Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Von der Funktionsstörung zur Funktionserkrankung
Ein Modell als Grundlage für die Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen

Auch in der Orthopädie/Unfallchirurgie und Physikalischen und Rehabilitativen Medizin haben wir ein gutes Instrumentarium von motorisch-funktionellen Testsystemen mit einem differenzierten Fokus [20].

Einige Beispiele sind:

Muskelfunktionstests nach Janda und Kendall, [22, 10]

Koordinationstests nach Janda [18]

Bewegungswahrnehmungstests von Luomajoki [12]

Functional Movement Screen (FMS nach Cook) [22] und

ergotherapeutische Testverfahren in der Evaluation funktioneller Leistungsfähigkeit (EFL) nach Isernhagen [8] und IMBA.

Die Kenntnis und Anwendung dieser Testsysteme sollten auch in der Orthopädie gefördert werden (Abb. 3, 5). Aus der Funktionsdiagnostik wird eine gezielte funktionelle Therapie abgeleitet [5]. In der Physiotherapie, Ergotherapie, aber auch in der Manuellen Medizin und Rehabilitation werden diese Verfahren umfangreich eingesetzt (Abb. 4). Theoretische Grundlagen für ein funktionelles Vorgehen bieten das hier vorgestellte funktionelle System die International Classification of Functioning (ICF) (Abb. 4, 5). Hier steht die Funktion gleichberechtigt neben der Struktur mit ihren Konsequenzen für die Ausführung von Aktivitäten und Partizipation. Dieser ganze Prozess wird durch die Kontextfaktoren aus der konkreten persönlichen- und Umweltsituation des Menschen zusätzlich beeinflusst und moduliert [4]. Bei Nachuntersuchungen und Review-Besprechungen für BG-Patienten sehen wir häufig den großen Einfluss der Kontextfaktoren. Bei identischen Verletzungsmustern bei ähnlich alten Patienten kommt es zu unterschiedlichsten Krankheitsverläufen und Ausfallzeiten. Daher ist das ICF-Modell für ein erweitertes Krankheitsverständnis und gezieltere Therapieansätze hilfreich.

Der Dreischritt „Funktion – Funktionsstörung –
Funktionserkrankung“

In einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Ärztevereinigung Manuelle Medizin (ÄMM Berlin) [1] haben wir in den vergangenen Jahren ein Modell zu Funktionserkrankungen erarbeitet. Hierbei geht es um den Dreischritt von Funktion über Funktionsstörungen bis hin zu Funktionserkrankungen.

Das Modell der Funktionserkrankung macht den hohen Stellenwert einer guten Funktion, der gestörten Funktion im Krankheitsprozess und von funktionellen Therapien deutlich. Dies betrifft verschiedene Anwendungsbereiche von Alltagsübungen und Prävention über therapeutische Interventionen bis hin zur Rehabilitation. Dabei steht immer die Wiedererlangung einer bestmöglichen Bewegungsfunktion im Vordergrund. Dieser Dreischritt soll gleichzeitig die Reversibilität ausdrücken und Kipppunkte veranschaulichen. Wir kennen dies in der Langzeitbetreuung von Patienten. Es gibt immer wieder Situationen und Verkettungen, in denen Krankheitsverläufe „kippen“ und zu einer massiven Verschlechterung und Chronifizierung führen.

Die funktionelle Diagnostik und Therapie hat eine große Bedeutung in jedem Lebensalter: von der frühkindlichen Erziehung über Schulsport, Präventionsmaßnahmen und betriebliche Gesundheitsförderung bis hin zu Bewegungsprogrammen für Senioren. In unseren Praxen und in Patientengesprächen ist der Bewegungsmangel ein häufiges Thema. Bewegungsmangel führt durch fehlende Reize zu sinkender Reagibilität und zunehmender Maladaptation [16, 20]. Daraus entwickelt sich eine Reihe von Folgeprozessen.

Maladaptationen infolge Bewegungsmangel:

Rückgang der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit

Reduzierung der Muskelmasse

Verminderung von Myoglobingehalt und Glukogenmenge in den Zellen

Rückgang der Kapillarisierung der quergestreiften Muskulatur

Verschlechterung der rheologischen Parameter des Blutes (Viskosität, Erythrozytenaggretation)

Knochendichtereduzierung

zunehmende Insulinresistenz der peripheren Rezeptoren

Rückgang der Eigenaktivität der Persönlichkeit

Die Kindheit (1.–14. Lebensjahr) ist eine Phase intensiver motorischer Lernprozesse. Hier werden wichtige Voraussetzungen für Bewegungsfunktionen gelegt, z.B. individuelle Bewegungsmuster, Bewegungsvielfalt, Freude an der Bewegung und Kondition. Bereits im mittleren Lebensalter (35.–40. Lebensjahr) beginnen normale altersphysiologische Rückbildungen wie Altersdyspraxie, Sarkopenie, Osteopenie und Reduktion der Nervenleitgeschwindigkeit [11].

Funktionsstörungen entstehen durch die Diskrepanz von Belastung und Belastbarkeit. Die Überforderung von Kompensationsfähigkeiten im privaten oder beruflichen Alltag führt zur symptomatischen Funktionsstörung. Können Funktionsstörungen innerhalb des Bewegungssystems oder des Gesamtsystems kompensiert werden, sind sie nicht symptomatisch. Das heißt Funktionsstörungen werden in Phasen präventiven Verhaltens und in subakuten Phasen vom Individuum nicht oder nur teilweise wahrgenommen. In diesen Phasen haben Funktionsstörungen keinen Krankheitswert, können aber präventiv relevant sein. Funktionsstörungen werden meist über Schmerzen, Bewegungsstörungen oder Leistungseinbußen symptomatisch.

Die genannten altersbedingten Veränderungen sind per se noch keine Krankheiten, aber funktionelle Veränderungen, auf die aktiv reagiert werden kann. Die Plastizität der motorischen Absicherungsprozesse im Rahmen der motorischen Fähigkeiten ist auch im Alter dauerhaft gefordert. Daher ist die Aufklärung der Patienten über diese normalen Prozesse und die Motivierung für Bewegung so eminent in unserem ärztlichen Tun. Hilfestellung geben dazu u.a. Broschüren der Krankenkassen („Aktiv – einfach so!“ der AOK Plus) und Schrittzähler-Apps [1]. Die symptomatische Funktionspathologie wird je nach Indikation neben präventiven Maßnahmen auch einer therapeutischen Versorgung zugeführt.

Eine Funktionserkrankung des Bewegungssystems ist in diesem Dreischritt eine gesundheitliche Störung, bei welcher die Funktionspathologie des Bewegungssystems hauptsächlich die anhaltenden Beeinträchtigungen von Funktionsfähigkeit und/oder Schmerzen erklärt bzw. beeinflusst. Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Partizipation folgen in dieser Krankheitsdynamik.

Bedeutung von
Funktionsstörungen
am Bewegungssystem

Im Dreischritt Funktion – Funktionsstörung – Funktionserkrankung steht der Begriff der Funktionsstörung in der Mitte – dies ist hier ein zentraler Begriff. Funktionsstörungen sind als Abweichung des Ist-, vom physiologischen Sollzustand definiert [13]. Es werden primäre/grundlegende und sekundäre Funktionsstörungen definiert (Abb. 6) [13, 14].

Primäre/grundlegende Funktionsstörungen sind:

konditionelle Defizite

Kraftdefizite

Veränderung der Bewegungsmuster

verminderte Bewegungswahrnehmung

insuffiziente Tiefenstabilisation

konstitutionelle Hypermobilität und

vegetative Störungen.

Diese grundlegenden Funktionsstörungen spielen bei Patienten nach unserer Beobachtung eine übergeordnete Rolle und führen häufig zu sekundären Funktionsstörungen. Das sind dann insbesondere Gelenkstörungen, Gelenkblockierungen, Muskelverspannungen und -abschwächungen, Triggerpunkte und Dysbalancen [24]. Können diese nicht kompensiert werden, führen sie zu Symptomen wie z.B. Schmerz.

In der 2017 aktualisierten AWMF- Leitlinie zum spezifischen Kreuzschmerz sind Funktionsstörungen, insbesondere die Gelenkblockierung und die myofasziale Dysfunktion als relevante funktionelle Entitäten für Kreuzschmerzen definiert worden [5].

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