Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Befunddokumentation mit der Neutral-Null-Methode bei Begutachtung
Hinweise für den Nichtgeübten

Werner Kneer, Jörg Schmidt

Zusammenfassung:
Bei der Beschreibung des Bewegungsausmaßes von Probanden im Rahmen der Begutachtung sind einige grundlegende Regeln zu beachten. Neben der Kenntnis über die Körperebenen, der Grundlage der Neutral-Null-Methode, muss die Art und Weise der Bewegungsmessung geübt und verinnerlicht sein. Maßgeblich für die Entscheidungsgrundlage der Begutachtung ist die aktiv-assistierte Bewegungsmessung. Dabei wird vom Gutachter die aktiv durchgeführte Bewegung so unterstützt, dass Bewegungshindernisse erkannt und eingeordnet werden können.

Schlüsselwörter:
Körperebenen, Neutral-Null-Methode, aktiv-assistierte Bewegung

Zitierweise:
Kneer W, Schmidt J: Befunddokumentation mit der Neutral-Null-Methode bei Begutachtung.
Hinweise für den Nichtgeübten
OUP 2023; 12: 231–235
DOI 10.53180/oup.2023.0231-0235

Summary: A few basic rules must be observed when describing the range of motion of test persons in the context of the assessment. In addition to knowledge of the body levels, the basis of the neutral zero method, the way of measuring movement must be practiced and internalized. The active assisted movement measurements are decisive for the decision-making basis of the assessment. The assessor supports the actively carried out movement in such a way that obstacles to movement can be recognized and classified.

Keywords: Body planes, neutral zero method, active assisted movement

Citation: Kneer W, Schmidt J: Documentation of findings with the neutral zero method during assessment.
Information for the inexperienced
OUP 2023; 12: 231–235. DOI 10.53180/oup.2023.0231-0235

W. Kneer: MBK – Medizinische Begutachtung Dr. Kneer, Stockach

J. Schmidt: Institut für Rehabilitationsforschung und Personenschaden-Management am ZVF BB, An-Institut an der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane; W. Kneer: MBK – Medizinische Begutachtung Dr. Kneer, Stockach

Einleitung

Die Frage, wie eine plausible Funktionsanalyse nach der Neutral-Null-Methode für Gutachtenzwecke erstellt wird, ist erstaunlicherweise bis heute ein aktuelles Thema. Sie wurde 1936 von Cave und Roberts erstmals veröffentlicht [1] und ist Grundlage für Untersuchungsrichtlinien orthopädischer Fachgesellschaften. Sie gilt seit 1971 in modifizierter Weise als internationaler Standard zur Beurteilung und Dokumentation von Bewegungsumfängen eines Gelenks und wurde z.B. im AO-Bulletin veröffentlicht [2]. Immer wieder wird diskutiert, ob bei einer Begutachtung das aktive oder das passive Bewegungsmaß dokumentiert und zur Einschätzung der Einschränkungen herangezogen werden soll. Im Folgenden werden die Vor- und Nachteile der aktiven bzw. passiven Bewegungsmessung diskutiert. Es wird darauf eingegangen, in welchem Zusammenhang die Bewegungsmessungen mit den Körperebenen zu sehen ist. Der/Dem in der Begutachtung weniger Geübten werden praktische Hinweise zum Umgang mit dieser standardisierten Messmethode gegeben.

SFTR-Dokumentation

Die Dokumentation der Funktionsgrade erfolgt in der SFTR-Dokumentation, d.h. der Sagittalebene, Frontalebene, Transversalebene und Rotationsebene zur einheitlichen Beschreibung der gemessenen Werte in Winkelgraden (Abb. 1) mit einem Winkelmesser (Goniometer). Beim Schultergelenk wird beispielsweise der Bewegungsumfang für die Flexion (Anteversion) – Extension (Retroversion) in der Sagittalebene, der Abduktion/Adduktion in der Frontalebene und – in der Begutachtung nicht gebräuchlich, aber von praktischer Relevanz – in der Transversalebene ebenfalls die Extension und Flexion erhoben (Abb. 1). Eine gemeinsame Nomenklatur zur Bezeichnung der Bewegungsebenen für Therapeutinnen und Therapeuten wird vorgeschlagen [3] (Abb. 2).

Limitationen des
Messverfahrens

Zu beachten ist der Muskeltonus der Probantin/des Probanden. Dem kann dadurch Rechnung getragen werden, dass man der/den Versicherten mehrfach am in ihrer/seiner Funktion des fraglichen Gelenks, beispielsweise des Schultergelenks, überprüft und auf diese Art und Weise einen Mittelwert bilden kann [4].

Außerdem sind zu beachten: Kontraktion bei spastischen Lähmungen, Fehler bei Messung der Außenrotation bei Patientinnen und Patienten mit geburtstraumatischer Plexusparese [5], Narben, die zu Kontrakturen führen können, Weichteilmantel, Schmerzreflektorisches Gegenspannen der Probantin/des Probanden und andere.

Ein weiteres Problem bei der Ermittlung des zutreffenden Bewegungsumfanges besteht darin, dass keine abschließende Einigkeit darüber besteht, wie nun genau die Testung des Bewegungsumfangs vorgenommen werden soll: Ist es eine aktive Prüfung? Ist es eine passiv-assistiert durchzuführende Bewegungsprüfung oder ist es eine Bewegungsprüfung, bei der die Hand der Untersucherin/des Untersuchers die zu untersuchende Extremität stützt und quasi die Schwerkraft aufhebt und somit bei der passiven Methode den wahren Umfang des Bewegungsmaßes ermitteln kann? Gelegentlich wird sich die Untersuchte/der Untersuchte und deren/dessen Rechtsvertreterin/Rechtsvertreter gegen diese Art der Ermittlung der Beweglichkeit nach Neutral-Null-Methode wenden und die ermittelten Werte anzweifeln.

Vorschlag zu praktischer Vorgehensweise

Die aktive Funktionsprüfung wird dokumentiert und eine aktiv-assistierte Funktionsprüfung wird ergänzend vorgenommen. Deren Werte werden in die Beurteilung mit einbezogen (Abb. 3). Ein Problem bei Durchführung und Auswertung sowie Interpretation der gewonnenen Befunde ist die Objektivität. Zur Bestimmung der Bewegungsumfänge am Körper wird ein Goniometer (Winkelmesser) eingesetzt. Die maximale Genauigkeit ist eine Messgenauigkeit von 5 Grad. Vorteil der Methode ist die schnelle Orientierung über die Beweglichkeit und die didaktische Eindeutigkeit [6]. Das Beispiel Schultergelenk zeigt, dass die funktionelle Anatomie besonders zu beachten ist. Aus funktionaler Sicht interessiert die als Kombinationsbewegung zu sehende Gesamtbeweglichkeit. Es handelt sich beim Schultergelenk um das beweglichste Gelenk des menschlichen Körpers, es hat 3 Freiheitsgrade. Hier ist zur exakten Analyse auch die Erfahrung der Untersucherin/des Untersuchers mit in die Bewertung einzubeziehen.

Untersuchung im
Gutachtensetting

Für die Beweglichkeitsmessung bei Gutachtenerstellung wird von Hoffmann-Richter, Jeger und Schmidt [7] darauf hingewiesen, dass bei der Prüfung von Gelenkbeweglichkeit von der Untersucherin/dem Untersucher „mitgedacht“ werden muss. Im klinischen Alltag kann die Gutachterin/der Gutachter in Zusammenschau mit Aktenanalyse, Anamnese und Exploration der definierten Diagnose dann sehr nahekommen. Grundsätzlich ist die aktive selbstständige Bewegung vorzuführen und zu dokumentieren [8]. Im Falle einer Bewegungseinschränkung soll zusätzlich die durch die Gutachterin/den Gutachter geführte Bewegung unter Abnahme der Eigenschwere überprüft werden, auch um Bewegungshindernisse oder muskuläre Verspannungen zu identifizieren. Schlussendlich ist eine passive Prüfung der Gelenke mit eingeschränkter Funktion durchzuführen.

Ludolph [9] empfiehlt im gleichen Zusammenhang, zunächst die aktive Beweglichkeit orientierend zu überprüfen. Ziel der klinischen Untersuchung ist jedoch die Feststellung der geführten Beweglichkeit. Dies ist eine Funktionsprüfung, die ohne Kraftaufwand von der Untersucherin/dem Untersucher begleitet, wiederholt und überprüft wird. Am Beispiel der Schulterfunktionsprüfung wird angeführt, man könne bei der begleiteten Bewegungsprüfung erspüren, ob die Probantin/der Proband die Muskulatur anspannt und damit gegenspannt oder nicht. Ebenso könne man dabei feststellen, ob die Beweglichkeit willentlich abgebrochen wird. Nicht anzugeben seien die passiven Bewegungsausschläge im Messblatt. Passiv ist hier definiert als eine fremdtätige Bewegung in einem Gelenk, eine Funktionsprüfung, wie sie beispielsweise bei schlaffen Lähmungen gelegentlich durchzuführen ist. Die Funktionsprüfung wird von Ludolph in der Rangordnung der Befunde den semiobjektiven Befunden zugeordnet, da sie stets von der Mitarbeit der/des Untersuchten abhängt.

Fazit: Für alle Rechtsgebiete sind die unfallbedingt verbliebenen Funktionseinbußen entscheidend. Diese sind im Seitenvergleich nach Neutral-Null-Methode unter Berücksichtigung der objektiven Beurteilungskriterien (Muskulatur, Beschwielung, Kalksalzgehalt) zu erheben. Dokumentiert werden die geführt überprüften Bewegungen, nicht die aktiv vorgeführten oder die passiven Bewegungen.

Grosser [10] führt im gleichen Zusammenhang aus, dass zunächst die Bewegungseinschränkung von Gelenken in Übereinstimmung mit Ludolph als semiobjektiver (= semisubjektiver) Befund aufgeführt wird, da die Erhebung abhängig von der Mitarbeit der/des Untersuchten ist. Auch hier wird Bezug genommen auf die Neutral-Null-Methode und deren seitenvergleichende Dokumentation in den Messblättern für obere Gliedmaßen, untere Gliedmaßen, Finger und Wirbelsäule. Zur praktischen Vorgehensweise ist aufgeführt, dass beim Ablesen des Winkelmessers das Zentrum des Winkelmessers möglichst genau mit dem Bewegungszentrum des Gelenkes in Deckung zu bringen sei und der Winkelmesser so genau wie möglich abgelesen werden müsse. Wegen der Messfehlerbreite sei auf den nächsten 5er-Wert auf- bzw. abzurunden.

Zur Frage aktive oder
passive Bewegungsprüfung

Funktionell ist nach Grosser die aktive Beweglichkeit wichtiger als die passive Beweglichkeit. Wenn – wie dies in der Gutachtensituation aus vielerlei Gründen gelegentlich beobachtet wird – erhebliche Diskrepanzen zwischen aktiver und passiver Beweglichkeit vorliegen, ist zu überprüfen, ob die Abweichungen medizinisch plausibel erklärbar sind, beispielsweise durch Nerven-, Muskel- oder Sehnenschäden. Hieraus resultiert dann die Entscheidung, ob die schlechteren aktiven Bewegungsausmaße zugrunde zu legen sind oder nicht. Passive Bewegungsausmaße sind dann objektive Befunde, wenn die Untersucherin/der Untersucher am Ende des Bewegungsausmaßes bei ausreichender muskulärer Entspannung durch die Untersuchten einen harten oder elastischen Widerstand spüren kann oder wenn eine weitere Bewegung aufgrund des Weichteilmantels nicht mehr möglich ist (Beispiel: Übergewichtige Probandinnen/Probanden bei Kniebeugung) und wenn beim Erreichen des zugelassenen Bewegungsausmaßes Schmerzen angegeben werden, sodass die Bewegungseinschränkung schmerzbedingt ist. Durch die Gutachterin/den Gutachter ist auch zu bewerten, ob die gezeigte Bewegungseinschränkung auf eine mangelnde Kooperation zurückzuführen ist.

Bei Fragestellungen wie Integritätsentschädigung in der Schweiz oder Minderung der Erwerbsfähigkeit in Deutschland sind die Funktionsbefunde von ganz entscheidender Bedeutung. So ist beispielsweise der Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes vorwärts/seitwärts bis 90 Grad bei freier Rotation als Erfahrungswert eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. in der GUV zuzuordnen. Wenn die Probandin/der Proband in der Lage ist, den Arm im Schultergelenk bis 120 Grad vorwärts und seitwärts zu führen, beträgt die MdE im Allgemeinen 10 v.H. Das bedeutet aber auch: Die Probandin/der Proband hat im letztgenannten Beispiel keinen Rentenanspruch nach den Maßgaben der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand [11]. Dies ist allgemein bekannt. Für die Rechtanwenderin/den Rechtanwender ist es deshalb von ganz entscheidender Bedeutung, dass eine objektive Messung des tatsächlich möglichen Bewegungsausmaßes durch die Gutachterin/den Gutachter erfolgt. In der Gesamtschau ist zu beurteilen, welche Funktionseinschränkungen medizinisch nachvollziehbar sind. Hier ist auch die ärztliche Erfahrung, ausgehend von Verletzungen, Vorerkrankungen, aktenkundigem Verlauf etc. integrierend mit einzubeziehen.

Welche Werte sind in das Messblatt einzutragen?

Es gibt eine Anleitung der Berufsgenossenschaften, wie einzutragen ist. Es wird grundsätzlich der Bewegungsumfang gemessen, wie er durch aktive, von der Untersucherin/vom Untersucher geführte Bewegungen möglich ist. Vergleicht man die Ausführungen der o.g. Autoren, so zeigt sich, dass die von Ludolph angeführte Bewegungsprüfung jene ist, welche in umfassender Weise dem Auftrag des Auftraggebers gerecht wird. Relevant wird dies insbesondere, wenn erhebliche Unterschiede zwischen dem gemessenen aktiven Bewegungsausschlag und den passiven Bewegungsausmaßen bestehen. Grosser bezieht sich auf eine Empfehlung der DGUV [12], in der aufgeführt ist, dass das Ergebnis der Messung (der Beweglichkeit) getrennt nach aktiver und passiver Beweglichkeit in Winkelgraden anzugeben ist. Wich et al. [13] führen zum gleichen Thema aus, dass das exakte Ausfüllen des Messbogens unverzichtbar ist. Dies setzt voraus, dass sich die Gutachterin/der Gutachter mit der Messung nach der Neutral-Null-Methode auskennt. Die Qualität der Messungen hängt also von der Genauigkeit der/des Untersuchenden ab. Hingewiesen wird auf das Standardwerk von Schönberger/Mehrtens/Valentin [11], in dem die Vorteile der NNO-Methode dargelegt werden. Diese werden zusammengefasst:

Internationale Vereinheitlichung der Untersuchungsergebnisse

Da die Normalstellung alle Gelenke in der 0-Gradstellung ist, weiß die Gutachterin/der Gutachter ohne besondere Hilfsmittel, wie der Winkelmesser anzulegen ist.

Einfache Dokumentation mit 3 Ziffern

In der täglichen Gutachtenpraxis muss man sich darüber im Klaren sein, dass mit der Dokumentation einer einzigen Zahl bereits u.U. eine Wertung enthalten ist, nämlich die, ob die gezeigte eigentätige (aktive) Beweglichkeit auch dem tatsächlich möglichen Bewegungsumfang entspricht. Dies ist insbesondere bei Gelenken mit mehreren Freiheitsgraden von Bedeutung.

Fazit

Die verbliebenen Funktionseinbußen sind im Seitenvergleich unter Berücksichtigung der objektiven Beurteilungskriterien zu überprüfen. Entscheidend sind die aktiv-assistiert geprüften Bewegungen, nicht die aktiv vorgeführten Bewegungen. Letztere sind jedoch zu dokumentieren und in Bezug zum Ergebnis der Prüfung der Gelenkbeweglichkeit zu setzen. Die Empfehlung entspricht den Angaben in der Leitlinie Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung [14], in der ausgeführt wird, dass anhand nachvollziehbarer Kriterien Befunde belegt oder relativiert werden sollen. Die Leitlinie berücksichtigt die Schwierigkeiten, die bereits bei der Befunderhebung entstehen können. Bei schwer objektivierbaren Befunden ist nach Swiss Society of Orthopaedics and Traumatology-Leitlinie zu beachten, dass eine wertfreie Schilderung des Verhaltens vorgenommen wird [15]. Extraartikuläre Symptome, welche mit Beschwerden des Bewegungsapparates verbunden sein können, sind zu beachten. Sie sind jedoch nicht zu werten.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Werner Kneer

MBK – Medizinische Begutachtung

Dr. Kneer

Tuttlinger Straße 1

78333 Stockach

wernerkneer@googlemail.com

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