Übersichtsarbeiten - OUP 05/2016

Chronische Rückenschmerzen – entzündlich, funktionell, psychosomatisch?

Kay Niemier1, Wolfram Seidel2, Ulf Marnitz3

Zusammenfassung: Chronische Rückenschmerzen sind in der westlichen Hemisphäre ein wesentliches medizinisches Problem. Morphologische, somatisch funktionelle und psychosoziale Aspekte sowie Mechanismen der neurophysiologischen Schmerzchronifizierung sind an der Pathogenese beteiligt. Schon im akuten Stadium sollte ein Screening auf Risiken für eine Schmerzchronifizierung erfolgen. Patienten mit chronischen, rezidivierenden oder chronifizierungsgefährdeten Rückenschmerzen bedürfen einer multimodalen interdisziplinären Diagnostik.

Im Rahmen der Diagnostik können die wesentlichen morphologischen, somatisch funktionellen, psychosozialen und neurophysiologischen Aspekte der Schmerzchronifizierung erhoben und bewertet werten. Auf dieser Grundlage lässt sich ein befundgerechtes mono- oder multimodales Therapiekonzept erarbeiten. In den Rückenzentren und stationär im Rahmen der multimodalen interdisziplinären Komplexbehandlung des Bewegungssystems (ANOA-Konzept) werden solche Diagnostik- und Therapieansätze erfolgreich umgesetzt.

Schlüsselwörter: chronischer Rückenschmerz, multimodale
Behandlung, Rückenzentrum, ANOA Konzept, chronischer Schmerz

Zitierweise
Niemier K, Seidel W, Marnitz U: Chronische Rückenschmerzen
– entzündlich, funktionell, psychosomatisch?
OUP 2016; 5: 278–284 DOI 10.3238/oup.2016.0278–0284

Summary: Chronic low back pain (cLBP) is one of the major medical problems in the western world. Morphological and psychosocial aspects, somatic dysfunction and neurophysiological mechanism of pain chronification are important for the development of cLBP. Even in patients with acute LBP the diagnostic procedure should be well structured. Patients with a chronic or recurrent LBP or with risk factors for the development of a cLBP should undergo a multimodal interdisciplinary diagnostic in order to evaluate morphological, psychosocial, functional and neurophysiological findings. Following the diagnostic, an individual mono- or multimodal treatment program can be developped for each patient.

These diagnostic and treatment strategies are daily praxis in the ”German Spine Centers” and in the context of the multimodal interdisciplinary treatment concept of the locomotor system (ANOA-Concept).

Keywords: chronic low back pain, multimodal treatment, spine center, ANOA concept, chronic pain

Citation
Niemier K, Seidel W, Marnitz U: Chronic low back pain
– inflammation, functional, psychosomatic?
OUP 2016; 5: 278–284 DOI 10.3238/oup.2016.0278–0284

Fast jeder Deutsche leidet zumindest einmal im Leben an einem akuten Rückenschmerz. 90 % dieser Patienten heilen spontan ohne jede Therapie oder Intervention. Es gibt Hinweise, dass man durch ungünstige Einflussnahme die Spontanheilung behindert [1]. 10 % der Patienten mit akuten Schmerzsyndromen entwickeln einen chronischen Schmerz. Neben den bei der initialen Rückenschmerzepisode chronifizierenden Patienten entwickeln ca. 19 % der spontan Geheilten ein Rezidiv innerhalb eines Jahres [2]. Insgesamt geht man von bis zu 70 % Rezidiven aus. Wie viele von diesen Rezidivpatienten chronifizieren, ist nicht genau bekannt. Im klinischen Alltag sind Patienten, die über regelmäßige Schmerzrezidive einen Dauerschmerz entwickeln, nicht selten. Häufig bleibt der Schmerz nicht regional begrenzt, sondern weitet sich aus. Es entwickeln sich generalisierte Schmerzsyndrome z.B. die Fibromyalgie.

In der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz [3] wird bei anhaltenden Schmerzen von über 12 Wochen eine weitergehende Diagnostik (somatisch, psychosozial) möglichst im Rahmen eines interdisziplinären/multimodalen Assessments gefordert. Bei entsprechender Befundkonstellation kann im Rahmen dieser Diagnostik die Indikation zur multimodalen interdisziplinären Therapie gestellt werden. Bestehen psychosoziale Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung (yellow flags), sollte schon nach 6 Wochen Schmerzdauer und alltagsrelevanten Aktivitätseinschränkungen trotz leitliniengerechter Versorgung die Indikation zu einer multimodalen Therapie geprüft werden. Im klinischen Alltag werden diese Vorgaben nicht erfüllt.

Chronischer Rückenschmerz und Multikausalität

Die Forderung nach einer multimodalen interdisziplinären Diagnostik ergibt sich aus der multikausalen Genese chronischer Rückenschmerzen.

Morphologische, somatisch-funktionelle und psychosoziale Befunde sowie neurophysiologische Aspekte der Schmerzchronifizierung führen im Zusammenspiel zum klinischen Bild des chronischen Rückenschmerzes. Dabei können einzelne Aspekte im individuellen Fall unterschiedlich gewichtet sein.

Morphologische Aspekte

Der größte Teil der aktuell im deutschen Gesundheitssystem durchgeführten Diagnostik bei Rückenschmerzen bezieht sich auf die morphologische Differenzialdiagnostik. Zum einem sollen bedrohliche Krankheitssituationen (red flags, z.B. Malignität, Entzündung, Frakturen) ausgeschlossen oder einer spezifischen Therapie zugeführt werden. Zum anderen geht es um die Erhebung und Wertung morphologischer Befunde in Relevanz zum vorliegenden Schmerzsyndrom. Morphologische Befunde können in folgenden Zusammenhängen an einem chronischen Schmerzsyndrom mitbeteiligt sein:

Hauptursache für den Schmerz (z.B. Entzündungsschmerz bei Spondylarthritiden)

Ursache für schmerzhafte funktionelle Befunde (z.B. Fehlstatik bei Spondylarthritiden mit eingesteifter Hyperkyphose)

Therapiefolge (z.B. osteoporotische Frakturen bei antientzündlicher Therapie mit Kortikosteroiden)

Angst und Vermeidung auslösend (z.B. mein Rücken ist kaputt)

Insofern können morphologische Befunde zentral oder marginal, direkt oder indirekt an der Entstehung und Chronifizierung eines Rückenschmerzes beteiligt sein. Neben den degenerativen Befunden (oft auch nur Zufallsbefunde) spielen entzündliche Erkrankungen in der Differenzialdiagnostik eine wichtige Rolle. Patienten kommen oft mit der Diagnose Rheuma in die Sprechstunde. Dabei wird der Begriff Rheuma mit Schmerzen, oft auch ausgebreiteten Schmerzen gleichgesetzt. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass rheumatische Erkrankungen systemische Entzündungen darstellen. Für die einzelnen Erkrankungen wurden entsprechende Diagnosekriterien definiert [4].

Alle rheumatischen Erkrankungen können direkt oder indirekt mit chronischen Rückenschmerzen assoziiert sein (s.o.). Am häufigsten assoziiert mit Rückenschmerzen sind die Spondylarthritiden:

Spondylitis ankylosans

Arthritis psoriatica

infektreaktive Arthritiden

intestinale Arthropatien bei Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder Morbus Whipple

SAPHO-Syndrom (S = Synovitis, A = Akne, P = Pusteln Hand und Fußflächen; H = Hyperostosen; O = Osteomyelitis (steril))

juvenile Oligoarthritis Typ 2

Bei den rheumatisch bedingten chronischen Rückenschmerzen spielt bei vorhandener Entzündungsaktivität die antientzündliche Behandlung eine entscheidende Rolle.

Somatisch funktionelle Aspekte

Funktionsstörungen des Bewegungssystems sind häufig für Schmerzen im Bewegungssystem verantwortlich und spielen bei der Schmerzchronifizierung von Rückenschmerzen eine zentrale Rolle [5, 6, 7].

Wichtig ist die Unterscheidung in primäre und sekundäre Funktionsstörungen [8, 9].

Sekundäre Funktionsstörungen sind Störungen in der Funktionalität von Geweben oder Strukturen. Diese können lokal, regional, zum Teil auch generalisiert auftreten und sind in der Regel schmerzhaft. Sekundäre Funktionsstörungen treten nicht spontan auf, sondern resultieren aus Fehl- oder Überlastungen der betroffenen Strukturen. Ursächlich können z.B. Fehlbelastungen bei Kompensationsmechanismen (z.B. Trendelenburghinken bei Coxarthrose), erhöhte muskuläre Anspannungen (z.B. bei Angst) oder Fehlbelastungen bei zugrunde liegenden primären Funktionsstörungen sein. Zu den sekundären Funktionsstörungen gehören z.B. muskuläre Triggerpunkte, Muskelverspannungen und somatische Dysfunktionen (Blockierung).

Primäre Funktionsstörungen sind Ursache für Fehl- und Überlastung im Bewegungssystem und sollten in der Diagnostik und Therapie immer mit Berücksichtigung finden. Häufige primäre Funktionsstörungen sind die insuffiziente Stabilisation der Wirbelsäule und Gelenke (Tiefenstabilisation), Koordinationsstörungen sowie die konstitutionelle Hypermobilität.

Psychosoziale Aspekte

Die Bedeutung psychosozialer Faktoren für die Schmerzchronifizierung ist unbestritten [10]. Neben psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angst, spielen primäre psychische Schmerzerkrankungen (z.B. Somatoforme Schmerzstörung) und dysfunktionale Krankheitseinsichten bzw. Verhaltensweisen eine entscheidende Rolle. Hinzu kommen Psychopathologien, die die Diagnostik und Therapie erschweren oder unmöglich machen können (z.B. Persönlichkeitsstörungen).

Psychosoziale Risikofaktoren sollten schon in der Frühphase einer Schmerzerkrankung durch den Primärarzt erhoben werden, um eine entsprechende Weiterdiagnostik zu veranlassen. Strukturell ist eine schnelle Diagnostik durch einen ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten aufgrund langer Wartezeiten meist jedoch nicht möglich.

Bei chronifizierten oder chronifizierungsgefährdeten Patienten ist eine qualifizierte psychosoziale Diagnostik (Einzelgespräche durch Schmerzpsychotherapeut) unumgänglich, unterstützt durch eine entsprechende Fragebogendiagnostik. Soziale Faktoren wie z.B. Kompensationsforderungen spielen eine zentrale Rolle in der Bewertung der Behandelbarkeit und Prognostik und sollten frühzeitig Berücksichtigung finden [11, 12].

Neurophysiologische Aspekte der Schmerzchronifizierung

Oft wird von Patienten und Behandlern das Phänomen Schmerz als reines Reiz-Wirkungsprinzip missverstanden. Viele Schmerzphänomene wie z.B. chronische Rückenschmerzen lassen sich so nicht erklären.

Moderne Modelle der Schmerzphysiologie gehen von komplexen Wahrnehmungs-, Modulations-, Steuerungs- und Anpassungsprozessen auf Schmerzreize aus.

Nach Verletzungen bzw. wiederholter Reizungen von (primären) nozizeptiven C- oder A-delta-Fasern steigert sich deren Empfindlichkeit und damit auch die Schmerzempfindlichkeit [13]. Dieser Prozess wird periphere Sensitivierung genannt und ist gekennzeichnet durch eine Absenkung der Schmerzschwelle, stärkere Antworten der Nervenfaser auf überschwellige Reize und spontane Aktivität der Nervenfasern.

Die primären nozizeptiven C- oder A-delta-Fasern werden im Hinterhorn des Rückenmarks auf verschiedene sekundäre Neurone umgeschaltet. Neben Neuronen mit niedriger (low threshold neuron) und hoher (high threshold neuron) Reizschwelle finden sich sogenannte wide dynamic range neurons (WDR-Neurone). Diese haben die Eigenschaft, sowohl auf geringe wie hohe Reizintensitäten zu reagieren und können so Reizintensitäten kodieren. Eine weitere entscheidende Eigenschaft der WDR-Neurone ist die Konvergenz. Konvergenz heißt, dass Afferenzen über die rezeptiven Felder eines einzelnen Neurons hinaus und aus verschiedenen Geweben, sowie verschiedene Reizqualitäten (Nozizeption, Propriozeption, etc.) im WDR-Neuron verarbeitet werden [14].

Wiederholte und/oder dauerhafte Reizung von WDR-Neuronen führt zu einer veränderten Genexpression und damit Proteinproduktion in den Neuronen (Neuroplastizität). Diese neuroplastischen Veränderungen sind verantwortlich für spontane Entladungen von sekundären Neuronen (Spontanschmerz), für die Verminderung der Schmerzschwelle (Hyperalgesie) sowie die Schmerzausbreitung und sind kennzeichnend für chronische Schmerzsyndrome.

Durch die Konvergenz der WDR-Neurone kann es zur Ausbreitung von Schmerzen über verschiedenen Körperregionen und Gewebeschichten kommen [15].

Diagnostik und Therapie
von chronischen
Rückenschmerzen

Es ist sinnvoll, bei allen Patienten mit Rückenschmerzen eine strukturierte Diagnostik- und Therapiestrategie anzuwenden (Abb. 1). Viele Patienten, die sich mit akuten Rückenschmerzen präsentieren, haben schon eine längere Schmerzkarriere hinter sich oder bringen Risikofaktoren für Schmerzrezidive bzw. für die Entwicklung eines chronischen Rückenschmerzes mit. Somit sollte schon in der akuten Phase, neben dem Ausschluss von red flags und dem Erkennen von akuten schmerzrelevanten Befunden, auf entsprechende Risikofaktoren untersucht werden:

Somatisch funktionell auf

primäre Funktionsstörungen

kardiopulmonale Dekonditionierung

muskuläre Dekonditionierung

Psychosozial auf

dysfunktionale Kognitionen und Verhaltensweisen (Vermeidungs-, Durchhaltestrategien, externale Attributionen)

Hinweise für Somatisierung (z.B. multiple funktionelle Beschwerden/Erkrankungen, multiple Allergien/Unverträglichkeiten)

Hinweise für affektive Störungen (z.B. Angst, Depression)

sekundäre Einflüsse (z.B. Arbeitsunfähigkeitszeiten, Rentenanträge, Grad der Behinderung)

Patienten ohne relevante Risikofaktoren sollten entsprechend der aktuellen Befundlage therapiert werden. In einer erneuten Evaluation nach Abschluss der akuten Schmerzbehandlung sollten funktionelle Risikofaktoren für Schmerzrezidive erhoben und ggf. therapiert werden (Eigenübungen, Physiotherapie, Trainingstherapie)

Patienten mit einem chronischen, chronifizierungsgefährdeten oder rezidivierenden Rückenschmerz sollten einer multimodalen interdisziplinären Diagnostik zugeführt werden. Diese beinhaltet die gleichzeitige klinische, apparative und mit Hilfe von Fragebögen durchgeführte Diagnostik unter Beteiligung verschiedener Berufsgruppen (Arzt, Psychotherapeut, Physiotherapeut). Des Weiteren werden relevante Vorbefunde gesichtet und einbezogen. Die Diagnostik ist zeitlich und räumlich koordiniert und mündet in eine gemeinsame interdisziplinäre Befundauswertung und die Bewertung der Relevanz der einzelnen Befunde für das individuelle Schmerzbild. Im Ergebnis können in Abhängigkeit von der Befundlage verschiedene monomodale oder auch multimodale Behandlungskonzepte stehen.

Multimodale interdisziplinäre

Diagnostik und Therapie am Beispiel der Rückenzentren

Inhaltlich orientieren sich die Rückenzentren an den Nationalen Versorgungsleitlinien Kreuzschmerz und unter besonderer Berücksichtigung des Curriculums des Göttinger Rücken-intensiv Programm (GRIP) [16].

Fachärzte, Physiotherapeuten, Sportwissenschaftler und psychologische Psychotherapeuten arbeiten Hand in Hand in einem interdisziplinären Setting in einer Einrichtung. Durch die räumliche Nähe entsteht, gefördert durch mehrere wöchentliche Teamsitzungen, eine gemeinsame Sprache und Vorgehensweise. Diese ist essenziell für den Erfolg der Rückenzentren in der Multimodalität.

Vor einer Therapie steht grundsätzlich ein interdisziplinäres Assessment. Es dient der Steuerung der Patienten zum Teil in die Tageskliniken, zum Teil aber auch zurück in der ambulanten und stationären Regelversorgung.

Chronische oder chronifizierungsgefährdete Patienten werden von den gesetzlichen Krankenkassen im Wesentlichen anhand von ICD-Codes und Dauer der Arbeitsunfähigkeit identifiziert und den Rückenzentren zum Assessment zugewiesen. So besteht eine Zusammenarbeit mit den Krankenkassen bezüglich deren Fallsteuerung.

Darüber hinaus besteht für die niedergelassenen Ärzte eine Zuweisungsoption, die jedoch vergleichsweise weniger genutzt wird.

Standardisierte Schmerzfragebögen werden eingangs ausgefüllt. Anschließend erfolgt eine manualtherapeutische und neurologische Diagnostik, eine psychotherapeutische Exploration sowie Sonografie und bildgestützte Stufendiagnostik bei unklaren Beschwerden. Psychosoziale Faktoren werden gezielt von allen 3 diagnostizierenden Professionen berücksichtigt.

Die Tageskliniken der Rückenzentren, die mehrere integrierte Versorgungsprojekte umsetzen, bestehen aus 3 Bereichen: Der körperlich-aktivierende Bereich, der psychologische und ärztliche. Allen 3 Bereichen ist die Edukation mit dem Ziel der Übertragung von Eigenverantwortung und positiven Bewegungserleben gemein.

Diese Multimodalität erfolgt entlang von 2 streng strukturierten Behandlungsplänen in einer geschlossenen Gruppe von 8 Patienten über 4 Wochen, 5 Tage pro Woche und 6 Stunden täglich. Dabei gibt es 2 Behandlungsintensitäten:

Das „Kleine Therapieprogramm“ zielt auf eine Steigerung der funktionellen Leistungsfähigkeit, der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und der Durchbrechung bzw. Verhinderung einer Chronifizierung ab. Das Versorgungskonzept unterteilt sich in ein individuelles intensitätsgeleitetes Rumpfmuskelprogramm und in eine Schulung über psychosomatische Abhängigkeiten. Hier werden dem Teilnehmer Informationen über die Schmerzphysiologie, Schmerzpsychologie, Psychosomatik und über Stress- und Schmerzbewältigung übermittelt.

Das „Große Therapieprogramm“ dient der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit mit ärztlicher Intervention wie beispielsweise der Schmerztherapie oder der Belastungssteuerung. Dazu erhält der Patient eine Trainingstherapie, die u.a. als befundorientierte Einzeltherapie oder als aerobes Training abgehalten werden kann. Des Weiteren wird der Patient in Form von Verhaltenstraining psychologisch betreut. Das Verhaltenstraining dient der Kenntnisgewinnung im Bereich soziales Lernen und Schmerzbewältigung. Der letzte Punkt in dem „Großen Therapieprogramm“ ist das „Work-Hardening“ bzw. Alltagstraining, das als berufsspezifisches Training angesehen wird und bei der Optimierung der Arbeitsplatzgestaltung helfen.

Das Leistungsspektrum umfasst grundsätzlich in dieser Zeit aktivierende manualmedizinische und interventionelle Behandlungsmethoden sowie psychotherapeutische Behandlungen, in Ausnahmen nur als Einzeltherapie.

Das Ziel der Versorgung im Rückenzentrum ist die Besserung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens des Patienten mit Erhöhung der allgemeinen Leistungsfähigkeit und der Lebensqualität. Der Fokus liegt hier in der fachübergreifenden Behandlung und der Orientierung an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Zielsetzung wird gemeinsam durch das interdisziplinäre Team und dem Patienten entwickelt. Daraus resultiert der wesentliche Behandlungsansatz von Aktivität und Hilfe zur Selbsthilfe. Dem Patienten soll es so gelingen seine Funktionsfähigkeit wieder zu erlangen und nachhaltig in den Alltag zu integrieren.

Stationäre multimodale inter

disziplinäre Diagnostik und Therapie des Bewegungssystems (ANOA-Konzept, [8, 17])

Die Krankenhausbehandlung von Patienten mit Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems, insbesondere von Rückenschmerzen, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Während im Jahre 2006 je 1000 Einwohner 203,8 Krankenhausfälle zu verzeichnen waren, waren es im Jahr 2014 schon 218,6 Fälle. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 415.000 Patienten mit Rückenschmerzen im Krankenhaus versorgt [18].

Erhielten alle Patienten eine leitliniengerechte und gezielte Behandlung? Ist bei multifakto-rieller Genese das biopsychosoziale Krankheitsverständnis berücksichtigt worden?

Eine aktuelle Antwort gibt der BARMER GEK-Report 2015. Von den 415.000 Patienten im Jahre 2014 wurden 30 % operiert, 30 % erhielten eine interventionelle Schmerztherapie, 5,4 % eine multimodale Schmerzbehandlung (OPS 8–918, DRG I42.Z, B47.Z, U42.Z). Mehr als 34 % der Patienten sind nach dieser Statistik nicht eindeutig einer gezielten Behandlung zugeführt worden.

In den Kliniken der Arbeitsgemeinschaft für nicht operativ-orthopädisch-manualmedizinische Akutkrankenhäuser (ANOA e.V.) werden Patienten mit chronifizierungsgefährdeten und chronischen Schmerzerkrankungen bei multifaktorieller Genese behandelt. Kennzeichen ist neben der Berücksichtigung von Strukturerkrankungen, psychologischen und sozialen Einflussfaktoren (wie bei der multimodalen Schmerztherapie) die zusätzliche Berücksichtigung somatisch funktioneller Befunde [8, 1].

In den ANOA-Klinken wurden im Jahre 2014 (deutschlandweit) ca. 7.200 Patienten im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie betreut. Diese wurden in der Erhebung der BARMER GEK erfasst. Nicht explizit erfasst wurden ca. 12.000 Patienten, welche im Rahmen einer befundgerechten multimodalen nichtoperativen Komplexbehandlung (DRG I68, B71 mit Berechnung eines Zusatzentgeltes über den OPS 8–977) mit zusätzlicher Berücksichtigung der Funktionspathologie versorgt wurden.

Das über mehr als 10 Jahre erarbeitete, auf Praktikabilität und klinische Anwendbarkeit überprüfte Konzept der ANOA ermöglicht die gezielte, wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechende und leitliniengerechte Krankenhausbehandlung.

Stationäre multimodale interdisziplinäre Diagnostik des Bewegungssystems

Die multifaktorielle Genese von Rückenerkrankungen erfordert ein Diagnostiksetting im Team von qualifizierten Ärzten, Psychologen, Mitarbeitern der Pflege und Therapeuten unterschiedlicher Berufsgruppen. Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung ist die Einhaltung der Kriterien der „echten“ Interdisziplinarität (nach Loeser et al.):

Gemeinsame Untersuchung

Gemeinsame Erhebung und Wertung von aktuellen und Vorbefunden

Transparenz in der Kommunikation und Integration aller Informationen in die Teamarbeit

Keine Auftragsarbeiten.

Die gezielte Behandlung ist nur möglich bei Untersuchung aller Ursachen und der Wertung des jeweils aktuellen Einflusses auf das Krankheitsbild. Auf dieser Basis ergeben sich Störungsmuster mit unterschiedlicher Wichtung der einzelnen Einflussebenen. Die Patienten können gezielt und individuell in Subgruppen behandelt werden.

Die interdisziplinäre Diagnostik erfolgt über die umfangreiche Anamneseerhebung, Erhebung des psychischen Befunds, die neuroorthopädischen und funktionell manualmedizinischen Untersuchungen. Unterstützt werden die klinischen Verfahren durch die apparative Funktionsdiagnostik, die Einbeziehung aller Vorbefunde und spezieller Fragebögen einschließlich psychometrischer Skalen, z.B. dem Deutschen Schmerzfragebogen. Die Befunde werden im qualifizierten interdisziplinären Team zusammen getragen und in ihrer aktuellen Bedeutung für die Schmerzsymptomatik, das Beeinträchtigungserleben und die Bewegungsstörungen des Patienten bewertet.

Die klinische Umsetzung erfolgt auf der Basis einer standardisierten Untersuchung. In der Abbildung 3 wird das Expertenrating der einzelnen Subskalen (Morphologie, manualmedizinisch-funktionell, vegetativ-funktionell, psychologisch und sozial) dargestellt. Über die Einschätzung der Wertigkeit der spezifischen Ebenen entsteht das Störungsmuster, welches Grundlage für die befundgerechte Komplexbehandlung ist.

Stationäre interdisziplinäre Therapie des Bewegungssystems

Die multimodale interdisziplinäre Therapie des Bewegungssystems nach dem ANOA-Konzept ist befundorientiert, multimodal und multiprofessionell. Die Komplexbehandlungen werden im Rahmen von Therapieschwerpunkten (Behandlungspfade, Tab. 1) umgesetzt. Es wurden 4 Behandlungspfade erarbeitet und in den letzten Jahren auf klinische Praktikabilität und Wirksamkeit überprüft und für viele Patienten angewandt. Die Nutzung ermöglicht die Umsetzung der Therapie in Subgruppen.

So erfolgt die Therapiesteuerung und Gewichtung der Therapieverfahren.

Ärztliche, psychotherapeutische, physio- und trainingstherapeutische sowie pflegerische Verfahren werden abgestimmt.

Die Zielstellung der Behandlung ist individuell patientenzentriert.

Die Anwendung der therapeutischen Verfahren erfolgt mit regelmäßiger interdisziplinärer Verlaufsdiagnostik und Therapieanpassung.

Die therapeutischen Verfahren stammen aus den Bereichen:

Manuelle Medizin

Reflextherapie

Medikamentöse und interventionelle Therapie

Psychotherapie

Physiotherapie

Trainingstherapie

Physikalische Therapie/Naturheilverfahren

Entspannungsverfahren

In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte die multimodale Komplexbehandlung des Bewegungssystems nach dem ANOA-Konzept positiv evaluiert werden [19]. Diese ist insbesondere durch die Berücksichtigung von komplexen Funktionsstörungen des Bewegungssystems neben den tagesklinischen Konzepten ein weiterer Baustein in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems.

Zusammenfassung und Fazit für die Praxis

Patienten mit Rückenschmerzen stellen oft ein komplexes Problem dar und bedürfen einer strukturierten Diagnostik- und Therapiestrategie. Patienten mit einem chronischen, chronifizierungsgefährdeten oder rezidivierenden Rückenschmerz bedürfen einer interdisziplinären multimodalen Diagnostik. Im Rahmen dieser Diagnostik können die wesentlichen pathogenetischen Aspekte des Schmerzsyndroms herausgearbeitet und eine differenzierte mono- oder multimodale Therapiestrategie entwickelt werden.

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Dr. med. Kay Niemier

Klinik für Manuelle Therapie

Ostenallee 83

59063 Hamm

Kay.Niemier@KMT-Hamm.de

Literatur

1. Kendrick D, Fielding K, Bentley E, Kerslake R, Miller P, Pringle M: Radiography of the lumbar spine in primary care patients with low back pain: randomised controlled trial. BMJ 2001; 322: 400–405

2. Watson PJ, Main CJ, Waddel G, Gales TF, Purcell-Jones G: Medically certified work loss, recurrence and costs of wage compensation for back pain: A follow up study of the working population of Jersey. British Journal of Rheumatology 1998; 37: 82–86

3. http://www.leitlinien.de/mdb/down loads/nvl/kreuzschmerz/kreuzschmerz- 1aufl-vers5-lang.pdf; Zugriff 22.01.2016

4. http://dgrh.de/fileadmin/media/Praxis_Klinik/Manual_QS_2007/kap3.pdf; Zugriff 22.01.2016

5. Niemier K: Multimodal, polypragmatisch und kostenintensiv – Rückenschmerzbehandlungen auf dem Prüfstand. Manuelle Medizin, 2012; 50: 16–27

6. Niemier K, Schmidt S, Engel K et al.: Reliabilität klinischer Tests zur funktionellen Schmerzdiagnostik. Ergebnisse einer Multicenterstudie zur Reproduzierbarkeit von funktionellen Befunden des Bewegungssystems. Der Orthopäde 2009; 38: 847–854

7. Niemier K, Seidel W: Der Einfluss von muskulo-skelettaler Funktionsstörung auf chronische Schmerzsyndrome des Bewegungssystems. Schmerz 2007; 21: 139–45)

8. Niemier K. Hogräfe HC: Chronische cervicale Schmerzsyndrome. Vorstellung eines multimodalen interdisziplinären stationären Behandlungskonzepts (ANOA-Konzept; Akt Rheumatol 2015; 40: 1–9

9. Niemier K, Seidel W (Hrsg.): Schmerzen des Bewegungssystems. Funktionell behandeln – Schmerzen lindern. Springer Verlag Heidelberg. 2. erweiterte und überarbeitete Auflage 2011).

10. Pfingsten M. Franz C, Hildebrandt J, Sauer P, Seeger D: Das Göttinger Rücken Intensiv Programm (GRIP) – ein multimodales Behandlungsprogramm für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen, Teil 3. Psychosoziale Aspekte. Schmerz 1996; 10: 326–344

11. Nguyen TH, Randolph DC, Talmage J, Succop, P, Russel T: Long-term outcomes of lumbar fusion among workers compensation subjects. Spine 2011; 36: 320–331

12. Webster BS, Verma S, Pransky GS: Outcomes of workers compensation claimants with low back pain undergoing intradiscal electrothermal therapie. Spine 2004; 29: 435–441

13. Bessou P, Perl ER: Responce of cutaneous sensory units with unmyelated fibers to noxious stimuli. J. Neurophysiol 1969; 32: 533–544

14. Treede RD: Physiologische Grundlagen der Schmerzentstehung und Schmerztherapie. In Zenz M, Jurna I. (Hrsg.) Lehrbuch der speziellen Schmerztherapie. Wiss. Verl.-Ges. 2001; 2 Auflage: 39–63

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16. Hildebrandt J, Pfingsten M, Lüder S et al.: Göttinger-Rücken-Intensiv-Programm (GRIP). Das Manual. Congress Compact 2C; Auflage: 1., Aufl. (10. November 2003)

17. www.anoa-kliniken.de, Zugriff 14.03.2016

18. Bitzer EM, Lehmann B, Bohm S, Priess HW: BARMER GEK Report Krankenhaus 2015, Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse Band 33

19. Derlien S, Danckwerth F, Alfter S et al: Outcomes einer stationären multimodalen Komplexbehandlung des Bewegungssystems. Ergebnisse der Pilotphase zur ANOA-Studie. Manuelle Medizin 2016; 54: 53–58

20. Loeser JD ISAP, Loeser JD, Melzack R. Pain: an overview. Lancet. 1999; 8; 353: 1607–1609

Fussnoten

1 Klinik für Manuelle Therapie, Hamm

2 Klinik für Manuelle Medizin, Kremmen/Sommerfeld

3 Rückenzentrum am Markgrafenpark, Berlin

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