Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2013

Wir und unser Fach
Festrede des Präsidenten zum VSOU-Kongress 2013 Baden-Baden

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Festgäste, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ein weltberühmtes, späthellenistisches Meisterwerk in den Vatikanischen Museen zeigt Laokoon und seine Söhne von bösen Schlangen überfallen im Todeskampf. Der Apollon-Priester hatte, nachdem die Griechen vor Troja abgezogen waren, laut davor gewarnt, das Pferd in die Stadt zu ziehen, das die zähen Belagerer am Strand zurückgelassen hatten. Zornig hatte er seinen Speer gegen das Pferd geschleudert, wo er scheppernd von dessen hartem, hölzernem Körper abgeprallt sei, berichtet Vergil. Athene schickte daraufhin die Schlangen aus dem Meer, um Laokoon und seine Söhne zu töten. Der Mythos endet mit der Zerstörung Trojas.

Man könnte einen assoziativen Vergleich herstellen mit Vorgängen der jüngeren Vergangenheit: die Invasion der Unfallchirurgen in die Orthopädie – getarnt im Bauch des Pferdes als tödliches Schicksal? Natürlich kann dies nur eine metaphorische Überzeichnung sein; betrachtet man aber die tatsächlichen Veränderungen, die sich seither vollzogen haben, ist das Bild vielleicht gar nicht so abwegig.

Hat man z.B. nur die Entwicklung in der Versorgung der berufsgenossenschaftlichen Unfälle speziell im ambulanten Bereich im Auge, oder sieht man dahin, wo orthopädische Abteilungen ganz in unfallchirurgischen Kliniken aufgegangen sind, und bedenkt man die natürlicherweise dadurch entstandene Verschiebung in eine allein operative Schwerpunktbildung, wäre man geneigt, einem heutigen Laokoon recht zu geben.

Sein kleiner Sohn ist schon tot. Das ist vielleicht die Säuglingssonografie. Der Große wehrt sich noch verzweifelt, das ist vielleicht die elektive Primärendoprothetik, die vom Hausarzt direkt in die Allgemeinchirurgie übergeht und keinen Orthopäden und Unfallchirurgen mehr sieht. Das klingt heute noch sehr abwegig, aber wer hätte vor 30 Jahren geglaubt, dass die Bandscheiben-OP praktisch komplett in die Hand der Neurochirurgie wandern würde? Dass die Allgemeinchirurgie jetzt wieder verstärkt die Hand nach der Traumatologie ausstreckt, hat vielleicht auch mit der zunehmenden Spezialisierung bei uns zu tun. Jedenfalls ist es auch für unsere überwiegend operativ tätigen Kolleginnen und Kollegen keinesfalls angemessen, sich zurückzulehnen, und sich in Zeiten durchgreifender Veränderung sicher zu fühlen.

Das Ende von Troja war definitiv. Geblieben ist nur der Mythos.

Es steht heute vollkommen außer Zweifel, dass die Fusion von Orthopädie und Unfallchirurgie unausweichlich war und auch in Deutschland hat stattfinden müssen. Dies ist allein schon der europäischen Entwicklung geschuldet, innerhalb derer auch Deutschland gleichziehen musste, um dialogfähig zu bleiben.

Mein Beitrag soll auch keine einzige „ortalgische“ Träne enthalten. Es zählt allein der Blick nach vorn. Nach vorn geschaut hat auch Aeneas, Sohn der Aphrodite, die den ganzen Krieg herbeigeführt hatte. Er hat das rauchende Troja verlassen und mit seinem Vater Anchises auf den Schultern die Gestade Latiums erreicht. Dort legte er die Keimzelle für das bedeutendste Imperium der Menschheitsgeschichte, das noch heute wesentliche Details der westlichen Zivilisationsgeschichte mitgestaltet und mitbestimmt: Rom

Als Symbol für die zivilisatorischen Leistungen Roms steht Kaiser Augustus, der – bereits um das Jahr 0 – zwar keine allgemeine Krankenversicherung eingeführt, aber für die Gesundheit und Sicherheit seiner Bürger die Wasserleitungen erheblich ausgebaut, eine städtische Feuerwehr und regelmäßige Kornspenden eingerichtet hat. Die Spiele kamen erst viel später. Ein hochtrabender Vergleich mit Orthopädie und Unfallchirurgie? Er soll den Blick für die Chancen eröffnen, die aus dieser Zusammenführung und ihrer synergistischen Weiterentwicklung erwachsen.

Der schnelle Wandel ist Motto unserer Tagung

Es gibt kein Organ im menschlichen Körper, das einen so ganzheitlichen Ansatz erfordert wie das Bewegungsorgan, ist es doch das größte und – innerhalb der biologischen Systeme – am weitesten verzweigte. Es ist zusammen mit allen Nervensystemen das einflussreichste Organ bei der 3-dimensionalen Organisation des Menschen im Raum und bei der Homöostase. Das ist vielleicht der Grund, warum sich gerade im Umkreis des Bewegungsorgans, wie in keinem anderen Fach Laienheiler, Dorn-Therapeuten, Osteopathen, Chiropraktiker und Schamanen scharenweise auf die schmerzgeplagten Menschen stürzen. Sicher auch, weil die Schmerzen am Bewegungsorgan zu den häufigsten Störungen des Befindens und zu den häufigsten Funktionsstörungen in der Medizin überhaupt gehören. Zumindest bilden sie den konkurrenzlosen Spitzenreiter in der Statistik der AU-Tage! Oft sind sie aber auch Anzeichen ernster Erkrankungen, weshalb sie unter allen Umständen primär in die Hand des Facharztes gehören.

Gehen wir aus von dem Bild unserer lieb gewonnen, traditionellen Orthopädie und Unfallchirurgie vergangener Tage. Es ist bunt, facettenreich, spannend und herausfordernd. Orthopäde und Unfallchirurg zu sein, erzeugt jeden Tag eine besondere professionelle Motivation und ist eine Ursache substanzieller Lebensqualität.

Das deutsche Modell der Kombination aus Orthopädie und Unfallchirurgie hat historisch angestammte, nichtoperative Komponenten, die dem Fach in anderen europäischen Ländern längst verloren gegangen sind. Ist es sinnvoll und möglich, alle Inhalte der sogenannten konservativen Medizin am Bewegungsorgan im Fach behalten zu wollen? Ich meine ausdrücklich ja, auch wenn kaum zu erwarten ist, dass andere europäische Länder dahin zurückkehren. Aber was hindert uns daran, an den guten Dingen festzuhalten, ohne den operativen Fortschritt zu behindern?

Voraussetzung dafür ist, eine lebendige Facharztlandschaft, in der die verschiedenen Subspezialitäten unter dem großen Dach Orthopädie und Unfallchirurgie zusammen agieren, und dafür auch die verschiedenen Strukturen vorgehalten werden können und gelebt werden. Bedauerlicherweise sieht die Tagesrealität heute etwas anders aus.

O&U in Auflösung?

Dass man nach einem Zusammengehen der Fächer genauso weitermachen konnte wie vorher, war nicht zu erwarten. Es sollte etwas Neues entstehen, aber hat man das genügend überlegt und vorbereitet oder hat man es auch den Göttern überlassen? Die Vereinigung von Orthopädie und Unfallchirurgie hat natürlich, aber unerwartet, zur Verschiebung von Schwerpunkten geführt. Mit vielen Phänomenen haben wir bereits gelernt, umzugehen, mit anderen tun wir uns noch schwer: z.B., dass Orthopäden und Unfallchirurgen neuer Prägung widersinnigerweise in der selbstständigen, freiberuflichen Struktur nicht mehr wird unfallchirurgisch tätig sein können. Als „gewöhnlicher“ Facharzt wird er nämlich keine BG-Zulassung mehr bekommen und er wird auch keine Teilradiologie mehr haben. Während der Weiterbildung zum normalen Orthopäden und Unfallchirurgen wird der Assistent keine Ausbildung in Teilradiologie mehr erfahren. „Braucht er auch nicht“, wird der Kundige antworten, weil man mit den RLVs und QZVs aktueller Prägung eine entsprechende apparative Struktur nicht mehr vorhalten kann. Ob es dadurch besser wird?

Gleichermaßen wird die Sonografie, und speziell die Säuglings-Hüftsonografie aus den Praxen der Orthopäden und Unfallchirurgen verschwinden, weil sie über die U3 in die Hände der Pädiater gelangt ist. Aber auch deshalb, weil bei der derzeitigen QZV-Sonografie die Amortisationszeit eines entsprechenden Ultraschallgeräts bei ungefähr 400 Jahren liegt. Trotzdem: Eine 3A-Hüfte in der Praxis gut zu behandeln, gehört weiterhin zu den Höhepunkten der orthopädischen Tätigkeit.

Vielleicht ist es aber auch historisch folgerichtig, dass die Sonografie der Säuglingshüfte in die pädiatrische Praxis geht. Das lässt sich bisher nicht entscheiden, ein Verlust ist es allemal. Dass aber pädiatrisch präsidierte Qualitätskontrollgremien bisweilen erhebliche Mängel in der orthopädisch-sonografischen Arbeit an der Säuglingshüfte feststellen müssen, sollte uns extrem nachdenklich stimmen. Hier ist es nicht mehr angezeigt, noch Unbill im Außen suchen zu wollen.

Die Rheumatologie macht ihre größten Fortschritte auf dem Gebiet der Pharmakologie. So große Fortschritte, dass die Synovektomien der großen und kleinen Gelenke einen dramatischen Rückgang erfahren, was aus der Sicht des Patienten ein Glücksfall ist, aber wieder hat der Organfacharzt eine Aufgabe weniger. Auch hier dürfen wir uns die Frage stellen, warum können Orthopäden nicht flächendeckend mit Biologicals umgehen und warum sind sie nicht in der Lage, die internistischen, meist laborchemischen, Kontrollen bei Therapie mit DMARDS eigenverantwortlich durchzuführen?

In der Schmerztherapie haben wir vor 15 Jahren angesichts der vor allem von anästhesiologischen Gesellschaften formulierten schmerztherapeutischen Curricula, noch vollmundig gesagt: Das haben wir doch schon immer so gemacht, das ist doch selbstverständlich unser Job. Die Gestalter der Gebührenwerke haben uns dann sehr schnell eine andere Realität gelehrt, wodurch wir definitiv eines wesentlichen Bestandteils unserer damaligen Arbeit beraubt wurden. Es waren vor allem die Gründer der IGOST und ihre Nachfolger, die die Wege aufgezeigt haben, wie wir in der Schmerzbehandlung noch Fuß fassen konnten; und viele von uns haben vor Ablauf der Übergangsfristen noch den Sprung gewagt, an der Versorgung chronisch schmerzkranker Patienten teilzunehmen. Dennoch sind sie eine Minderheit geblieben. Vor Galens großer Aussage „divinum est sedare dolorem“ eigentlich unverständlich und angesichts der Tatsache, dass 80 Prozent aller relevanten Schmerzdiagnosen das Bewegungsorgan betreffen, nicht nachvollziehbar.

Schmerztherapie und
konservative Inhalte als
zentrales Anliegen von O&U

Die nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz weist heute insbesondere den psychotherapeutischen Verfahren, und in erster Linie der kognitiven Verhaltenstherapie als evidenzbasiert wirksames Verfahren beim chronischen, nicht spezifischen Kreuzschmerz die größte therapeutische Bedeutung zu. Physikalische Therapie und alle Arten von Injektionen fallen demgegenüber vor den Scharfrichtern der evidenzbasierten Medizin gänzlich durch. Die Kritik, dass der „nichtspezifische Kreuzschmerz“ als Eingangsentität der NVL unzureichend definiert sei und deshalb auch die therapeutischen Ableitungen nicht valide seien, ist einerseits richtig, eine solide Untergruppenbildung beim „nichtspezifischen Kreuzschmerz“ ist eine noch immer ausstehende Herausforderung. Andererseits hat das Organfach es bisher genauso wenig geschafft, auch nur im Ansatz zu definieren, was ein „spezifischer Kreuzschmerz“ ist, wenn wir von den sogenannten Red flags einmal absehen. Eine DGOOC-Leit-
linienkommission hat gerade die Arbeit daran aufgenommen.

Was bedeutet dies für den Orthopäden und Unfallchirurgen der Zukunft? Wird er auch, was den Kreuzschmerz betrifft, zuschauen, wie er in andere Fachgebiete abdriftet, insbesondere in die internistische Rheumatologie, die physikalische und rehabilitative Medizin, die Pädiatrie, die Anästhesiologie, die Sportmedizin und auch zu großen Anteilen in die nicht ärztlichen Berufsgruppen wie Physiotherapeuten und Masseure und am Ende auch in die Gruppen der nicht definierten Osteopathen und Laientherapeuten?

Der notwendige Blick in die Grundlagenforschung

Aus dem Bereich der Erfolgsphilosophie der Wirtschaftsunternehmen stammt folgender Leitsatz: „Die Lösung vieler Probleme liegt nicht auf der Ebene, auf der das Problem selbst angesiedelt ist, sondern auf der nächsthöheren.“ Das heißt für uns: Kreuzschmerzen haben nicht nur ein morphologisches Korrelat oder etwas, was wir dafürhalten, sondern einen Überbau, der uns weit in zum Teil gänzlich andere Fächer führt. Die Ursache dafür, dass viele Teilgebiete unseres Fachs in andere Hände wandern, liegt darin begründet, dass die wissenschaftlichen Fortschritte in diesen Teilgebieten nicht innerhalb klassischer Themenkreise der Orthopädie und Unfallchirurgie gemacht werden, sondern in anderen Fachgebieten, wie Biochemie, Pharmakologie, Membranphysiologie, Psychologie und anderen Fächern.

An dieser Stelle möchte ich ganz besonders auf unsere Special Lectures „Schmerzen verstehen – Schmerzen behandeln“ hinweisen, wo international renommierte Grundlagenforscher aus ihren Fachgebieten berichten, welche Bedeutung ihre Forschung für Assessment und Therapie von Kreuzschmerzen haben könnte, u.a. aus der Neurophysiologie, Hirnforschung und der funktionellen Bildgebung.

Ich räume freilich ein, dass es für uns Orthopäden und Unfallchirurgen nicht ganz einfach ist, dort zuzuhören, weil wir auch und in erster Linie deshalb Orthopäden geworden sind, weil wir mit Schrauben, Nägeln, Gips, Platten und Endoprothesen umgehen wollen, und weniger mit den Dingen, zu denen wir schon als Studenten ein eher distanziertes Verhältnis hatten. Aber es ist ein Gebot der Stunde, sich den neuen Inhalten in der Schmerztherapie nicht mehr zu verschließen, wenn wir nicht auch den Schmerz, und allen voran den Kreuz- und den Wirbelsäulenschmerz aus der Hand verlieren wollen. Hier wandelt sich unser Berufsbild.

Es wird eine große Bereitschaft verlangt zur psychologisierenden Einfühlung, zur detaillierten Substanzkenntnis im Bereich der Schmerzpharmakologie und dazu eine ausgesprochene Fertigkeit im Umgang mit invasiven Maßnahmen, wie gezielten Injektionen, Denervierungen, Kathetertechniken etc.; und nicht zuletzt eine umfangreiche Ausbildung in Manueller Medizin, in funktionellen Methoden und letztlich auch im psychotherapeutischen Gespräch. Die Entwürfe zur WBO-Novellierung sehen dagegen vor, dass die invasiven Verfahren ganz aus der Orthopädie verschwinden sollen!

Bei allem Respekt vor den Leistungen der Psychologie müssen wir uns fragen, ob wir Heere von psychisch Kranken erzeugen müssen, um des Phänomens Kreuzschmerz Herr zu werden.

Hüten wir uns davor, in Ermangelung von wirklich validen physischen Assessments Patienten zu stigmatisieren. Es wird in den Kreisen derer, die sich heute alle mit Kreuzschmerz beschäftigen, oft zu leichtfertig auf die Expertise des Organfacharztes verzichtet, was in der extremsten Ausprägung bis zur vehementen Verneinung der Existenz eines aktiven Nozigenerators führt. Allen voran durch die Disziplinen, die in der Politik nichtorthopädischer Schmerzgesellschaften tonangebend sind. Dies ist besonders dramatisch für uns, weil wir auch als Operateure notwendigerweise dem Nozigenerator auf der Spur sein müssen.

Den Schmerz als nosologische Einheit rein psychologisch zu behandeln, ist genauso wenig zielführend, wie ihn ausschließlich mechanisch-anatomisch erklären zu wollen. Dass Lebensumstände, psychosoziale Belastung und Kindheitsgeschichte ein schmerzhaftes Krankheitsgeschehen beeinflussen, weiß inzwischen auch der Patient und u.U. möchte er vor allem mit dem Arzt darüber sprechen. Das darf uns trotzdem nicht dazu verleiten, ihn darauf zu fixieren oder gar zu reduzieren, weil unsere Vorstellung zur Erklärung seiner Schmerzen gerade versagt. Nur wenn wir lernen, sensibel mit allen Faktoren umzugehen, können wir unseren Patienten gerecht werden.

Heute hängt der Korb im Sinne des Zugangs zur schmerztherapeutischen Versorgung mit einem vollen Jahr Weiterbildung an einer entsprechenden Einrichtung für uns alle sehr hoch. Besonders tragisch ist, dass nur wenige orthopädische Hauptabteilungen in Deutschland die Zulassung zur Weiterbildung für ein ganzes Jahr, d.h. die volle Weiterbildung, anbieten können und dass sich hier auch keine schnelle Besserung abzeichnet. Gerade in den letzten Tagen höre ich, dass die stationäre Schmerztherapie nur noch dort realisierbar ist, wo schwere Grunderkrankungen eine postinterventionelle Überwachung in einer klinischen Struktur notwendig machen, d.h. die Assistenzärztin und der Assistenzarzt, die sich in der klinischen Ausbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie befinden, haben während dieser Zeit nur an wenigen Stellen und oft nur teilweise die Möglichkeit, die Qualifikation „Spezielle Schmerztherapie“ zu erwerben.

Schmerztherapie wird aber Bestandteil der Approbationsordnung und es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die ausbildenden orthopädischen Strukturen an den Universitäten in dieser Ringvorlesung bisher nur sehr schwach vertreten sein werden. Dies ist ein alarmierender Zustand auch deshalb, weil die Mehrzahl der neuropathischen Schmerzfälle direkt mit Unfällen zu tun hat!

Junge Kolleginnen und Kollegen legen naturgemäß am Anfang ihrer Ausbildung ihren Interessenschwerpunkt gerne auf die operative Seite. Ich erhebe aber noch einmal die warnende Hand: Wenn Orthopädie und Unfallchirurgie hier nicht schnell aufwachen, und die Inhalte von Neurophysiologie und Gehirnforschung, von Neuropharmakologie, und Psychotherapie systematisch in die Ausbildung und Weiterbildung holen, sind sie für uns für immer verloren.

Wir müssen (berufs-)
politisch aktiver werden!

Parteiübergreifend zeichnen sich Entwicklungen ab, welche die ärztliche, freiberufliche Patientenversorgung ernsthaft gefährden. Die ruinösen RLVs für die Praxen sind ein deutliches Signal. Zahlreiche bisher exklusiv ärztliche Aufgaben sollen in die Hände nachgeordneter Heilberufe gehen. Wohnortnahe, kleinere Krankenhäuser werden reihenweise geschlossen, sogenannte Doppelstrukturen, einschließlich der „doppelten Facharztschiene“ – welch ein Unwort – sollen abgebaut werden.

Aber warum soll eine der reichsten Zivilisationen der Welt ausgerechnet dort, wo die sensibelsten Prozesse ablaufen, nämlich beim Erhalt und der Wiederherstellung von Gesundheit, auf ärztliche und ausdrücklich betont auf fachärztliche Primärkontakte und wohnortnahe Versorgung verzichten müssen?

Gespart wird von der Politik publikumswirksam am liebsten dort, wo die langfristigen Folgen am leichtesten zu verschleiern sind, nämlich bei der Bildung, bei der Forschung und bei der Gesundheit. Spätestens an dieser Stelle hören wir die Arie mit den Produktionskosten im internationalen Vergleich und mit der Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte auf dem Weltmarkt. Niemand glaubt, dass wir mit einer Jeansfabrik in Bangladesch jemals wieder konkurrenzfähig werden. Nachhaltig global wettbewerbsfähig zu sein und zu bleiben hat viele Komponenten. Eine davon ist eine hervorragende medizinische Versorgung.

Die Einführung des Wettbewerbs in die medizinische Versorgung hat abstruse Blüten getrieben. Sog. Zielvereinbarungen, fragwürdige Indikationen, Personalüberlastung und Qualitätsdefizite sind nur die augenfälligsten. Das heißt natürlich nicht, dass die Ressourcen nicht vernünftig und sparsam bewirtschaftet werden müssen, aber Krankheiten und Unfälle liegen auch nicht im Wettbewerb untereinander, wie sie die Menschen erreichen.

Ist es tolerabel, dass durch „Neuordnung des Gesundheitsmarkts“ Konzerne die gesamte Verteilung und Angebotsmacht übernehmen? Oder, dass eine Verzerrung der Wirtschaftlichkeitskriterien die ärztliche Freiberuflichkeit massiv in Gefahr bringt? Treten wir Ärzte und Fachärzte entschieden genug auf in diesem Szenario? Ist der drohende Verlust der Werte schon genügend ins Bewusstsein gedrungen? Müssen Orthopädie und Unfallchirurgie sich veranlasst sehen, sich stärker politisch zu artikulieren? Eine Ausnahmegestalt wie der KV-Vorsitzende von Baden Württemberg, Norbert Metke, darf hier kein Einzelfall sein. Warum treten wir nicht stärker einem offensichtlich politischen Willen entgegen, die freiberufliche, hoch qualifizierte, wohnortnahe Fachärztlichkeit durch Aushungern abzuschaffen? Warum soll unser in vieler Hinsicht weltbestes und herausragendes Gesundheitssystem nicht mehr kosten dürfen als im internationalen Vergleich, wo bekanntermaßen vielerorts unsere Standards nicht erreicht werden? Wir haben in Deutschland höhere Ausgaben für humanitäre Infrastruktur als die meisten Länder der Welt. Wir leisten uns die höchste Zahl von Orchestern und Theatern bezogen auf den einzelnen Bürger und wir gehören in Wissenschaft und Forschung immer noch zu den Spitzenreitern in Europa und auf Welt. Warum soll die Gesundheitsversorgung in unserem Land nicht das kosten dürfen, was sie Wert ist?

Es wäre zu hoffen, dass die nächste Wahl den Fortbestand intelligenz-basierter Systeme in der Bundesrepublik befördert. Es gilt, Berufsfreiheit und Freiberuflichkeit unter höchstem Qualitätsanspruch als ein hohes Gut zu verteidigen.

Mögliche Neuorientierung
des Facharztes

Der Patient der Zukunft ist mehr denn je medizinisch aufgeklärt und verlangt nach kausalen Zusammenhängen für seine Erkrankung und seine Schmerzen. Der niedergelassene Orthopäde und Unfallchirurg der Zukunft wird daher ein umfangreiches und auch teilweise neues Arbeitsfeld vorfinden:

Er wird arbeiten:

  • 1. mit einer multidimensional komponierten Diagnose im wissenschaftlichen Sinne, die er mit nachvollziehbarer Terminologie dem Patienten kommunizieren kann,
  • 2. mit organfachärztlicher Expertise und Erfahrung als Basis seiner Beratung,
  • 3. mit umfangreicher Sozialkompetenz, um dem Patienten Ängste zu nehmen und mit ihm gemeinsam eine konsensfähige Therapie zu erarbeiten, die dann auch Compliance und Adhärenz zeitigt,
  • 4. mit schmerztherapeutischer Kompetenz als Case-Manager,
  • 5. mit der Grundausstattung psychotherapeutischer Gesprächsführung,
  • 6. mit seiner gesamten chirurgischen Kompetenz, die er im interdisziplinären Konzert der Therapiemaßnahmen exklusiv als Orthopäde und Unfallchirurg beherrscht.

Woher sollen wir die Zeit
dafür nehmen?

Die gemessene Zeit, als Dimension des Raumes auf dem Zifferblatt einer Uhr ist hier nicht entscheidend, sondern die erlebte, begriffene Zeit des Patienten. Und die muss nicht von langer Dauer sein. Diese Zeit aber so zu gestalten, dass der Patient sie als informativ und befriedigend erlebt, kostet den Arzt viel Kraft und setzt überragende Konzentration voraus.

Entscheidend ist hier, wie der Patient den Arzt erlebt. Erkennt er Symptome von Zeitmangel und Hektik, wird er immer das Gefühl haben, er sei nicht richtig wahrgenommen worden. Spürt er das Gegenteil, ist er zufrieden. Dieselbe gemessene Zeitspanne kann dann sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Albert Einstein und Ernst Mach haben versucht, dieses Phänomen in Gleichungen zu fassen, wir müssen uns vor allem ihrer Existenz bewusst sein und engagiert damit umgehen.

Nachwuchs und
Weiterbildung – eine Herausforderung für alle!

Für die nächste Generation ist absehbar, dass für qualifizierte und hoch qualifizierte junge Leistungsträger eine erheblich verstärkte Nachfrage herrschen wird, was zu einer Veränderung des Selbstbewusstseins im wahrsten Sinn des Wortes führt. Dieses veränderte Selbstbewusstsein zwingt uns, als die Generation der Ausbilder und der Arbeitgeber, uns auf einen veränderten Umgang mit jungen Menschen einzustellen, auf einen Umgang jedenfalls, der ganz grundsätzlich verschieden ist von dem, was wir gewohnt waren und wie wir in unserer Jugend und Ausbildung behandelt wurden.

Diese Generation hat Auslandsaufenthalte und Sprachkenntnisse vorzuweisen, hat kulturelle Interessen, beherrscht verschiedene Sportarten und Musikinstrumente, hat von Anfang an gezieltes biografisches Selbstmanagement betrieben und ist global orientiert und sozial gut vernetzt. Diese Generation kann effektiv arbeiten und will es auch, aber Arbeit, Karriere und Sozialprestige können in dieser Generation nicht mehr den Stellenwert einnehmen, den sie noch für uns hatten. Denn 70 % der Studienabgänger sind heute Frauen. Dies wäre für die Orthopädie und Unfallchirurgie viel mehr eine Chance als ein Problem, wäre da nicht die fatale Dreifachrolle, in der sie ihren Lebensunterhalt verdienen, für den biologischen Nachwuchs sorgen und am Ende noch für unsere Renten aufkommen müssen. Die Frauen wollen und müssen Familie und Feierabend, Beruf und Freunde und Sinnhaftigkeit des Lebens vereinen. Sie tun dies mit ausgesprochener Zielstrebigkeit und mit Nachdruck. Zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft muss ihre Work-Life-Balance auch unser Anliegen sein.

Ich bin fest überzeugt davon, dass nur die Integration und Lösung der oben beschriebenen Fragestellungen in die neue WBO hier einen substanziellen und am Ende zielführenden Fortschritt bringen kann.

Hier kommt eine neue Zeit, in der grundlegend umgedacht werden muss. Eine Facharztausbildung, die möglicherweise 12 Jahre im Halbtagsjob dauert, Führungspositionen, die unter 2 oder 3 Personen geteilt werden und eine zeitliche Planbarkeit (nicht Flexibilität!) der täglichen Inanspruchnahme werden nötige Voraussetzungen für einen erfolgreichen personellen Fortbestand nicht nur unseres Faches, sondern vielmehr der gesamten medizinischen Versorgung sein.

Diese Entwicklung ist ganz grundsätzlich positiv. Sie erfordert allerdings, dass wir uns von der lieb gewonnenen Vorstellung der Personalisierung einer Funktion, wie zum Beispiel eines berühmten Chefarztes oder eines beliebten Hausarztes oder eines unverzichtbaren ambulanten Operateurs lösen müssen.

Noch können wir uns nicht vorstellen, wie die Informationsübergabe stattfinden wird und wie der gerade in der Medizin notwendige lineare Fluss von Information in einer Krankengeschichte durch häufig wechselnde Behandler gewährleistet werden soll. Teleradiologie, Ferndiagnostik, Telemedizin, sind Dinge, die selbstverständlich mit den Errungenschaften der modernen Elektronik Zeit und Raum überwinden. Warum soll es nicht möglich sein, auch die personale Fixierung hoch verantwortlicher Vorgänge durch hoch entwickelte Informationssysteme zu überwinden?

Zur Lösung der Zukunftsfrage gehört auch, dass ein junger Arzt, der sicher weiß, dass er konservativ arbeiten will, nicht die ganze große, operative Ausbildung durchlaufen muss, sondern schon früh die anderen Dinge lernen darf, ohne hinterher einen schlechteren Überblick über das Fach zu haben. Hier geht noch einmal mein lauter Appell an die Architekten der WBO!

Ausblick

Es kann gelingen, dass die Attraktivität des ärztlichen Berufs wieder ansteigt und die persönlich höchst motivierenden Seiten der ärztlichen Professionalität wieder erlebbar sein werden, ohne ständig am Rande des Burnouts dahin zu schrammen. Der ärztliche Beruf ist zu umfassend, zu erfüllend und zu wertvoll dafür, dass wir ihn nur als schwere, erschöpfende Belastung erleben und dass die Menschen, die sich an uns wenden, gestresste, abgearbeitete Ärzte ohne Zeit vor sich sehen.

Der Prozess des großen Umdenkens wird in allererster Linie damit zu tun haben, dass das radikale Abprüfen jeder wirtschaftlichen, medizinischen, politischen oder industriellen Aktivität im Hinblick auf die Gewinnmaximierung einem philosophischeren Denkansatz wird weichen müssen, der auch den Wert und die Würde des einzelnen Individuums wieder mehr in den Vordergrund stellt. Bedenken Sie, dass in der frühen Zeit der Industrialisierung 12– bis 14-stündige Arbeitstage die Regel waren und sich kein Mensch vorstellen konnte, dass durch die Verbesserung der Technologien und der Nutzbarmachung von Ressourcen eine 38,5-Stunden-Woche in sozialer Absicherung möglich sein würde; und wer hätte sich vor 100 Jahren einen allgemeinen Wohlstand überhaupt vorstellen können, wie er heute in Westeuropa Realität ist?

Die Geschichte lehrt uns, dass es keiner Kultur je gelungen ist, an tradierten Strukturen festzuhalten, auch wenn sie noch so erfolgreich waren und es gerade noch den Anschein hatte, dies müsse sich nie ändern.

Lassen wir also Laokoon hinter uns! Die Vereinigung von Orthopädie und Unfallchirurgie kann wunderbar sein, wie die von Amor und Psyche. Ich habe nicht selten, wenn von der großen Wirbelsäulenchirurgie, der Primärtraumatologie, der Tumorchirurgie oder auch von großer Endoprothesenchirurgie die Rede war, von Helden gesprochen. Diese Ärzte sind Helden des modernen Lebens mit zum Teil unvorstellbaren Spitzenbelastungen. Nicht weniger heldenhaft sind Ärzte und Ärztinnen, die sich am anderen Ende der Skala aufhalten und mit den schicksalsgebeutelten, den Elenden und den Verstoßenen der Gesellschaft, die natürlicherweise auch mehr Schmerzen haben, als Menschen auf der Sonnenseite des Lebens, und ihnen helfen, ihr Leben erträglich zu gestalten.

Wir dürfen uns bewusst sein, dass unser Fach wahrscheinlich den weitesten Bogen spannt, nämlich zwischen dem Frontkampf in der Rettungsmedizin und der Primärtraumatologie an dem einen Ende und der verbalen Krisenintervention im therapeutischen Gespräch und der Therapie chronisch Schmerzkranker am anderen Ende, und das Neugeborene wie Greise einschließt.

Um auf unseren Kongress zurückzukommen: Die richtige ärztliche Entscheidung zwischen den beiden Polen können wir nur fällen, wenn wir die ganze Breite des Feldes kennen und wenn jeder von uns sich immer wieder auf der ganzen Breite auch aufhält. Dies möchte ein Appell sein, dass wir alle die thematische Breite dieses Kongresses auch wahrnehmen und dass jeder von uns sich die Frage stellen darf, ob er sich nicht auch mal auf der Gegenseite seiner angestammten Position aufhalten sollte.

In diesem Sinne eröffne ich diesen Kongress der VSOU 2013 und wünsche Ihnen allen viel Erfolg, neue Erkenntnis und nicht zuletzt auch viel Spaß bei der Arbeit der nächsten 3 Tage. Bringen sie Herz und Geist mit ein, dann kann nichts schief gehen.

Dr. Hermann Locher

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5