Übersichtsarbeiten - OUP 10/2016

Berufskrankheit Gonarthrose (BK 2112)

Volker Grosser1

Zusammenfassung: Am 11. Juni 2009 wurde in Deutschland die Berufskrankheit „Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von mindestens einer Stunde pro Schicht“ in die Berufskrankheitenliste aufgenommen. Mit vergleichbarer Kniebelastung gemeint sind Kriechen, Hocken und Fersensitz. Kriterien für die Zusammenhangsbegutachtung werden dargestellt.

Schlüsselwörter: Berufskrankheit, Gonarthrose, BK 2112,
Begutachtung

Zitierweise
Grosser V: Berufskrankheit Gonarthrose (BK 2112).
OUP 2016; 10: 560–566 DOI 10.3238/oup.2016.0560–0566

Summary: On June 11, 2009 gonarthroses caused by activities with high knee bending requirements (kneeling, crawling, squatting) were officially recognized as occupational disease in Germany. Condition precedent is a cumulative impact time of at least 13,000 hours during working life and a minimum impact time per shift of one hour. Criteria for the appraisal of causality are presented.

Keywords: occupational disease, gonarthrosis, BK 2112,
expert opinion

Citation
Grosser V: Occupational Disease Gonarthrosis (BK 2112).
OUP 2016; 10: 560–566 DOI 10.3238/oup.2016.0560–0566

Einleitung

Bereits am 01.10.2005 hatte das Bundesministerium für Gesundheit und Soziales (BMGS) bekannt gemacht, dass der Ärztliche Sachverständigenbeirat beim BMGS, Sektion „Berufskrankheiten“ empfohlen hat, in die Anlage zur Berufskrankheitenverordnung eine neue Berufskrankheit „Gonarthrose“ aufzunehmen. Die offizielle Aufnahme der BK 2112 in die Berufskrankheitenliste erfolgte am 11. Juni 2009. Die Legaldefinition lautet: „Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbarer Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht“.

Epidemiologische Studien, ausgerichtet auf berufsbezogene Belastungen, weisen auf ein erhöhtes Risiko bei Bergarbeitern, Werftarbeitern, Landwirten und Bodenlegern hin, während widersprüchliche Ergebnisse beim Bauarbeiter, Waldarbeiter und anderen beruflichen Tätigkeiten festzustellen sind. Übersichten über die epidemiologische Literatur finden sich bei [2, 12, 26, 29].

Aufgrund von methodischen Limitationen ist die Aussagekraft der verfügbaren epidemiologischen Evidenz jedoch zurückhaltend zu bewerten [10, 29].

Die Ermessensentscheidung des Verordnungsgebers, die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse als ausreichend für die Einführung der BK 2112 anzusehen, wurde daher kontrovers diskutiert. Es geht allerdings über den Rahmen dieses Beitrags hinaus, sich mit dieser Kontroverse zu befassen.

Gegenstand dieses Beitrags ist es, auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstands Empfehlungen und Kriterien für die Einzelfallbegutachtung bei der BK 2112 darzustellen. Es kann diesbezüglich auf eine Begutachtungsempfehlung zurückgegriffen werden, welche von einem interdisziplinären Arbeitskreis – nachfolgend Konsensusgruppe genannt – unter Beachtung der Gemeinsamen Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften für die Erarbeitung von Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen von Herbst 2007 bis März 2012 erarbeitet wurde [7].

Abgrenzung zur
Berufskrankheit Meniskusschäden (BK 2102)

Berufsbedingte Meniskusschäden wurden bereits am 26.07.1952 in die Berufskrankheitenliste aufgenommen, damals als BK 26, welche nur für Bergleute galt. Am 01.04.1988 entstand die BK 2102 in ihrer heutigen Form als sog. offene Berufskrankheit, d.h. offen für Angehörige aller Berufsgruppen, mit folgender Legaldefinition: „Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten.“

Die beruflichen Belastungen im Sinne der BK 2102 und 2112 ähneln sich, sind aber nicht identisch (Tab. 1):

Gegenstand der BK 2102 sind primäre Meniskusschäden, wobei es sich um klinisch relevante größere Meniskusrisse oder Zerreibungen des Meniskus handeln muss. Meniskusschäden, die als Teilbefund einer Gonarthrose auftreten, sind kein Krankheitsbild im Sinne der BK 2102: Hier wären Meniskusverschleiß und Gelenkknorpelverschleiß in etwa gleich stark. Liegt zum Zeitpunkt der Erstmanifestation des Meniskusschadens im entsprechenden (i.d.R. medialen) Kniegelenkkompartiment konventionell-radiologisch bereits eine Gonarthrose vom Grad Kellgren 2 vor oder finden sich dort arthroskopisch bzw. MR-tomografisch bereits drittgradige Knorpelschäden, so spricht dies für einen sekundären Meniskusschaden. In derartigen Fällen ist zu prüfen, ob es sich nicht bei der Gonarthrose selbst um ein Krankheitsbild im Sinne der BK 2112 handelt.

Bei Beschäftigten mit Meniskektomie oder größerer Meniskusteilresektion und anerkannter BK 2102 ist zu prüfen, ob eine später im entsprechenden Kniegelenkkompartiment aufgetretene Gonarthrose als mittelbare Folge der BK 2102 anerkannt werden kann.

Begutachtung bei der BK 2112

Krankheitsbild

Die Diagnose einer Gonarthrose im Sinne der neuen Berufskrankheit hat nach der Wissenschaftlichen Begründung [2] folgende Voraussetzungen:

Chronische Kniegelenkbeschwerden

Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk

Die röntgenologische Diagnose einer Gonarthrose entsprechend Grad 2–4 der Klassifikation von Kellgren et al. [17].

Die in der Wissenschaftlichen Begründung bezüglich der Art der Funktionsstörungen zunächst vorgenommene Einschränkung lediglich auf eine eingeschränkte Beugung oder Streckung im Kniegelenk ist nach übereinstimmender Auffassung der Konsensusgruppe jedoch nicht sachgerecht. Der Ärztliche Sachverständigenbeirat trug dem am 24.10.2011 mit einer ergänzenden Stellungnahme Rechnung: Danach muss mindestens eine der nachfolgenden 6 Funktionsstörungen vorliegen:

Bewegungseinschränkung in Form einer eingeschränkten Streckung und/oder Beugung

Kniegelenkerguss

Kapselentzündung mit Verdickung oder Verplumpung der Gelenkkontur

Krepitation bei der Gelenkbewegung

hinkendes Gangbild oder

Verminderung der Oberschenkelmuskulatur.

Strukturelle Voraussetzungen

Die Klassifikation nach Kellgren [17] teilt die Gonarthrose nach dem Ausmaß der degenerativen Veränderungen im Röntgenbild in die folgenden 4 Stadien ein:

Grad 1: Fragliche Verschmälerung des Kniegelenkspalts und mögliche Osteophytenbildung

Grad 2: Definitive Osteophyten und mögliche Verschmälerung des Kniegelenkspalts

Grad 3: Multiple Osteophyten und definitive Verschmälerung des Kniegelenkspalts, Sklerose und mögliche Verformung der Tibia und des Femur

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