Übersichtsarbeiten - OUP 10/2016

Berufskrankheit Gonarthrose (BK 2112)

Bei den erkennbaren konkurrierenden Ursachenfaktoren dürfte die zahlenmäßig größte Bedeutung den Kniegelenkstraumen mit Knorpelschäden, verbliebenen Inkongruenzen und/oder verbliebenen Instabilitäten zukommen, sowie posttraumatischen Achsfehlstellungen (Disalignment) nach Frakturen der Tibia und des Femurs. Erwähnenswert ist, dass nach der verfügbaren Studienlage nicht belegt ist, dass kongenitale Achsabweichungen (kongenitale O- oder X-Beine) Gonarthrosen verursachen.

Bei der Abwägung ist zu berücksichtigen, wie stark die Prägonarthrose im Einzelfall ausgeprägt ist. Bei erworbenen Veränderungen, z.B. Verletzungen, ist auch zu beachten, wann diese eingetreten sind. Häufig gibt bereits das Schadensbild Hinweise darauf, ob sich ein konkurrierender Ursachenfaktor im Einzelfall ausgewirkt hat. So wirken sich z.B. Kniegelenkverletzungen einseitig am betroffenen Knie aus, während bei einer berufsbedingten Gonarthrose in der Regel ein beidseitiger Befall zu erwarten ist.

Das Übergewicht stellt einen starken außerberuflichen Risikofaktor für die Entwicklung einer Gonarthrose dar. Da es aber epidemiologische Hinweise auf ein multiplikatives Zusammenwirken mit beruflichen Belastungen gibt [4], wird der Nachweis des Übergewichts die beruflichen Belastungen – bei ansonsten erfüllten Voraussetzungen – in der Regel nicht aus der Rolle einer wesentlichen Teilursache verdrängen.

Eine Polyarthrose sowie generalisierte Arthrose der großen Gelenke bei Ausschluss einer Sekundärarthrose dieser Gelenke sprechen gegen eine wesentliche Teilursächlichkeit der Exposition für die Gonarthrose, wenn eine Betonung der Arthrose an den Kniegelenken fehlt.

Kniegelenkschäden durch entzündliche Arthritiden, z.B. bei chronischer Polyarthritis, sind kein Krankheitsbild im Sinne der BK 2112 und müssen differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden.

Ein ausführlicher Überblick zu den konkurrierenden Ursachenfaktoren findet sich bei Schiltenwolf et al. [25] sowie bei Zagrodnik et al. [30].

Zusammenhangsbeurteilung in der Gesamtschau

Da derzeit medizinisch-wissenschaftlich ein belastungskonformes Schadensbild bezüglich des Verteilungsmusters der Knorpelschäden im Kniegelenk nicht benannt werden kann, fehlen medizinische Kriterien mit einer positiven Indizwirkung für eine berufsbedingte Verursachung, anhand derer eine Abgrenzung von idiopathischen Gonarthrosen (eigenständigen Gonarthrosen innerer Ursache) vorgenommen werden könnte. Der medizinische Gutachter kann daher derzeit nur feststellen, ob medizinische Negativkriterien vorliegen, welche eine berufsbedingte Verursachung unwahrscheinlich machen (nicht passender zeitlicher Verlauf, einseitige Gonarthrose, wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren). Eine positive Aussage, dass es sich um eine berufsbedingte Arthrose handelt, kann derzeit bezogen auf den Einzelfall im Rahmen der medizinischen Zusammenhangsbegutachtung nicht mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit getroffen werden. Diese grundsätzliche Problematik kann nur juristisch (Stichwort: Kausalitätsvermutung bei Berufskrankheiten mit vom Verordnungsgeber präzise vorgegebener Mindesteinwirkung) gelöst werden.

Einschätzung der MdE

Die Einschätzung der MdE bei berufsbedingten Gonarthrosen richtet sich nach dem Ausmaß der Funktionseinschränkungen. Hier kann auf die Erfahrungswerte aus der Unfallbegutachtung zurückgegriffen werden. Bei beidseitigen berufsbedingten Gonarthrosen ist eine einheitliche MdE in der Gesamtschau subsumierend einzuschätzen.

Bei erfolgter Implantation einer Kniegelenkprothese sind nach herrschender medizinischer Auffassung zur Sicherung des Heilerfolgs raue oder übermäßige dynamische Bewegungsbeanspruchungen und schwere Hebe- und Tragebelastungen zu vermeiden. Entsprechende berufliche Tätigkeiten sind dem Versicherten somit gegenwärtig verschlossen, auch dann, wenn diese rein funktionell noch möglich wären. Daraus ergibt sich, einen vorher voll leistungsfähigen Versicherten vorausgesetzt, beim Vorliegen einer Kniegelenkprothese eine Mindest-MdE von 20 % – auch bei guter Funktion. Bei Endoprothesen an beiden Kniegelenken ist zu beachten, dass sich gegenüber der einseitigen Knieprothese durch die zusätzliche Prothese auch am anderen Knie bei guter Funktion keine wesentlichen zusätzlichen Einschränkungen in Bezug auf die Erwerbsmöglichkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt ergeben.

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Dr. Volker Grosser

Gutachtenzentrum

BG Klinikum Hamburg Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu
Lübeck und der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg

Bergedorfer Straße 10

21033 Hamburg

V.Grosser@bgk-hamburg.de

Literatur

1. Amin S, Goggins J, Niu J et al.: Occupation-related squatting, kneeling, and heavy lifting and the knee joint: a magnetic resonance imgaing-based stuy in men. J Rheumatol 2008; 35: 1645–49

2. BGMS: Wissenschaftliche Begründung für die Berufskrankheit “Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbarer Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht. Bundesarbeitsblatt 2005; 10: 46–54

3. Brittberg M, Winalski CS: Evaluation of cartilage injuries and repair. J Bone Joint Surg Am 2003; 85A: Suppl 2: 58–69

4. Coggon D, Croft P, Kellingray S, Barett D, McLaren M, Cooper C: Physical activities and osteoarthritis of the knee. Arthritis Rheum. 2000; 43: 1443–49

5. Cooper C, McAlindon T, Coggon D et al.: Occupational activity and osteoarthritis of the knee. Ann Rheum Dis 1994; 53: 90–93

6. DGUV: Tagungsband Interdisziplinäres Fachgespräch Gonarthrose in Frankfurt am 29./30.3.2007. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Berlin, 2009; 1–244

7. DGUV: Begutachtungsempfehlung für die BK 2112 (Gonarthrose) Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Berlin, 2014; www.dguv.de/medien/inhalt/versicherung/bk/empfehlungen/Be gutachtung-BK2112-Stand-20140613.pdf

8. Glitsch U, Lundershausen N, Knieps D, Johannknecht A, Ellegast R: Die Kniebelastungen beim Hocken und Knien. In: Schiltenwolf M, Grosser V, Thomann KD (Hrsg.) Berufskrankheit Gonarthrose (BK 2112). Frankfurt: Referenz Verlag 2012: 141–149

9. Grosser V, Gille J, Seide K, Jürgens C: Ätiologie und Pathophysiologie der Gonarthrose. Orthopädische Praxis 2007: 43: 65–69

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