Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Befunddokumentation mit der Neutral-Null-Methode bei Begutachtung
Hinweise für den Nichtgeübten

Ludolph [9] empfiehlt im gleichen Zusammenhang, zunächst die aktive Beweglichkeit orientierend zu überprüfen. Ziel der klinischen Untersuchung ist jedoch die Feststellung der geführten Beweglichkeit. Dies ist eine Funktionsprüfung, die ohne Kraftaufwand von der Untersucherin/dem Untersucher begleitet, wiederholt und überprüft wird. Am Beispiel der Schulterfunktionsprüfung wird angeführt, man könne bei der begleiteten Bewegungsprüfung erspüren, ob die Probantin/der Proband die Muskulatur anspannt und damit gegenspannt oder nicht. Ebenso könne man dabei feststellen, ob die Beweglichkeit willentlich abgebrochen wird. Nicht anzugeben seien die passiven Bewegungsausschläge im Messblatt. Passiv ist hier definiert als eine fremdtätige Bewegung in einem Gelenk, eine Funktionsprüfung, wie sie beispielsweise bei schlaffen Lähmungen gelegentlich durchzuführen ist. Die Funktionsprüfung wird von Ludolph in der Rangordnung der Befunde den semiobjektiven Befunden zugeordnet, da sie stets von der Mitarbeit der/des Untersuchten abhängt.

Fazit: Für alle Rechtsgebiete sind die unfallbedingt verbliebenen Funktionseinbußen entscheidend. Diese sind im Seitenvergleich nach Neutral-Null-Methode unter Berücksichtigung der objektiven Beurteilungskriterien (Muskulatur, Beschwielung, Kalksalzgehalt) zu erheben. Dokumentiert werden die geführt überprüften Bewegungen, nicht die aktiv vorgeführten oder die passiven Bewegungen.

Grosser [10] führt im gleichen Zusammenhang aus, dass zunächst die Bewegungseinschränkung von Gelenken in Übereinstimmung mit Ludolph als semiobjektiver (= semisubjektiver) Befund aufgeführt wird, da die Erhebung abhängig von der Mitarbeit der/des Untersuchten ist. Auch hier wird Bezug genommen auf die Neutral-Null-Methode und deren seitenvergleichende Dokumentation in den Messblättern für obere Gliedmaßen, untere Gliedmaßen, Finger und Wirbelsäule. Zur praktischen Vorgehensweise ist aufgeführt, dass beim Ablesen des Winkelmessers das Zentrum des Winkelmessers möglichst genau mit dem Bewegungszentrum des Gelenkes in Deckung zu bringen sei und der Winkelmesser so genau wie möglich abgelesen werden müsse. Wegen der Messfehlerbreite sei auf den nächsten 5er-Wert auf- bzw. abzurunden.

Zur Frage aktive oder
passive Bewegungsprüfung

Funktionell ist nach Grosser die aktive Beweglichkeit wichtiger als die passive Beweglichkeit. Wenn – wie dies in der Gutachtensituation aus vielerlei Gründen gelegentlich beobachtet wird – erhebliche Diskrepanzen zwischen aktiver und passiver Beweglichkeit vorliegen, ist zu überprüfen, ob die Abweichungen medizinisch plausibel erklärbar sind, beispielsweise durch Nerven-, Muskel- oder Sehnenschäden. Hieraus resultiert dann die Entscheidung, ob die schlechteren aktiven Bewegungsausmaße zugrunde zu legen sind oder nicht. Passive Bewegungsausmaße sind dann objektive Befunde, wenn die Untersucherin/der Untersucher am Ende des Bewegungsausmaßes bei ausreichender muskulärer Entspannung durch die Untersuchten einen harten oder elastischen Widerstand spüren kann oder wenn eine weitere Bewegung aufgrund des Weichteilmantels nicht mehr möglich ist (Beispiel: Übergewichtige Probandinnen/Probanden bei Kniebeugung) und wenn beim Erreichen des zugelassenen Bewegungsausmaßes Schmerzen angegeben werden, sodass die Bewegungseinschränkung schmerzbedingt ist. Durch die Gutachterin/den Gutachter ist auch zu bewerten, ob die gezeigte Bewegungseinschränkung auf eine mangelnde Kooperation zurückzuführen ist.

Bei Fragestellungen wie Integritätsentschädigung in der Schweiz oder Minderung der Erwerbsfähigkeit in Deutschland sind die Funktionsbefunde von ganz entscheidender Bedeutung. So ist beispielsweise der Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes vorwärts/seitwärts bis 90 Grad bei freier Rotation als Erfahrungswert eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. in der GUV zuzuordnen. Wenn die Probandin/der Proband in der Lage ist, den Arm im Schultergelenk bis 120 Grad vorwärts und seitwärts zu führen, beträgt die MdE im Allgemeinen 10 v.H. Das bedeutet aber auch: Die Probandin/der Proband hat im letztgenannten Beispiel keinen Rentenanspruch nach den Maßgaben der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand [11]. Dies ist allgemein bekannt. Für die Rechtanwenderin/den Rechtanwender ist es deshalb von ganz entscheidender Bedeutung, dass eine objektive Messung des tatsächlich möglichen Bewegungsausmaßes durch die Gutachterin/den Gutachter erfolgt. In der Gesamtschau ist zu beurteilen, welche Funktionseinschränkungen medizinisch nachvollziehbar sind. Hier ist auch die ärztliche Erfahrung, ausgehend von Verletzungen, Vorerkrankungen, aktenkundigem Verlauf etc. integrierend mit einzubeziehen.

Welche Werte sind in das Messblatt einzutragen?

Es gibt eine Anleitung der Berufsgenossenschaften, wie einzutragen ist. Es wird grundsätzlich der Bewegungsumfang gemessen, wie er durch aktive, von der Untersucherin/vom Untersucher geführte Bewegungen möglich ist. Vergleicht man die Ausführungen der o.g. Autoren, so zeigt sich, dass die von Ludolph angeführte Bewegungsprüfung jene ist, welche in umfassender Weise dem Auftrag des Auftraggebers gerecht wird. Relevant wird dies insbesondere, wenn erhebliche Unterschiede zwischen dem gemessenen aktiven Bewegungsausschlag und den passiven Bewegungsausmaßen bestehen. Grosser bezieht sich auf eine Empfehlung der DGUV [12], in der aufgeführt ist, dass das Ergebnis der Messung (der Beweglichkeit) getrennt nach aktiver und passiver Beweglichkeit in Winkelgraden anzugeben ist. Wich et al. [13] führen zum gleichen Thema aus, dass das exakte Ausfüllen des Messbogens unverzichtbar ist. Dies setzt voraus, dass sich die Gutachterin/der Gutachter mit der Messung nach der Neutral-Null-Methode auskennt. Die Qualität der Messungen hängt also von der Genauigkeit der/des Untersuchenden ab. Hingewiesen wird auf das Standardwerk von Schönberger/Mehrtens/Valentin [11], in dem die Vorteile der NNO-Methode dargelegt werden. Diese werden zusammengefasst:

Internationale Vereinheitlichung der Untersuchungsergebnisse

Da die Normalstellung alle Gelenke in der 0-Gradstellung ist, weiß die Gutachterin/der Gutachter ohne besondere Hilfsmittel, wie der Winkelmesser anzulegen ist.

Einfache Dokumentation mit 3 Ziffern

In der täglichen Gutachtenpraxis muss man sich darüber im Klaren sein, dass mit der Dokumentation einer einzigen Zahl bereits u.U. eine Wertung enthalten ist, nämlich die, ob die gezeigte eigentätige (aktive) Beweglichkeit auch dem tatsächlich möglichen Bewegungsumfang entspricht. Dies ist insbesondere bei Gelenken mit mehreren Freiheitsgraden von Bedeutung.

Fazit

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