Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2015

Wachstumslenkung am distalen Unterschenkel und Fuß

Nicola Flöter1, 2, Ralf Stücker1, 2, Martin Rupprecht1, 2

Zusammenfassung: Indikationen für eine wachstumslenkende Therapie am distalen Unterschenkel und Fuß sind die Valgusdeformität des oberen Sprunggelenks, der residuelle Spitzfuß bei Klumpfußrezidiv, der juvenile Hallux valgus und der flexible, schmerzhafte Knick-Senk-Fuß. Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie sind eine sorgfältige Indikationsstellung und ein ausreichendes Wachstumspotenzial der entsprechenden Epiphysenfuge. Eine gute Compliance der Eltern und Kinder ist vorauszusetzen.

Schlüsselwörter: Epiphyseodese, OSG-Valgus, Spitzfuß, juveniler Hallux valgus, Knick-Senk-Fuß

Zitierweise
Flöter N, Stücker R, Rupprecht M. Wachstumslenkung am distalen Unterschenkel und Fuß.
OUP 2015; 07: 370–375 DOI 10.3238/oup.2015.0370–0375

Summary: Ankle valgus, clubfoot, juvenile hallux valgus and flatfoot are possible indications for epiphyseodeses. Essential requirements are indication, a sufficient growth potential of the relevant physis, as well as a good compliance by children and parents.

Keywords: Epiphyseodesis, ankle valgus, clubfoot, juvenile hallux valgus, flatfoot

Citation
Flöter N, Stücker R, Rupprecht M. Growth steering the distal lower leg and foot.
OUP 2015; 07: 370–375 DOI 10.3238/oup.2015.0370–0375

Hintergrund

Grundvoraussetzung für eine wachstumslenkende Therapie ist ein signifikantes Restwachstum der Epiphysenfuge. Da sich die Wachstumsfugen an unterschiedlichen Regionen zu verschiedenen Zeitpunkten verschließen und ihre Wachstumspotenz unterschiedlich stark ausgeprägt ist, ist eine möglichst genaue Einschätzung des Wachstumspotenzials zum Zeitpunkt der Operation von großer Wichtigkeit. Routinemäßig wird die Wachstumslenkung im Sinne einer permanenten (Ausbohren der Epiphysenfugen) oder temporären (z.B. mittels Blountklammern) Epiphyseodese zur Behandlung von Achsdeformitäten der Beine (X- und O-Beine), in der Behandlung von Beinlängendifferenzen, aber auch in der Therapie von kindlichen und juvenilen Skoliosen angewendet. Ist das Wachstum schon zu weit fortgeschritten und die Wachstumsfuge annähernd verschlossen, kommt eine wachstumslenkende Therapie nicht mehr infrage. Dann stehen korrigierende Umstellungsosteotomien im Vordergrund, die invasiver und zumeist mit einer höheren Morbidität assoziiert sind.

Gerade im Bereich des Sprunggelenks und des Fußes haben sich in den letzten Jahren neue wachstumslenkende Therapiemöglichkeiten entwickelt. Sie können i.d.R. minimalinvasiv durchgeführt werden und ermöglichen zumeist eine unmittelbar postoperative, schmerzadaptierte Vollbelastung.

Ziel dieser Arbeit ist es, anhand einzelner Patientenbeispiele einen Überblick über die derzeit angewendeten wachstumslenkenden Therapieverfahren am kindlichen Sprunggelenk und Fuß zu vermitteln.

Temporäre Schrauben-
epiphyseodese der distalen medialen Tibia zur Behandlung der Valgus-Deformität des oberen Sprunggelenks

Valgus-Deformität des oberen Sprunggelenks

Klinisches Bild einer fortgeschrittenen Valgus-Deformität des oberen Sprunggelenks ist zumeist ein flexibler Knick-Senk-Fuss. Gewöhnlicherweise ist die Deformität progredient und führt zu einem Malalignement des Sprunggelenks mit assoziierten Problemen, wie z.B. einem Hallux valgus und belastungsabhängigen Beschwerden. Folge einer persistierenden Valgusstellung ist die dauerhafte Fehlbelastung v.a. des äußeren Gelenkkompartiments, was im weiteren Verlauf zu einer Schädigung des Knorpels im Sinne einer sog. Valgus-Arthrose des oberen Sprunggelenks führen kann. Die Ursachen für eine Valgusfehlstellung des oberen Sprunggelenks sind vielfältig. Neben der idiopathischen Genese tritt die Valgusdeformität nach stattgehabten Frakturen des oberen Sprunggelenks auf. Vermehrt findet sie sich auch bei Kindern und Jugendlichen mit neuromuskulären Erkrankungen wie z.B. Myelomeningocele [1, 2], Kinderlähmung oder Zerebralparese [3]. Assoziiert ist diese Deformität auch bei Kindern mit Klumpfüßen [4–6], multipler Exostosenerkrankung [7–9], fibulärer Hemimelie und fibulärer Pseudarthrose [10–12]. Zur Diagnosesicherung und Objektivierung des Befunds ist ein ap-Röntgenbild des Unterschenkels im Stand durchzuführen. Eine Sprunggelenkaufnahme ist nicht ausreichend, da der laterale distale Tibiawinkel (Normbereich 86–92°) nicht ausgemessen werden kann. Ist die Deformität ausgeprägt oder progredient, besteht in der Regel eine Operationsindikation.

Temporäre Schraubenepiphyseodese der distalen Tibia

Ziel der Therapie ist die Korrektur der Fehlstellung und die Prävention assoziierter Probleme. Ist die Wachstumsfuge der distalen Tibia bereits verschlossen (sie schließt sich von lateral nach medial), kann eine entsprechende Korrektur der Deformität nur über Osteotomien erfolgen [13–16]. Ist die distale Tibiafuge noch offen und besteht ausreichendes Wachstumspotenzial, kann wachstumslenkend therapiert werden. Bestehen Zweifel am Skelettalter des Kindes, sollte zuvor eine Skelettalterbestimmung, z.B. durch Röntgen der linken Hand, durchgeführt werden. Die Epiphyseodese wird durch eine minimalinvasiv einzubringende, kanülierte, i.d.R. 4,5 mm dicke Kortikalisschraube durchgeführt, die transepiphysär unter Bildwandlerkontrolle über die Innenknöchelspitze eingebracht wird (Abb. 1). Der Schraubenkopf sollte versenkt werden, damit es postoperativ zu keinen Weichteilproblemen kommt.

In Studien konnte gezeigt werden, dass die monatliche Korrekturrate der Valgusdeformität etwa 0,6° beträgt, wobei die individuelle Korrekturrate stark variieren kann. Die Ursache der Valgusdeformität scheint hierbei keine signifikante Rolle zu spielen [17]. Muss die Schraube bei erfolgter Korrektur vor dem Fugenschluss entfernt werden, besteht ein gewisses Risiko eines Rebound-Phänomens, das gerade bei Kindern mit multipler hereditärer Exostosenerkrankung mit bis zu 43 % recht gross ist [8].

Fallbeispiel 1 (Abb. 2)

Bei dem hier vorgestellten 14-jährigen Jungen mit multipler, hereditärer Exostosenerkrankung und konsekutiver Valgusdeformität des oberen Sprunggelenks (lateraler distaler Tibiawinkel 70°, Abb. 2 A-C) wurde eine temporäre Schraubenepiphyseodese der distalen medialen Tibia durchgeführt (Abb. 2 D). Innerhalb von 18 Monaten ist es zu einer vollständigen Korrektur der Fehlstellung gekommen (Abb. 2 E-F). Das Entfernen der Exostosen im Bereich der Sprunggelenkgabel ist dabei meistens nicht erforderlich.

Distale ventrale Tibiaepiphyseodese zur Korrektur der Spitzfußdeformität bei Klumpfußrezidiv

Spitzfußdeformität bei Klumpfußrezidiv

Seitdem die nicht invasive Gipsredression nach Ponseti zum Goldstandard der Klumpfußtherapie geworden ist, ist die Rezidivrate auf 2–5 % gesunken [18]. Bei operativ therapierten Klumpfüßen ist die Rate mit 25–45 % deutlich höher [18– 19]. Eines der häufigsten Probleme ist der Residualspitzfuß. Ein häufiger Grund für die assoziierte eingeschränkte Dorsalextenisonsfähigkeit des Fußes ist die Procurvation der distalen Tibia, die durch einen erhöhten anterioren, distalen Tibiawinkel (ADTW > 78°) charakterisiert ist. Zur Klärung der Ätiologie sollte neben der klinischen Untersuchung eine laterale Röntgenaufnahme des gesamten Unterschenkels im Stand durchgeführt werden, um den anterioren, distalen Tibiawinkel bestimmen zu können. Es werden zahlreiche aufwendige Therapieoptionen, wie die dorsal extendierende Osteotomie oder das ausgedehnte Weichteilrelease, beschrieben [19–20]. Bei noch ausreichender Wachstumspotenz kann durch die temporäre Epiphyseodese der distalen ventralen Tibia die Procurvation der distalen Tibia verringert und damit die Dorsalextensionsfähigkeit des Fußes verbessert werden.

Temporäre Epiphyseodese der
ventralen distalen Tibia

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