Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2013

Wir und unser Fach
Festrede des Präsidenten zum VSOU-Kongress 2013 Baden-Baden

Ist es tolerabel, dass durch „Neuordnung des Gesundheitsmarkts“ Konzerne die gesamte Verteilung und Angebotsmacht übernehmen? Oder, dass eine Verzerrung der Wirtschaftlichkeitskriterien die ärztliche Freiberuflichkeit massiv in Gefahr bringt? Treten wir Ärzte und Fachärzte entschieden genug auf in diesem Szenario? Ist der drohende Verlust der Werte schon genügend ins Bewusstsein gedrungen? Müssen Orthopädie und Unfallchirurgie sich veranlasst sehen, sich stärker politisch zu artikulieren? Eine Ausnahmegestalt wie der KV-Vorsitzende von Baden Württemberg, Norbert Metke, darf hier kein Einzelfall sein. Warum treten wir nicht stärker einem offensichtlich politischen Willen entgegen, die freiberufliche, hoch qualifizierte, wohnortnahe Fachärztlichkeit durch Aushungern abzuschaffen? Warum soll unser in vieler Hinsicht weltbestes und herausragendes Gesundheitssystem nicht mehr kosten dürfen als im internationalen Vergleich, wo bekanntermaßen vielerorts unsere Standards nicht erreicht werden? Wir haben in Deutschland höhere Ausgaben für humanitäre Infrastruktur als die meisten Länder der Welt. Wir leisten uns die höchste Zahl von Orchestern und Theatern bezogen auf den einzelnen Bürger und wir gehören in Wissenschaft und Forschung immer noch zu den Spitzenreitern in Europa und auf Welt. Warum soll die Gesundheitsversorgung in unserem Land nicht das kosten dürfen, was sie Wert ist?

Es wäre zu hoffen, dass die nächste Wahl den Fortbestand intelligenz-basierter Systeme in der Bundesrepublik befördert. Es gilt, Berufsfreiheit und Freiberuflichkeit unter höchstem Qualitätsanspruch als ein hohes Gut zu verteidigen.

Mögliche Neuorientierung
des Facharztes

Der Patient der Zukunft ist mehr denn je medizinisch aufgeklärt und verlangt nach kausalen Zusammenhängen für seine Erkrankung und seine Schmerzen. Der niedergelassene Orthopäde und Unfallchirurg der Zukunft wird daher ein umfangreiches und auch teilweise neues Arbeitsfeld vorfinden:

Er wird arbeiten:

  • 1. mit einer multidimensional komponierten Diagnose im wissenschaftlichen Sinne, die er mit nachvollziehbarer Terminologie dem Patienten kommunizieren kann,
  • 2. mit organfachärztlicher Expertise und Erfahrung als Basis seiner Beratung,
  • 3. mit umfangreicher Sozialkompetenz, um dem Patienten Ängste zu nehmen und mit ihm gemeinsam eine konsensfähige Therapie zu erarbeiten, die dann auch Compliance und Adhärenz zeitigt,
  • 4. mit schmerztherapeutischer Kompetenz als Case-Manager,
  • 5. mit der Grundausstattung psychotherapeutischer Gesprächsführung,
  • 6. mit seiner gesamten chirurgischen Kompetenz, die er im interdisziplinären Konzert der Therapiemaßnahmen exklusiv als Orthopäde und Unfallchirurg beherrscht.

Woher sollen wir die Zeit
dafür nehmen?

Die gemessene Zeit, als Dimension des Raumes auf dem Zifferblatt einer Uhr ist hier nicht entscheidend, sondern die erlebte, begriffene Zeit des Patienten. Und die muss nicht von langer Dauer sein. Diese Zeit aber so zu gestalten, dass der Patient sie als informativ und befriedigend erlebt, kostet den Arzt viel Kraft und setzt überragende Konzentration voraus.

Entscheidend ist hier, wie der Patient den Arzt erlebt. Erkennt er Symptome von Zeitmangel und Hektik, wird er immer das Gefühl haben, er sei nicht richtig wahrgenommen worden. Spürt er das Gegenteil, ist er zufrieden. Dieselbe gemessene Zeitspanne kann dann sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Albert Einstein und Ernst Mach haben versucht, dieses Phänomen in Gleichungen zu fassen, wir müssen uns vor allem ihrer Existenz bewusst sein und engagiert damit umgehen.

Nachwuchs und
Weiterbildung – eine Herausforderung für alle!

Für die nächste Generation ist absehbar, dass für qualifizierte und hoch qualifizierte junge Leistungsträger eine erheblich verstärkte Nachfrage herrschen wird, was zu einer Veränderung des Selbstbewusstseins im wahrsten Sinn des Wortes führt. Dieses veränderte Selbstbewusstsein zwingt uns, als die Generation der Ausbilder und der Arbeitgeber, uns auf einen veränderten Umgang mit jungen Menschen einzustellen, auf einen Umgang jedenfalls, der ganz grundsätzlich verschieden ist von dem, was wir gewohnt waren und wie wir in unserer Jugend und Ausbildung behandelt wurden.

Diese Generation hat Auslandsaufenthalte und Sprachkenntnisse vorzuweisen, hat kulturelle Interessen, beherrscht verschiedene Sportarten und Musikinstrumente, hat von Anfang an gezieltes biografisches Selbstmanagement betrieben und ist global orientiert und sozial gut vernetzt. Diese Generation kann effektiv arbeiten und will es auch, aber Arbeit, Karriere und Sozialprestige können in dieser Generation nicht mehr den Stellenwert einnehmen, den sie noch für uns hatten. Denn 70 % der Studienabgänger sind heute Frauen. Dies wäre für die Orthopädie und Unfallchirurgie viel mehr eine Chance als ein Problem, wäre da nicht die fatale Dreifachrolle, in der sie ihren Lebensunterhalt verdienen, für den biologischen Nachwuchs sorgen und am Ende noch für unsere Renten aufkommen müssen. Die Frauen wollen und müssen Familie und Feierabend, Beruf und Freunde und Sinnhaftigkeit des Lebens vereinen. Sie tun dies mit ausgesprochener Zielstrebigkeit und mit Nachdruck. Zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft muss ihre Work-Life-Balance auch unser Anliegen sein.

Ich bin fest überzeugt davon, dass nur die Integration und Lösung der oben beschriebenen Fragestellungen in die neue WBO hier einen substanziellen und am Ende zielführenden Fortschritt bringen kann.

Hier kommt eine neue Zeit, in der grundlegend umgedacht werden muss. Eine Facharztausbildung, die möglicherweise 12 Jahre im Halbtagsjob dauert, Führungspositionen, die unter 2 oder 3 Personen geteilt werden und eine zeitliche Planbarkeit (nicht Flexibilität!) der täglichen Inanspruchnahme werden nötige Voraussetzungen für einen erfolgreichen personellen Fortbestand nicht nur unseres Faches, sondern vielmehr der gesamten medizinischen Versorgung sein.

Diese Entwicklung ist ganz grundsätzlich positiv. Sie erfordert allerdings, dass wir uns von der lieb gewonnenen Vorstellung der Personalisierung einer Funktion, wie zum Beispiel eines berühmten Chefarztes oder eines beliebten Hausarztes oder eines unverzichtbaren ambulanten Operateurs lösen müssen.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5