Übersichtsarbeiten - OUP 05/2016

Chronische Rückenschmerzen – entzündlich, funktionell, psychosomatisch?

Kay Niemier1, Wolfram Seidel2, Ulf Marnitz3

Zusammenfassung: Chronische Rückenschmerzen sind in der westlichen Hemisphäre ein wesentliches medizinisches Problem. Morphologische, somatisch funktionelle und psychosoziale Aspekte sowie Mechanismen der neurophysiologischen Schmerzchronifizierung sind an der Pathogenese beteiligt. Schon im akuten Stadium sollte ein Screening auf Risiken für eine Schmerzchronifizierung erfolgen. Patienten mit chronischen, rezidivierenden oder chronifizierungsgefährdeten Rückenschmerzen bedürfen einer multimodalen interdisziplinären Diagnostik.

Im Rahmen der Diagnostik können die wesentlichen morphologischen, somatisch funktionellen, psychosozialen und neurophysiologischen Aspekte der Schmerzchronifizierung erhoben und bewertet werten. Auf dieser Grundlage lässt sich ein befundgerechtes mono- oder multimodales Therapiekonzept erarbeiten. In den Rückenzentren und stationär im Rahmen der multimodalen interdisziplinären Komplexbehandlung des Bewegungssystems (ANOA-Konzept) werden solche Diagnostik- und Therapieansätze erfolgreich umgesetzt.

Schlüsselwörter: chronischer Rückenschmerz, multimodale
Behandlung, Rückenzentrum, ANOA Konzept, chronischer Schmerz

Zitierweise
Niemier K, Seidel W, Marnitz U: Chronische Rückenschmerzen
– entzündlich, funktionell, psychosomatisch?
OUP 2016; 5: 278–284 DOI 10.3238/oup.2016.0278–0284

Summary: Chronic low back pain (cLBP) is one of the major medical problems in the western world. Morphological and psychosocial aspects, somatic dysfunction and neurophysiological mechanism of pain chronification are important for the development of cLBP. Even in patients with acute LBP the diagnostic procedure should be well structured. Patients with a chronic or recurrent LBP or with risk factors for the development of a cLBP should undergo a multimodal interdisciplinary diagnostic in order to evaluate morphological, psychosocial, functional and neurophysiological findings. Following the diagnostic, an individual mono- or multimodal treatment program can be developped for each patient.

These diagnostic and treatment strategies are daily praxis in the ”German Spine Centers” and in the context of the multimodal interdisciplinary treatment concept of the locomotor system (ANOA-Concept).

Keywords: chronic low back pain, multimodal treatment, spine center, ANOA concept, chronic pain

Citation
Niemier K, Seidel W, Marnitz U: Chronic low back pain
– inflammation, functional, psychosomatic?
OUP 2016; 5: 278–284 DOI 10.3238/oup.2016.0278–0284

Fast jeder Deutsche leidet zumindest einmal im Leben an einem akuten Rückenschmerz. 90 % dieser Patienten heilen spontan ohne jede Therapie oder Intervention. Es gibt Hinweise, dass man durch ungünstige Einflussnahme die Spontanheilung behindert [1]. 10 % der Patienten mit akuten Schmerzsyndromen entwickeln einen chronischen Schmerz. Neben den bei der initialen Rückenschmerzepisode chronifizierenden Patienten entwickeln ca. 19 % der spontan Geheilten ein Rezidiv innerhalb eines Jahres [2]. Insgesamt geht man von bis zu 70 % Rezidiven aus. Wie viele von diesen Rezidivpatienten chronifizieren, ist nicht genau bekannt. Im klinischen Alltag sind Patienten, die über regelmäßige Schmerzrezidive einen Dauerschmerz entwickeln, nicht selten. Häufig bleibt der Schmerz nicht regional begrenzt, sondern weitet sich aus. Es entwickeln sich generalisierte Schmerzsyndrome z.B. die Fibromyalgie.

In der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz [3] wird bei anhaltenden Schmerzen von über 12 Wochen eine weitergehende Diagnostik (somatisch, psychosozial) möglichst im Rahmen eines interdisziplinären/multimodalen Assessments gefordert. Bei entsprechender Befundkonstellation kann im Rahmen dieser Diagnostik die Indikation zur multimodalen interdisziplinären Therapie gestellt werden. Bestehen psychosoziale Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung (yellow flags), sollte schon nach 6 Wochen Schmerzdauer und alltagsrelevanten Aktivitätseinschränkungen trotz leitliniengerechter Versorgung die Indikation zu einer multimodalen Therapie geprüft werden. Im klinischen Alltag werden diese Vorgaben nicht erfüllt.

Chronischer Rückenschmerz und Multikausalität

Die Forderung nach einer multimodalen interdisziplinären Diagnostik ergibt sich aus der multikausalen Genese chronischer Rückenschmerzen.

Morphologische, somatisch-funktionelle und psychosoziale Befunde sowie neurophysiologische Aspekte der Schmerzchronifizierung führen im Zusammenspiel zum klinischen Bild des chronischen Rückenschmerzes. Dabei können einzelne Aspekte im individuellen Fall unterschiedlich gewichtet sein.

Morphologische Aspekte

Der größte Teil der aktuell im deutschen Gesundheitssystem durchgeführten Diagnostik bei Rückenschmerzen bezieht sich auf die morphologische Differenzialdiagnostik. Zum einem sollen bedrohliche Krankheitssituationen (red flags, z.B. Malignität, Entzündung, Frakturen) ausgeschlossen oder einer spezifischen Therapie zugeführt werden. Zum anderen geht es um die Erhebung und Wertung morphologischer Befunde in Relevanz zum vorliegenden Schmerzsyndrom. Morphologische Befunde können in folgenden Zusammenhängen an einem chronischen Schmerzsyndrom mitbeteiligt sein:

Hauptursache für den Schmerz (z.B. Entzündungsschmerz bei Spondylarthritiden)

Ursache für schmerzhafte funktionelle Befunde (z.B. Fehlstatik bei Spondylarthritiden mit eingesteifter Hyperkyphose)

Therapiefolge (z.B. osteoporotische Frakturen bei antientzündlicher Therapie mit Kortikosteroiden)

Angst und Vermeidung auslösend (z.B. mein Rücken ist kaputt)

Insofern können morphologische Befunde zentral oder marginal, direkt oder indirekt an der Entstehung und Chronifizierung eines Rückenschmerzes beteiligt sein. Neben den degenerativen Befunden (oft auch nur Zufallsbefunde) spielen entzündliche Erkrankungen in der Differenzialdiagnostik eine wichtige Rolle. Patienten kommen oft mit der Diagnose Rheuma in die Sprechstunde. Dabei wird der Begriff Rheuma mit Schmerzen, oft auch ausgebreiteten Schmerzen gleichgesetzt. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass rheumatische Erkrankungen systemische Entzündungen darstellen. Für die einzelnen Erkrankungen wurden entsprechende Diagnosekriterien definiert [4].

Alle rheumatischen Erkrankungen können direkt oder indirekt mit chronischen Rückenschmerzen assoziiert sein (s.o.). Am häufigsten assoziiert mit Rückenschmerzen sind die Spondylarthritiden:

Spondylitis ankylosans

Arthritis psoriatica

infektreaktive Arthritiden

intestinale Arthropatien bei Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder Morbus Whipple

SAPHO-Syndrom (S = Synovitis, A = Akne, P = Pusteln Hand und Fußflächen; H = Hyperostosen; O = Osteomyelitis (steril))

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