daher vorgeschlagen im einfacheren Snap-Shot-Modus der DICAM-Software des Formetric®-Systems (3D) zu arbeiten, bei dem nur ein Einzelbild aufgenommen wird, sodass die maximale Überstreckung innerhalb von weniger als einer Sekunde festgehalten werden kann.

Darüber hinaus sollte das taktile Feedback mit Hilfe der Kontaktlatte (Abb. 2) verändert werden. Der Kontakt in Höhe der Oberschenkelrückseite ermöglichte offenbar Ausweichbewegungen durch ein Vorschieben der Hüfte, die vom Untersucher im abgedunkelten Raum nicht so leicht zu kontrollieren waren wie ein Einsinken im Kniegelenk, das umgehend korrigiert werden konnte. Vorgeschlagen wird, die Feedback-Latte in Höhe der Sitzfalte zu positionieren, ohne dass die – messmethodisch unverzichtbare – Region um die Lumbalgrübchen verdeckt wird.

Wenn ein Vorschieben der Hüfte kontrolliert werden kann, wird die maximale Hyperextension bereits in einer aufrechteren und weniger instabilen Oberkörperposition erreicht, sodass weniger Schwankungen während der Datenerfassung provoziert werden. Hierdurch könnte auch ein weiteres messmethodisches Problem entschärft werden, das sich daraus ergab, dass die Kameraposition – insbesondere in der maximalen Überstreckung des Oberkörpers – deutlich oberhalb des Kopfes der Probanden lag.

In der Hyperextension wiesen die Projektionslinien auf der Rückenoberfläche einen deutlich verringerten Abstand auf und wurden im Einzelfall wegen des spitzen Kamerawinkels nicht immer zuverlässig erfasst. Dies konnte zu Artefakte bei der Analyse der Dornfortsatzlinie und zu Rekonstruktionsfehlern führen, sodass im Extremfall Messungen wiederholt werden mussten (Abb. 7).

Die grundsätzliche Machbarkeit und Nützlichkeit einer videoraster-
stereographischen Bestimmung der ma-ximalen Wirbelsäulenhyperextension konnte in dieser Pilotstudie jedoch durch Einzelfallanalysen unterstrichen werden. Eine Patientin mit einem ausgeprägten Flachrücken und Beschwerden im lumbosakralen Übergang wies eine lumbale Hypermobilität auf, die deutlich außerhalb des Beweglichkeitskonfidenzintervalls beschwerdefreier Probanden lag, während ein Patient mit Beschwerden im Segment L4/L5 und einer ausgeprägteren Kurvatur eine reduzierte lumbale Mobilität in der lumbalen Überstreckung aufwies, die sich am unteren Ende des Konfidenzintervalls einordnete (Abb. 6), was sich mit manualmedizinischen Erwartungen deckte. Lewit postuliert für Personen mit einem steilen Assimilationsbecken und einer Flachrückenformvariante eine Hypermobilität und assoziierte Beschwerden im Segment L5/S1 und für Personen mit ausgeprägteren sagittalen Wirbelsäulenschwingungen eher eine Hypomobilität mit Beschwerden in höheren lumbalen Segmenten [12]. Die isolierte Betrachtung der lumbalen Dorsalflexion erscheint hilfreich, da für die lumbale Ventralflexion andere limitierende Faktoren in Frage kommen und Zusammenhänge zu Rückenschmerzsyndromen eventuell verschleiert werden, wenn der ROM (range of motion) über die gesamte Amplitude ermittelt wird [11]. Mittelwertbildungen und Korrelationsanalysen zur Beschreibung von Stichprobeneigenschaften von Patienten mit Beschwerden des unteren Rückens sollten nur dann vorgenommen, wenn sicher zu stellen ist, dass sich die individuellen lumbalen Beweglichkeitseigenschaften – Hyper- oder Hypomobilität – nicht gegenseitig neutralisieren [14]. Die vorgestellte videorasterstereographische Ermittlung der lumbalen Mobilität wird in diesem Sinne als geeignetes, von Untersucher unabhängiges, rückwirkungsfreies und non-invasives Verfahren vorgeschlagen.

Fazit

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt darf der videorasterstereographischen Ermittlung der lumbalen Beweglichkeit in der Dorsalflexion nur eine fragliche Reliabilität bescheinigt werden. Änderungen in den Standardisierungsmaßnahmen werden prospektiv jedoch zu einer besseren Reproduzierbarkeit führen, sodass künftig – auch gegenüber den Kostenträgern – eine zuverlässige, quantitative Beurteilung der lumbalen Beweglichkeit mit Hilfe des Formetric®-Systems im Monitoring von Patienten mit Beschwerden des unteren Rückens bereitgestellt werden kann.

Korrespondenzadresse

Jan Schröder

Universität Hamburg,

Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft, Abteilung Bewegungs- und Trainingswissenschaft (Ltg.: Prof. Dr. K. Mattes)

Mollerstraße 2

20148 Hamburg

schroeder.sport@gmx.de

Literatur

1. Waddell G, McCulloch JA, Kummel ED, Venner RM: Nonorganic physical signs in low-back pain. Spine 5 (1980) 117–125.

2. van Tulder MW, Assendelft WJJ, Koes BW, Bouter LM: Spinal radiographic findings and nonspecific low back pain: A systematic review of observational studies. Spine 22 (1997) 427–434.

3. Borenstein DG, O’Mara JW, Boden SD, Lauerman WC, Jacobson A, Platenberg C, Schellinger D, Wiesel SD: The value of magnetic resonance imaging of the lumbar spine to predict low-back pain in asymptomatic subjects. The Journal of Bone and Joint Surgery (American) 83 (2001) 1306–1311.

4. Cady LD, Bischoff DP, O’Connel ER, Thomas PC, Allan JH: Strength fitness and subsequent back injuries in firefighters. Journal of Occupational Medicine 21 (1979) 269–272.

5. McNeill T, Warwick D, Andersson G, Schultz A: Trunk strengths in attempted flexion, extension, and lateral bending in healthy subjects and patients with low-back disorders. Spine 5 (1980) 529–538.

6. Denner A: Die wirbelsäulenstabilisierende Muskulatur chronischer Rückenpatienten. Dekonditionierung versus Rekonditionierung. Manuelle Medizin, 35 (1997) 94–102.

7. Müller G: Zur Evaluation von Funktionsstörungen an der Wirbelsäule. Strukturdiagnostik versus Funktionsdiagnostik. Manuelle Medizin 37 (1999) 18–25.

8. Knutsson F: The instability associated with disk degeneration in the lumbar spine. Acta Radiologica 25 (1944) 593–608.

9. Morgan FP, King T: Primary instability of lumbar vertebrae as a common cause of low back pain. The Journal of Bone and Joint Surgery 39-B (1957) 6–22.

10. Panjabi MM: The stabilizing system of the spine. Part I. Function, dysfunction, adaptation, and enhancement. Journal of Spinal Disorders 5 (1992) 383–389.

11. Parks KA, Crichton KS, Goldford RJ, McGill SM: A comparison of lumbar range of motion and functional ability scores in patients with low back pain. Spine 28 (2003) 380–384.

12. Lewit K: Manipulative therapy in rehabilitation of the locomotor system. 2nd ed., Butterworth, Oxford u.a., 1991, S. 56–60.

13. Shum GLK, Crosbie J, Lee RYW: Effect of low back pain on the kinematics and joint coordination of the lumbar spine and hip during sit-to-stand and stand-to-sit. Spine 30 (2005) 1998–2004.

14. Kulig K, Powers CM, Landell RF et al.: Segmental lumbar mobility in individuals with low back pain: in vivo assessment during manual and self-imposed motion using dynamic MRI. BMC Muskuloskeletal Disorders 8 (2007) 8.

15. Neumann HD: Manuelle Medizin. Eine Einführung in Theorie, Diagnostik und Therapie. 3. überarb. Aufl., Springer, Heidelberg u.a., 1989.

16. Mannion AF, Knecht K, Balaban G, Dvorak J, Grob D: A new skin-surface device for measuring the curvature and global and segmental ranges of motion of the spine: reliability of measurements and comparison with data reviewed from the literature. European Spine Journal 13 (2004) 122–136.

17. Schröder J, Reer R, Mattes K: Biomechanische Diagnostik in der orthopädischen Praxis: Zur Zuverlässigkeit der Messung von Rumpfkraft und Haltung in der Behandlung von Rückenschmerzen. Orthopädische Praxis 45 (2009) 288–294.

18. Drerup B, Ellger B, Meyer zu Bentrup F, Hierholzer E: Rasterstereographische Funktionsaufnahmen. Der Orthopäde 30 (2001) 242–250.

19. Borg G: Borg’s perceived exertion and pain scales. Human Kinetics, Champaign, IL, 1998, S. 41–43.

20. Bös K: Handbuch Sportmotorische Tests. Hogrefe Verlag für Psychologie, Göttingen u.a., 1987, S. 413–418.

21. Schönthaler SR, Ohlendorf K, Ott H, Meyer T, Kindermann W, Schmidtbleicher D: Biomechanische und neurophysiologische Parameter zur Erfassung der Dehnbarkeit von Muskel-Sehnen-Einheiten. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 49 (1998) 223–230.

22. Stokes IA, Bevins TM, Lunn RA: Back surface curvature and measurement of lumbar spinal motion. Spine 12 (1987) 355–361.

23. Pearcy M, Portek I, Shepherd J: (1985). The effect of low back pain on lumbar spinal movents measured by the three-dimensional x-ray analysis. Spine 10 (1985) 150–153.

Fussnoten

1 Abteilung Bewegungs- und Trainingswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg

2 Abteilung Sport- und Bewegungsmedizin, Psychologie und Bewegungswissenschaft, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg

DOI 10.3238/oup.2012.0107-0114

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4