Übersichtsarbeiten - OUP 10/2018

Das schmerzbezogene quantitative Leistungsvermögen in der sozialmedizinischen orthopädisch- unfallchirurgischen Begutachtung

Stefan Middeldorf1

Zusammenfassung: Im Rahmen orthopädisch-unfallchirurgischer Begutachtungen von Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane lässt sich eingeschränktes quantitatives Leistungsvermögens nahezu nicht mehr begründen. Auch daher ist eine Verschiebung der Beantragung und Bewilligung in den Bereich der seelischen Gesundheit festzustellen, seit Änderung des Rentenrechts im Jahre 2001. Darüber hinaus gibt es gerade im Bereich der schmerzmedizinischen Begutachtung Fall-Konstellationen, die ein auch in quantitativer Hinsicht beeinträchtigtes Leistungsbild begründen. Die Einschätzung ist dann faktenbasiert, unter Berücksichtigung des Kontexts und bestehender Texturstörungen, dezidiert zu treffen. Auch leitlinienorientiert formulierte Forderungen zur Erstellung eines ärztlichen Gutachtens von Menschen mit chronischen Schmerzen müssen einbezogen werden.

Schlüsselwörter: Begutachtung, Sozialmedizin, Schmerz

Zitierweise
Middeldorf S: Das schmerzbezogene quantitative Leistungsvermögen in der sozialmedizinischen orthopädisch-unfallchirurgischen Begutachtung.
OUP 2018; 7: 510–516 DOI 10.3238/oup.2018.0510–0516

Summary: As part of orthopedic assessments of diseases of the musculoskeletal system, limited quantitative capability can hardly be justified. Therefore, a postponement of the application and approval in the field of mental health can be observed since the amendment of the Pensions Act in 2001. In addition, there are case constellations, especially in the field of pain-medical assessment, which justify an impaired performance in terms of quantity. This is where the assessment needs to be based on facts, taking into account the context and existing texture disorders, including guidelines-oriented claims for the preparation of a medical opinion of people with chronic pain.

Keywords: survey, public health, pain

Citation
Middeldorf S: The pain-related quantitative capability in
socio-medical orthopedic assessment.
OUP 2018; 7: 510–516 DOI 10.3238/oup.2018.0510–0516

1 Orthopädische Klinik, Schön Klinik Bad Staffelstein

Einleitung

Zur Ermittlung spezifischer krankheitsbedingter Beeinträchtigungen wird gerne die ICF-Klassifikation genutzt. Hieraus lassen sich Kontextfaktoren für eine mögliche Chronifizierung von Schmerzen ableiten. Einbezogen sind beispielsweise Arbeitsplatzfaktoren, soziodemografische Faktoren, somatische und psychosoziale sowie iatrogene Faktoren. Zu den Arbeitsplatzfaktoren gehören beispielsweise eine geringe Arbeitsplatzzufriedenheit, anhaltende Schwerarbeit, nicht ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, monotone Tätigkeiten am Arbeitsplatz, geringe berufliche Qualifikation, niedriges Einkommen, Konflikte mit Vorgesetzten, Kränkungserlebnisse durch Arbeitskollegen und Verlust des Arbeitsplatzes. Zu den soziodemografischen Faktoren zählen Alter, weibliches Geschlecht, verheirateter Familienstatus, niedriges Bildungsniveau und niedriger Sozialstatus. Die somatischen Faktoren beinhalten zum einen die genetische Disposition, dann aber auch prädisponierende Erkrankungen, degenerative Veränderungen, Dauereinwirkungen, biomechanische Stressoren.

Darüber hinaus kennen wir psychosoziale Faktoren einer möglichen weiteren Chronifizierung, die auch im therapeutischen Kontext Berücksichtigung finden müssen. Dazu gehören die maladaptive kognitiv-affektive Krankheitsverarbeitung, beispielsweise das Katastrophisieren, die Hilfs-/Hoffnungslosigkeit ebenso wie biografische Belastungen und psychische Komorbiditäten, aber auch Kompensationsansprüche, Angst und angstbedingtes Vermeidungsverhalten sowie psychische Stressoren im familiären Umfeld. Zu den iatrogenen und nicht zu unterschätzenden Faktoren gehört zudem die mangelnde ärztliche Deeskalation bei ängstlichen und zum Katastrophisieren neigenden Patienten, Somatisierung und Angstförderung durch katastrophisierende ärztliche Beratungen, fehlende oder inadäquate Medikation in der Akutphase, Förderung passiver, regressiver Therapiekonzepte, lange, unreflektierte Krankschreibungen, übertriebener Einsatz diagnostischer Maßnahmen, überschätzen unspezifischer somatischer Befunde, unterschätzen psychischer Komorbiditäten, fehlende Beachtung psychosozialer Belastungsfaktoren, Präferenzen und dauerhafte Indikationsstellung invasiver und suchtfördernder Therapien sowie eine inadäquate Therapie im weiteren Verlauf [5].

Beschwerdebilder, die mit Schmerzen einhergehen, sind in Deutschland die häufigste Ursache für Rehabilitationsmaßnahmen und Berentungen wegen Erwerbsminderung ebenso wie psychische Störungen, diese stehen mit fast 40 % der Fälle an erster Stelle. Wenn auch keine offiziellen Statistiken zum Umfang der Klagen vor deutschen Sozialgerichten bestehen, in denen chronische Schmerzzustände gutachterlich zur beurteilen sind, so gibt es doch Schätzungen, dass bei ca. zwei Drittel der vor Gericht verhandelten Rentenverfahren Schmerzen im Vordergrund der Beschwerden stehen, dies im neurologisch-psychiatrischen und orthopädisch-unfallchirurgischen Fachgebiet.

Schmerz ist bei Menschen das häufigste Leidsymptom einer Erkrankung, dabei treten insbesondere chronifizierte Schmerzsyndrome bei sozialmedizinischen Fragestellungen und im Klagefall in den Mittelpunkt. Um eine valide Aussage im Rahmen einer gutachterlichen ärztlichen Stellungnahme abgeben zu können, ist bei Personen mit anhaltenden chronischen Schmerzsyndromen eine differenzierte Herangehensweise auch mit Ermittlung indirekter Parameter erforderlich. Hinweise zur Erstellung eines ärztlichen Gutachtens bei Menschen mit chronischen Schmerzen gibt die entsprechende Leitlinie der AWMF-Registernummer 094–003, letzte Aktualisierung im Jahre 2017 [3].

Psychosoziale Einflussfaktoren bei chronischen Schmerzen spielen eine große Rolle und müssen erfasst werden. Hierzu gehört die Schmerzdauer ebenso wie die Ermittlung der aktuellen Medikamenteneinnahme und die Berücksichtigung der affektiven Verfassung zur Frage Depression und Angst, gleichwohl sind biografische Erfahrungen und Ausgrenzungserleben ebenso wichtig wie die kognitive Bewertung, anhaltende belastende Lebenssituationen bei Schmerzbeginn und die Bindungstypologie bzw. das Beziehungsverhalten [2].

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Schmerz objektivierbar ist. Das Schmerzempfinden, Schmerz- und Behinderungserleben, besteht nicht nur aus einer sensorischen Komponente, sondern beinhaltet auch kognitiv-bewertende affektive Aspekte. Dabei ist die affektive und kognitive Bewertung nicht nur abhängig vom Schmerzreiz, sondern unterliegt Einflüssen aus der gesamten psycho-physischen Entwicklung (Lernprozess, frühkindliche Entwicklung). Von einer linearen Beziehung zwischen Reizstärke und Wahrnehmung einer Schmerzempfindung kann daher nicht ausgegangen werden.

In Bezug auf die Symptom- und Beschwerdevalidierung ist zunächst vorauszuschicken, dass etwa 30–40 % der Patienten mit chronischen Schmerzen diese Symptome bei der sozialmedizinischen Begutachtung ihre Beschwerden nicht realistisch darstellen. Studien zeigen, dass Patienten ihre Beeinträchtigung wegen Entschädigungs- und Rentenzahlungen tendenziell stärker hervorheben als Patienten im Therapiesetting.

Symptomverstärkende
Darstellungsformen

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