Übersichtsarbeiten - OUP 10/2018

Das schmerzbezogene quantitative Leistungsvermögen in der sozialmedizinischen orthopädisch- unfallchirurgischen Begutachtung

Wer fragt nun nach dem quantitativen Leistungsvermögen? Zum einen erfolgt bei gestelltem Antrag auf Erwerbsminderungsrente die Anforderung von Befundberichten durch Sozialgerichte; im Klagefall an sämtliche behandelnden Ärzte, in erster Linie Haus- und Facharzt, darüber hinaus ggf. Akutkrankenhaus und Rehaklinik. Die Fragen beziehen sich in erster Linie auf gestellte Diagnosen, den Behandlungszeitraum und den Verlauf mit Progression oder Remission der Leiden. Meist werden abschließend auch Fragen gestellt zur noch möglichen Arbeitsschwere, zu qualitativen Leistungsbeeinträchtigungen und zur noch möglichen Zeit der Ausübung einer Tätigkeit.

Fragen zum zeitlichen Leistungsvermögen ergeben sich bereits im Zivilrecht, beispielsweise im Streit um Unterhaltszahlungen durch Ex-Ehepartner und nachgewiesenem und/oder behauptetem körperlichem Leistungsdefizit des Beklagten. Im Bereich des Krankentagegelds bzw. der Berufsunfähigkeit wird i.d.R. die Frage gestellt, ob der Versicherte seine Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Bei dauernder Beeinträchtigung kann hier ggf. eine Berufsunfähigkeit resultieren. Hierbei wird es je nach Versicherungsvertrag darum gehen, ob die versicherte Person nach medizinischem Befund im bisher ausgeübten Beruf auf nicht absehbare Zeit zu mehr als 50 % erwerbsunfähig ist.

Die gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften) beurteilt das quantitative Leistungsvermögen analog dem Rentenrecht. Die sozialmedizinische Beurteilung für die Deutsche Rentenversicherung beinhaltet neben einer quantitativen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in der letzten beruflichen Tätigkeit auf unter 3 Stunden, 3–6 Stunden oder 6 Stunden und mehr, die Einschätzung des positiven und negativen Leistungsvermögens auf dem sog. allgemeinen Arbeitsmarkt: Zunächst stehen hier die Fragen nach der körperlichen Arbeitsschwere mit der Arbeitshaltung und Arbeitsorganisation als qualitative Leistungsfaktoren im Vordergrund, dann wird abschließend die Frage des zeitlichen Leistungsvermögens zu klären sein: auf < 3 Stunden, 3 bis < 6 Stunden oder 6 Stunden und mehr. Zu berücksichtigen sind hier auch noch die zeitlichen Dispositionen für die zugrunde gelegten Arbeitshaltungen Stehen, Gehen und Sitzen. Die Begriffsdefinitionen bedingen hier für „gelegentlich“ ca. 5 % der Arbeitszeit, für „zeitweise“ ca. 10 %, „überwiegend“ mit 51–90 % oder „ständig“ bei mehr als 90 % der Arbeitszeit. Zur Einschätzung gehören zum positiven und negativen Leistungsvermögen noch die Angaben zur Wegefähigkeit, zu arbeitsunüblichen Pausen, Zwangshaltungen, die zu vermeiden sind, Arbeitsumgebung sowie Akkord- und Schichtdienst.

Während sich das qualitative Leistungsvermögen bzw. diesbezügliche Einschränkungen nach den zugrunde liegenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen durch chronischen Schmerzen richtet, werden quantitative Leistungseinschränkungen in einem zweiten Schritt zu ermitteln sein. Unter Berücksichtigung des erkennbaren positiven und negativen qualitativen Leistungsvermögens muss die Frage einer möglichen quantitativen Leistungseinschränkung geklärt werden. Die Beantwortung dieser Frage ist bei der Leistungsermittlung für die Deutsche Rentenversicherung besonders wichtig, aber auch für die gesetzliche Unfallversicherung, weil qualitativ nachweisbare Leistungseinschränkungen nur unter ganz bestimmten Umständen die Anerkennung einer Erwerbsminderung auf dem zugrunde liegenden allgemeinen Arbeitsmarkt nach sich ziehen werden.

Gerade unter Berücksichtigung möglicher Erkrankungen auf schmerzmedizinischem Gebiet ist es von besonderer Bedeutung, ob der körperliche Befund (also die Organpathologie) und das Befinden (der erlebte Schmerz) in einem kongruenten Verhältnis stehen. Ist das der Fall, bestimmt die mit dem fachbezogenen Befund verknüpfte Funktionsbeeinträchtigung die Beurteilung der Leistungsfähigkeit. Besteht keine Diskrepanz zwischen probandenseits beschriebenem Befinden und ärztlichem Befund, ist ein in quantitativer Hinsicht beeinträchtigtes berufliches Leistungsvermögen nur dann zu diskutieren, wenn gleichzeitig ausgeprägte Einschränkungen im Alltagsleben und der sozialen Partizipation bestehen – trotz ausreichend und angemessen durchgeführter Therapie. Gerade bei Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen spielt u.U. eine medikamentenbedingte Leistungseinschränkung eine Rolle, die ggf. durch Therapieoptimierung behoben werden kann (evtl. in Richtung nichtmedikamentöser Schmerztherapie) und dann keine richtungsweisende Bedeutung mehr hat für das quantitative Leistungsvermögen.

Darüber hinaus sind mögliche Einflussgrößen auf das positive und negative Leistungsvermögen bei chronischen Schmerzen beschrieben, u.a. bei körperlichen Funktionseinschränkungen wie körperliche Arbeitsschwere, das Heben und Tragen von Lasten, Tätigkeiten im Stehen, Gehen und Sitzen, Tätigkeiten in Zwangshaltungen mit häufigem Bücken, Kopfarbeiten, Tätigkeiten in Kälte und Nässe oder die Gebrauchsfähigkeit beider Hände.

Möglicherweise sich negativ auswirkende psychische Funktionseinschränkungen, auch mögliche Medikamentennebenwirkungen, finden sich hingegen im Bereich von Schicht- und Akkordtätigkeiten, Publikumsverkehr, Übernahme von Verantwortung, Anforderung an die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sowie das Konzentrations- und Reaktionsvermögen.

Mögliche Begründungen für ein quantitativ eingeschränktes Leistungsvermögen

Organbezogen

Medikamentenbedingte Leistungseinschränkung, z.B. im Sinne einer eingeschränkten psycho-physischen Dauerleistungsfähigkeit (Therapieoptimierung möglich?)

Nach mehrsegmentaler Spondylodese zervikal und lumbal als Folgeeingriff: meist < 3 Stunden auf Dauer

Nach operativer Versorgung einer zervikalen Spinalkanalstenose mit Myelopathie: meist < 3 Stunden auf Dauer

Nukleusprolaps mit anhaltender radikulärer Symptomatik, Instabilität (Paresen, Störung der Feinmotorik):
< 3 Stunden

Zervikale Spinalkanalstenose mit Myelopathie: < 3 Stunden

Coxarthrose (Einschränkungen für Gehen und Stehen): Bei gleichzeitig vorliegenden Störungen der Rumpfwirbelsäule, Instabilität der Lendenwirbelsäule bzw. des lumbo-sakralen Übergangs, ausgeprägten degenerativen Bandscheibenschäden oder statischer Fehlhaltung mit erheblichen muskulären Dysfunktionen können durch hierdurch bedingte Behinderungen des längeren Sitzens u.U. quantitative Behinderungen des Restleistungsvermögens resultieren.

Kontextbezogen

Ausgeprägte Einschränkungen im Alltagsleben und der sozialen Partizipation

Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen: < 3 Stunden

Die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ist vital eingeschränkt, die Symptome haben die Organisation der Lebensführung übernommen: < 3 Stunden

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