Übersichtsarbeiten - OUP 06/2015

Chronischer Knieschmerz
Häufigkeit, Ursachen und BehandlungsoptionenFrequency, causes and treatment

Kay Niemier1, Christian. Rauscher2, Karolin von Korn2, Joachim Mallwitz3

Zusammenfassung: Chronische Schmerzen im Knie sind häufig und führen zu signifikanten Einschränkungen in der Lebensgestaltung und -qualität von vielen Betroffenen.

Wie auch bei anderen chronischen Schmerzsyndromen ist der chronische Knieschmerz in seiner Genese multifaktoriell. Funktionelle, morphologische und psychosoziale Faktoren führen zusammen mit neurophysiologischen Veränderungen in der Schmerzverarbeitung zum chronischen Schmerzsyndrom. In der Behandlung müssen alle Einflussfaktoren
berücksichtigt werden, um ein positives Ergebnis erzielen zu können. Multimodale interdisziplinäre Assessments und Behandlungsprogramme könnten die Behandlung von chronischen Knieschmerzen deutlich verbessern.

Schlüsselwörter: Knieschmerz, chronische Schmerzsyndrome, multimodale Schmerztherapie

Zitierweise
Niemier K, Rauscher C, von Korn K, Mallwitz J. Chronischer Knieschmerz. Häufigkeit, Ursachen und Behandlungsoptionen.
OUP 2015; 6: 315–322 DOI 10.3238/oup.2015.0315–0322

Summary: Chronic pain syndromes of the knee are frequent and often responsible for a significant impairment of the quality of life.

As in other chronic pain syndromes, many pathogenetic
factors are responsible for the development of a chronic knee pain. Somatic dysfunction, morphological and psychosocial factors together with neurophysiological changes of pain perception lead to the development of chronic pain syndromes. Assessment and treatment concepts have to take these facts into account. All pathogenetic factors should be evaluated and treated in order to be successful in treatment. Multimodal interdisciplinary programs might be helpful to improve treatment outcome.

Citation
Niemier K, Rauscher C, von Korn K, Mallwitz J. Chronic pain syndromes of the knee. Frequency, causes and therapy.
OUP 2015; 6: 315–322 DOI 10.3238/oup.2015.0315–0322

Einführung

Knieschmerzen treten in den entwickelten Industrieländern häufig auf. In einer finnischen Untersuchung wurden Prävalenzen chronischer Knieschmerzen bei Kindern von 3,9 % und bei Jugendlichen von 18,5 % angegeben [1]. Die Mehrzahl dieser Kniebeschwerden ist auf funktionelle Ursachen zurückzuführen. Knieschmerzen bei Jugendlichen wurden zusätzlich mit vermehrter sportlicher Aktivität und höherer Bildung assoziiert [2].

In Deutschland gaben 2008 54 % der Berufstätigen an, unter Knieschmerzen zu leiden [3]. Circa 53 % der erwachsenen Bevölkerung leidet unter einer Kniearthrose [4]. Chronischer Knieschmerz führt zu häufigen Arbeitsunfähigkeiten (12-Monats-Prävalenz 5–22 %) [5] und medizinischen Interventionen. So stieg die Zahl der implantierten Knieendoprothesen von 2003 bis 2008 um über 50 % [6]. Ungefähr 1,4–5 % der Konsultationen in allgemeinmedizinischen Praxen sind auf Knieschmerzen zurückzuführen. Risikofaktoren für chronische Knieschmerzen sind Übergewicht, höheres Lebensalter, weibliches Geschlecht, andere Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems, schwere körperliche Arbeit (tragen großer Lasten, knieende Tätigkeit), psychische Einflussfaktoren und vorhergehende Knietraumen [7, 8, 9, 10, 11].

Chronischer Schmerz

Schmerz ist eine der wichtigsten Sinneswahrnehmungen. Ohne Schmerzen ist ein (gesundes) Überleben nicht möglich. Schmerzen warnen vor potenziellen und bei existierenden Schädigungen und führen so zu einer Verhaltensadaptation, um den schädlichen Einfluss zu verhindern oder zu minimieren. Schmerzen werden nicht einfach über die Nozizeptoren in elektrische Impulse umkodiert, weitergeleitet und im Zentralnervensystem (ZNS) wahrgenommen, sondern der Schmerz wird auf seinem Weg in und durch das ZNS moduliert. Schmerzimpulse können z.B. durch Ablenkung oder Stress unterdrückt werden. Durch Übung sind Menschen in der Lage, selbst extreme Schmerzreize zu unterdrücken (z.B. Fakire). Auf der anderen Seite können dauerhafte Schmerzreize, psychische Erkrankungen oder auch persönliche Dispositionen (z.B. autonome Fehlregulation) zur Verminderung der Schmerzregulationsfähigkeit führen. Bei diesen Patienten findet sich lokal (z.B. Knie) oder generalisiert (z.B. Fibromylagie) eine Schmerzüberempfindlichkeit.

Insbesondere, jedoch nicht ausschließlich bei chronischen Schmerzen, sind die Schmerzursachen vielfältig und komplex. Schmerzauslöser (z.B. Knietrauma, Funktionsstörungen des Kniegelenks) können initial in der Schmerzgenese eine Rolle spielen, die Schmerzchronifizierung wird jedoch durch andere Prozesse bestimmt [12]. Unterschiedliche Faktoren spielen bei der Entstehung von chronischen Schmerzsyndromen in unterschiedlichsten Kombinationen eine zentrale Rolle (Tab. 1 [12, 13,14, 15]).

Über längere Zeiträume bestehende grundlegende Funktionsstörungen des Bewegungssystems führen zu sekundären morphologischen Störungen und einem erhöhten Verletzungsrisiko [18].

Erst das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren führt zur Entwicklung von chronischen Schmerzen. Dem muss in der Diagnostik und Therapie Rechnung getragen werden. Patienten mit einem chronischen Schmerz, inklusive der Patienten mit einem chronischen Knieschmerz, benötigen eine interdisziplinäre multimodale Diagnostik, in der funktionelle, morphologische und psychosoziale Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Im interdisziplinären Team kann ein dem Störungsbild angemessener Therapieplan (multimodal oder monomodal) entwickelt werden [19]. Einseitige Behandlungen bzw. Überbewertung eines einzelnens Aspekts/Einflussfaktors führen oft zur Fehlbewertung des Schmerzsyndroms, zu therapeutischen Misserfolgen bzw. nur kurzfristigen Verbesserungen, zur Iatrogenisierung und oft zur weiteren Schmerzchronifizierung [20].

Funktionelle Anatomie
des Kniegelenks

Die wesentlichen Aufgaben des Bewegungssystems bestehen in der Gewährleistung von

aufrechter Haltung

Beweglichkeit

Fortbewegung

Hierfür ist die ausreichende Stabilität von Haltung und Bewegung sowie eine ausreichende Flexibilität notwendig.

Die Stabilität des Bewegungssystems wird gewährleistet durch passive Strukturen, aktive Strukturen und die neurogene Steuerung [21, 22].

Die passiven Strukturen (Knochen, Sehnen, Bänder, Faszien, Knorpel) dienen dem Formerhalt, der strukturellen Sicherung von Haltung und Bewegung, als Ansatzpunkt der aktiven Strukturen und als sensorisches Organ der Haltungs- und Bewegungssteuerung. Das Kniegelenk wird von folgenden passiven Strukturen in seiner Haltung und Bewegung gestützt:

Femur mit den Femurkondylen und der Fossa intercondylaris

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6