Übersichtsarbeiten - OUP 10/2016

Berufskrankheit Gonarthrose (BK 2112)

Als Ursache der BK 2112 war in der „Wissenschaftlichen Begründung“ für die Berufskrankheit „Gonarthrose“ [2] „eine erhöhte Druckkraft während der beruflichen Tätigkeit im Knien oder einer vergleichbaren Kniebelastung auf den Gelenkknorpel im Retropatellar- und Tibiofemoralgelenk angenommen“. Dabei wurde zum seinerzeitigen Erkenntnisstand explizit eingeräumt: „Biomechanische Untersuchungen über die Höhe der Druckkraft auf die Gelenkflächen im Retropatellargelenk und Tibiofemoralgelenk bei Arbeiten im Knien, im Hocken, im Fersensitz oder im Kriechen liegen nicht vor.“ Die seinerzeit bereits gesicherte Erkenntnis, dass Kniebeugen mit erhöhten Druckbelastungen im Kniegelenk einhergehen, betrifft nicht die in der BK 2112 kodifizierten statischen Belastungen.

Im Gehen und Stehen erfolgt die Druckübertragung hauptsächlich über die zentral gelegene sog. Hauptbelastungszone des Kniehauptgelenks (weight bearing surface). Bei gebeugtem Knie verschieben sich die Knorpelkontaktflächen von der sog. Hauptbelastungszone auf das Patellofemoralgelenk und den hinteren Anteil des Kniehauptgelenks [9, 11, 18, 29]. Auf dem vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG), jetzt Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) veranstalteten Fachgespräch „Gonarthrose“ im März 2007 war damals hiervon ausgehend im Konsens festgestellt worden [6]: „Als Arbeitshypothese wird von einem Beginn des Knorpelaufbrauchs patellofemoral und in den dorsalen Kniegelenkanteilen ausgegangen. Selektiver Aufbrauch der Meniskushinterhörner ist ein mögliches Initialstadium der Gonarthrose.“ Gleichzeitig wurde betont: „Untersuchungen zum Knorpelverhalten in Abhängigkeit vom Druck in verschiedenen Kniestellungen und vom Alter sind erforderlich.“ Und: „Wissenschaftliche Untersuchungen zu den (Druck-) Kräften bei unterschiedlichen Tätigkeiten sind dringend erforderlich.“

Entsprechende weiterführende biomechanische Untersuchungen wurden zwischenzeitlich von Glitsch et al. [8] vorgenommen (Tab. 3). Zusammenfassend haben diese Untersuchungen ergeben, dass bei Belastungen im Sinne der BK 2112 (Knien, Hocken und Fersensitz) die Gelenkkräfte im Kniehauptgelenk nicht und im Patellofemoralgelenk nur mäßig höher sind als beim Gehen und Stehen. Besonders bemerkenswert ist, dass es auch in der Hocke und im Fersensitz nicht zu der für diese Haltungen zunächst angenommenen erhöhten Druckbelastung im hinteren Anteil des Kniehauptgelenks kommt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in diesen Haltungen die Kräfte weitgehend über die hinteren Weichteile des Oberschenkels und der Wade aufgenommen werden. Aus diesem Grunde ist in diesen Haltungen auch keine aktive Anspannung des M. quadriceps erforderlich.

Parallel wurden von Horng et al. von der LMU München kernspintomografische Untersuchungen zu den druckbedingten temporären Knorpelverformungen im Kniegelenk nach Knien, Hocken und Fersensitz vorgenommen [13, 14]. Die kernspintomografisch nachweisbaren vorübergehenden Verformungen des Knorpels reflektieren semiquantitativ die Höhe der Druckbelastung, welche eingewirkt hat. Zusammenfassend lagen die globalen volumetrischen Messungen in der Größenordnung wie nach alltäglichen und leichten sportlichen Tätigkeiten und korrespondieren somit mit den Untersuchungen von Glitsch. Im Kniehauptgelenk (einschließlich des hinteren Anteils) waren die Verformungen insgesamt gering, während sie im Patellofemoralgelenk etwas ausgeprägter waren. Die Verformungen im Retropatellargelenk waren peripher medial und kaudolateral lokalisiert.

Diese neuen Erkenntnisse zur Biomechanik stellen die in der Wissenschaftlichen Begründung vermutete Pathophysiologie in Frage, dass bei der BK 2112 eine erhöhte Druckkraft auf den Gelenkknorpel im Retropatellar- und Tibiofemoralgelenk zur Arthrose führe.

Falls man die in der Wissenschaftlichen Begründung vermutete Pathophysiologie ungeachtet der entstandenen Zweifel weiterhin zugrunde legt, so ergäbe sich aus den zwischenzeitlichen biomechanischen Untersuchungen als Konsequenz, dass bei einem belastungskonformen Schadensbild im Sinne der BK 2112 zu erwarten wäre , dass der Knorpelaufbrauch im Patellofemoralgelenk beginnt und sich erst von dort ggf. in das Kniehauptgelenk ausdehnt.

Die meisten epidemiologischen Untersuchungen zu berufsbedingten Gonarthrosen haben sich mit der Frage des Verteilungsmusters der Knorpelschäden im Kniegelenk nicht befasst. Diejenigen Studien, welche darauf eingehen, erbringen widersprüchliche Ergebnisse (Tab. 4).

Aufgrund der widersprüchlichen epidemiologischen Evidenz zum Verteilungsmuster der Knorpelschäden im Kniegelenk einerseits und der letztlich ungeklärten Pathophysiologie andererseits ist die Konsensusgruppe zur Begutachtung zur BK 2112 zu dem Ergebnis gekommen, dass nach dem derzeitigen Kenntnisstand ein belastungskonformes Schadensbild bezüglich des Verteilungsmusters der Knorpelschäden im Kniegelenk für die BK 2112 medizinisch-wissenschaftlich nicht benannt werden kann. Das Verteilungsmuster der Knorpelschäden im Kniegelenk ist daher derzeit weder als Positiv- noch als Negativkriterium anwendbar.

Bei kniebelastenden Berufen im Sinne der BK 2112 sind i.d.R. beide Knie in vergleichbarem Ausmaß belastet. Entsprechend ist bei einem belastungskonformen Schadensbild unabhängig von den Unklarheiten zur Pathophysiologie zu erwarten, dass beide Kniegelenke betroffen sind.

Nach übereinstimmender Auffassung der Konsensusgruppe spricht eine einseitige Gonarthrose bzw. ein Seitenunterschied in der Ausprägung der Gonarthrose von mehr als einem Grad nach Kellgren gegen eine berufliche Verursachung, es sei denn, es kann plausibel dargelegt werden, dass v.a. das betroffene Knie beruflich belastet war.

Konkurrierende Ursachen

Der Großteil der Gonarthrosen in der beruflich nicht belasteten Bevölkerung sind sog. idiopathische Gonarthrosen, das heißt, die zugrundeliegende Ursache lässt sich mit unseren heutigen Erkenntnismöglichkeiten nicht feststellen. Zu beachten ist, dass sich nicht nur die unbekannten, sondern – bezogen auf den Einzelfall – auch viele der bekannten Risikofaktoren dem Nachweis entziehen können. Dies gilt bei den systemischen Faktoren z.B. für die genetische Prädisposition, bei den mechanischen Faktoren zum Beispiel für geringe Gelenkinkongruenzen oder neuromuskuläre Imbalancen. Für die Begutachtung bedeutet dies, dass der fehlende Nachweis erkennbarer konkurrierender Ursachen als solcher keinen Rückschluss auf eine berufsbedingte Verursachung erlaubt.

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