Übersichtsarbeiten - OUP 06/2015

Chronischer Knieschmerz
Häufigkeit, Ursachen und BehandlungsoptionenFrequency, causes and treatment

Auf Grundlage des Therapieprogramms ESCAPE (Enabling Self-management and Coping with Arthritic knee Pain through Exercise), den Evidence-Based Clinical Practice Guidelines der AAOS (American Academy/Association of Orthopaedic Surgeons) und der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz wurde am Rückenzentrum St. Georg in Hamburg ein Konzept zur Behandlung chronischer Knieschmerzpatienten entwickelt [36, 37, 38].

Kernpunkte der Therapie sind die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten, um das zentrale Ziel einer ressourcenorientierten Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit (Functional Restoration) mit Steigerung der Kontrollfähigkeit und des Kompetenzgefühls des Patienten über das eigene Schmerzgeschehen zu erreichen. In dem multimodalen Setting soll der Patient lernen, selbst aktiv gegen seinen Schmerz vorzugehen. Der therapeutische Ansatz zeichnet sich durch eine „Hands-off“-Strategie aus. Die Patienten sollen eigene Problemlösungsansätze erlernen und aktive Langzeitstrategien entwickeln, welche sich positiv auf den momentanen Schmerzlevel auswirken. Somit soll dem Patienten ermöglicht werden, selbst einen Einfluss auf das Schmerzgeschehen zu nehmen.

Von zentraler Bedeutung ist die gemeinsame Erarbeitung von patientenindividuellen realistischen Therapiezielen (kurz-, mittel- und langfristig). Die Schmerzreduktion steht nicht primär im Mittelpunkt der Behandlung. Es geht vielmehr um Aktivitätssteigerung zur Verbesserung von Funktion und Belastungsfähigkeit [36]. Die Therapiesteuerung erfolgt daher nicht auf Grundlage von Schmerzäußerungen, sondern basiert auf dem subjektiven Anstrengungsempfinden (Abb. 1).

Multimodales
interdisziplinäres Assessment

Vor der Aufnahme in die Therapie erfolgt ein multimodales interdisziplinäres Assessment. Alle an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen (Arzt, Psychotherapeut, Physiotherapeut) nehmen eine individuelle Einschätzung des Patienten vor dem Hintergrund ihres spezifischen professionellen Backgrounds vor.

Der ärztliche Kontakt beinhaltet eine fundierte Erhebung der Anamnese, die gründliche körperliche Untersuchung (neuroorthopädisch, funktionell), die Bewertung der Vorbefunde (z.B. Bildgebung, Neurophysiologie) sowie der Vor- und aktuellen Behandlungen.

Das Augenmerk der psychologischen Basisdiagnostik ist die Identifikation der aus psychosozialer Sicht auslösenden oder aufrechterhaltenden Faktoren des Schmerzerlebens mit dem Ziel der Abschätzung, ob spezifische psychologische Aspekte im Behandlungssetting speziell berücksichtigt werden müssen und ob eine erfolgreiche Behandlung aufgrund komorbider psychischer Störungen realistisch erscheint.

Im physiotherapeutischen Eingangs-Assessment stehen die Funktionen und die Aktivitäten des täglichen Lebens des Patienten im Vordergrund. Ein funktioneller Befund wird erstellt, um Auffälligkeiten auf artikulärer, muskulärer und neuraler Ebene zu identifizieren und in das Therapieprogramm zu integrieren. Bei der körperlichen Untersuchung ist zwingend zu beachten, dass die Chronifizierung eine veränderte Interpretation der Schmerzprovokationsbefunde erfordert [40].

Unterstützt wird die Diagnostik durch standardisierte Fragebögen, z.B. Deutscher Schmerzfragebogen, und eine standardisierte Funktionstestung, z.B. mit dem AFPT (Aggregated Functional Performance Test [36]), oder dem 6-Minuten-Gehtest [41].

Von zentraler Bedeutung ist die Abklärung der Therapiemotivation. Nur durch die Bereitschaft des Patienten zur aktiven Verhaltensänderung kann ein langfristiger Erfolg durch die multimodale Schmerztherapie erreicht werden. Da es bislang noch kein evaluiertes und standardisiertes Erfassungsinstrument für Veränderungsmotivationen gibt, dienen die subjektiven Eindrücke des Arztes und von Psychologen und Physiotherapeuten als Beurteilungskriterium.

Die erhobenen Befunde werden in einer Teambesprechung zu einem strukturellen, funktionellen und psychosozialen Befund zusammengetragen, diskutiert und in ihrer Relevanz für das Schmerzgeschehen gewichtet.

Multimodale
interdisziplinäre Therapie

Die multimodale interdisziplinäre Komplexbehandlung von Patienten mit chronischen Knieschmerzen findet in Kleingruppen von maximal 8 Patienten in einem 4-Wochen-Programm statt. Ziel des Gruppensettings ist, dass die Patienten voneinander lernen, ihre Beschwerden differenzierter bewerten und Austauschmöglichkeiten mit Menschen haben, die unter ähnlichen Beschwerden leiden, und somit aus ihrem sozialen Rückzug geholt werden. Zudem führt die Gruppendynamik zu einem offenen Umgang mit dem Thema Schmerz und zu einer Reduktion des Vermeidungsverhaltens.

In den mehrmals pro Woche stattfindenden Teambesprechungen wird aus allen Berufsgruppen der aktuelle körperliche und psychische Status der Patienten zurückgekoppelt und das weitere Vorgehen besprochen. Bei Schmerzverstärkungen wird gemeinschaftlich im Team über eine Änderung der Herangehensweise oder der Medikation diskutiert. Des Weiteren werden „obstacles to return to work“ besprochen.

Themen und Inhalte aller Gruppenbehandlungen sind festgelegt und dem gesamten Therapeuten-Team bekannt. Dies führt zu einem übereinstimmenden interdisziplinären Informationsfluss und fördert das Vertrauen der Patienten in das Team (Abb. 2).

Die ärztlichen Basis-Informationseinheiten werden in 2 Blöcken pro Woche abgehalten. Wesentliche Schwerpunkte liegen in den Bereichen Edukation und Aufklärung:

Zentrale Schmerzverarbeitungsmechanismen

Anatomie und muskuläre Ansteuerungsmechanismen des Kniegelenks

Operative und konservative Therapieverfahren und deren Evidenz

Bildgebung und die Relevanz der Befunde

Medikamentöse Schmerz-Therapieoptionen

Sozialmedizin

Hierdurch wird es den Patienten ermöglicht, sich ein Bild über die Komplexität der Kniegelenkfunktion und ihrer individuellen Problematik zu machen. Ziel ist es, ein besseres Eigen-Management zu erreicht und die iatrogene Fixierung aufzulösen.

In den wöchentlich stattfindenden Visiten liegt das Hauptaugenmerk auf der 100 %-igen aktiven Teilnahme der Patienten an allen Therapiemaßnahmen (Verhinderung von Vermeidung). Zusätzlich wird eine wertschätzende regelmäßige Bestätigung oder ggf. Modifikation der gemeinsam definierten Ziele vorgenommen, damit sowohl der Patient als auch das Therapeuten-Team gezielt hierauf hinarbeiten können.

Eine wesentliche Grundlage ist eine von Empathie getragene vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung. Klassische ärztliche Interventionen wie z.B. die Änderungen der Medikation, Infiltrationen oder manualmedizinische Interventionen sowie die Anordnung passiver physiotherapeutischer/physikalischer Maßnahmen werden funktionskontingent und ausschließlich nach Rücksprache im Behandlungsteam durchgeführt. Zwingend erforderlich ist, dass der Arzt für das gesamte Therapeuten-Team jederzeit für Fragen zur Verfügung steht. Nur so ist die erforderliche Behandlungsintensität und Kontinuität zu realisieren [40].

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