Übersichtsarbeiten - OUP 06/2015

Chronischer Knieschmerz
Häufigkeit, Ursachen und BehandlungsoptionenFrequency, causes and treatment

Tibia mit dem Tibiaplateau und der Eminentia interkondylaris

Seiten- und Kreuzbänder, z.T. verstärkt durch die Sehnen der Kniemuskulatur

Die Gelenkkapsel mit den Retinacula patellae und den Sehnen der Kniemuskulatur

Lateraler und medialer Meniscus

Patella mit dem Ligamentum Patellae und dem M. quadrizeps

Die passiven Strukturen ermöglichen Beugung und Streckung im Kniegelenk sowie eine Rotation im gebeugten Zustand. Diese Bewegung ist begleitet von einer Gleitbewegung der Patella nach proximal/distal (Beugung/Streckung) bzw. einer Lateralbewegung (Rotation). Die große Patellabeweglichkeit wird durch Rezessus in der Gelenkkapsel ermöglicht. In der Streckstellung wird das Kniegelenk durch die Seitenbänder und das hintere Kreuzband stabilisiert. Eine muskuläre Stabilisierung ist nicht notwendig. Eine dauerhafte Streckung/Überstreckung im Kniegelenk führt zur Überlastung der Bänder und zum Genu recurvatum.

Die Bänder werden mit zunehmender Beugung entspannt und tragen weniger zur Stabilität bei. Zusätzlich ist die Form der Gelenkpartner für die Stabilität verantwortlich. Die Menisci werden als gleitende Gelenkflächen durch die Gelenkpartner passiv und durch einstrahlende Muskelsehnen aktiv verlagert.

Neben der Gewährleistung der passiven Stabilität sind die passiven Strukturen wichtige Informationsgeber für die neurogene Steuerung von Bewegung und Stabilität. Störungen dieser Strukturen führen zur Veränderung des propriozeptiven Inputs und damit zur Veränderung der Bewegungs- und Haltungssteuerung.

Veränderungen der Gelenkpartner, der Gelenkachsen, der Bandstabilität sowie der Gelenkkapsel führen zur Verminderung der passiven Stabilität und zur Überlastung aktiver Strukturen [23].

Die Kniegelenkmuskulatur spielt die wesentliche Rolle bei der Kniegelenkstabilität. Außer bei der maximalen Kniestreckung wird die Stabilität im physiologischen Bewegungsbereich überwiegend muskulär realisiert. Voraussetzung ist eine exakte muskuläre Steuerung, um eine physiologische Gelenkführung zu gewährleisten.

Die Muskulatur ermöglicht die aktive Streckung, Beugung und Rotation im Kniegelenk bzw. die Stabilisation des Gelenks in der jeweiligen Gegenrichtung. Des Weiteren strahlt die Muskulatur über ihre Sehnen in die Gelenkkapsel und die Bänder ein. Neben der passiven Bewegung der Menisci wird diese auch indirekt, z.B. über die aktive Patellabewegung, vermittelt. Dies ermöglicht eine feine Steuerung von Bewegung und Haltung im Kniegelenk.

Viele der Muskeln des Kniegelenks sind 2-gelenkig (Hüfte-Knie; Knie-Sprunggelenk). Bewegungen in diesen Gelenken beeinflussen die Aktivität und Effektivität der Kniegelenkmuskulatur. Störungen werden z.B. über die Gelenkachsenstellung und die Veränderung der Muskelaktivität an das Kniegelenk vermittelt [23].

Zentraler Bestandteil von Haltung und Bewegung ist die neurogene Steuerung. Priorität hat immer die Stabilität. Bei intendierten Bewegungen werden feste (erlernte) Bewegungsmuster abgerufen. Der muskulären Stabilisierung (Feed forward Aktivierung) folgt die eigentliche Zielbewegung [24]. Störungen dieser Bewegungsabläufe sind z.B. durch Schmerzreize, Zwangshaltungen oder Immobilisierungen in relativ kurzer Zeit möglich [16, 26, 27]. Veränderte Bewegungsmuster führen über muskuläre Dysbalancen zu Fehlbelastungen, unökonomischen Bewegungsabläufen, Schmerzen und einem erhöhten Verletzungsrisiko. Veränderte Bewegungsmuster sind Mitursache von chronischen Schmerzsyndromen [28].

Eine zentrale Rolle für die Funktion des Kniegelenks spielt der Fuß. Funktionsstörungen des Fußes verketten sich insbesondere über die Wadenmuskulatur und die Fibula auf das Kniegelenk [29]. Insbesondere die Aufhebung der Federfunktion des Fußes durch Fußbettung (Schuhversorgung) führt zur direkten Kraftübertragung auf das Knie und bei unzureichender muskulärer Stabilisierung zur Überlastung [30, 31].

Knieschmerzen – funktionelle Ursachen und referred Pain

Das Kniegelenk ist zentral in der Bewegungsachse der unteren Extremität. Um die Funktionalität und funktionelle Schmerzursachen zu eruieren, muss die gesamte untere Extremität inklusive Füße, Sprunggelenke, Knie, Hüfte, Becken und der lumbosakrale Übergang untersucht werden (Tab. 2).

Häufige schmerzhafte Funktionsstörungen des Knies sind Blockierungen des Fibulaköpfchens (meist sekundär zu Funktionsstörungen des Fußes), der Patella und des Kniegelenks selber. Hinzu kommen muskuläre Funktionsstörungen, insbesondere Triggerpunkte (Tab. 3). Muskuläre Triggerpunkte übertragen Schmerzen in die Knieregion auch unabhängig von segmentalen Bezügen [32]. Weitere Ausstrahlungsschmerzen (referred pain) kommen aus dem Wirbelsäulensegment L4 und dem Hüftgelenk.

Multimodale interdisziplinäre

Komplexbehandlung
chronischer Knieschmerzen

Die multimodale interdisziplinäre Komplexbehandlung chronischer Knieschmerzen zielt vorrangig darauf ab, den individuellen Umgang des Patienten mit dem Schmerz zu beeinflussen, die Aktivität zu steigern und negative Kompensationsmechanismen zu reduzieren.

Verhalten, Überzeugungen, kulturelle Prägungen sowie frühere Erfahrungen des Patienten im Umgang mit andauernden Schmerzen haben einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausprägung der Symptome, den Umgang und die Wahl von Therapiemethoden sowie die Fähigkeiten, den Schmerz selbst zu managen (Selbstwirksamkeit). Negative Kompensationsmechanismen wie z.B. Schonhaltungen, Hinkmechanismen, Bewegungsangst sowie Tendenzen zu einem Überforderungs- oder Vermeidungsverhalten tragen maßgeblich zur Dekonditionierung und Schmerzchronifizierung bei [34].

In Folge dieser Kompensationsversuche resultieren auf der physischen Ebene ein Abbau an Muskulatur, muskuläre Dysbalancen, eine mangelnde Stabilität und eine Reduktion der kardiopulmonalen sowie muskulären Kondition.

Auf der psychosozialen Ebene stehen folgende Punkte im Vordergrund:

Verlust an Vertrauen in das eigene Können und den eigenen Körper

Angst vor bestimmten Haltungen, Belastungen und Tätigkeiten

Depressionen

Antriebslosigkeit

Dis-Stress

Viele chronische Schmerzpatienten berichten ebenfalls von einer verminderten Teilhabe am sozialen und familiären Leben sowie Konflikten am Arbeitsplatz und somit von einem sozialen Rückzug. Diese physischen, psychischen und sozialen Veränderungen führen zu einer Reduktion der Lebensqualität, was den Prozess der Chronifizierung vorantreibt und somit als eine Spirale der Dekonditionierung gesehen werden kann. Besonders eine verstärkte Teilhabe am sozialen Leben und somit eine Verbesserung alltäglicher Aktivitäten wird von vielen chronischen Schmerzpatienten als Therapieziel geäußert.

Um all diese Faktoren berücksichtigen zu können, greift ein Konzept zur Behandlung chronischer Schmerzpatienten auf das biopsychosoziale Modell von Engel zurück, in welchem neben den pathophysiologischen Vorgängen auch kognitive, affektive und sozio-kulturelle Faktoren berücksichtigt werden [35]. Auf diese Weise sollen Ressourcen und Bewältigungsstrategien wiedererworben und somit der oben beschriebene Prozess der Dekonditionierung unterbrochen werden.

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