Übersichtsarbeiten - OUP 10/2018

Das schmerzbezogene quantitative Leistungsvermögen in der sozialmedizinischen orthopädisch- unfallchirurgischen Begutachtung

Zu den symptomverstärkenden Darstellungsformen zählt man die Simulation, Aggravation, Verdeutlichungstendenzen und die Dissimulation. Die Unterscheidung der Begriffe ist jedoch operational ungesichert: So steht meist die Frage im Raum, ob die Darstellungsformen bewusstseinsnah oder im Sinne der sog. Antwortverzerrung bestehen oder aber bewusstseinsfern erlebt werden. Dabei versteht man unter Simulation das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken. Man geht davon aus, dass Simulation in der Begutachtung eher selten vorkommt. Aggravation ist die bewusste Verschlimmerung bzw. überhöhte Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken. Hier geht man davon aus, dass sich dies in der Begutachtung relativ häufig findet. Verdeutlichungstendenzen sind in der Begutachtungssituation ebenfalls häufig, gleichsam als systemimmanent zu bezeichnen und nicht mit Simulation oder Aggravation gleichzusetzen. Es ist der Versuch, den Gutachter vom Vorhandensein der Schmerzen zu überzeugen; dies folgt i.d.R. mit besonderer Intensität bei desinteressiert wirkenden und oberflächlich agierenden Untersuchern. Im Gegensatz dazu versteht man unter einer Dissimulation eine verringernde, herunterspielende Darstellung von Beschwerden.

Orthopädisch relevante
psychische
Gesundheitsstörungen

Schiltenwolf beschreibt, dass psychosomatische Erkrankungen höchste Relevanz für das Fachgebiet der Orthopädie und Unfallchirurgie haben, insbesondere die somatoformen Störungen. Orthopädisch relevante Diagnosen psychischer Gesundheitsstörungen finden sich in großer Zahl: Sie reichen von der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung über Somatisierungsstörungen und undifferenzierte somatoformen Störungen sowie Depressionen bis hin zu dysthymen Störungen, Anpassungsstörung, Angststörungen, dissoziative Bewegungsstörungen, Konversionsstörungen, Hypochondrie, körperdysmorphe Störungen und posttraumatischen Belastungsstörung [4].

Psychometrische
Untersuchungen

Testpsychologische Verfahren und die Verwendung von Selbstbeurteilungsbögen (i.d.R. der Deutsche Schmerzfragebogen) dienen der Eigenschilderung der Beschwerden durch die Probanden und aufgrund der im genannten Fragebogen ausgewählten einzelnen Instrumente zur Standardisierung. In der medizinischen Begutachtung sind psychometrische Verfahren leitlinienorientiert geforderter Standard. Allerdings sind die Ergebnisse nicht als objektives Kriterium zu verstehen. Vor allem in der gutachterlichen Situation stellen sie eine subjektive Einschätzung dar, auch lässt sich mit ihnen nicht zwischen Simulation und objektiven Befunden unterscheiden. Letztlich stellt die Psychometrie jedoch einen wichtigen Baustein dar, Inhalte sind im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung mit der Verhaltensbeobachtung und den erhobenen Befunden und Befundtatsachen abzugleichen.

Einteilung von Schmerzen aus gutachterlicher Sicht

Zur gutachterlichen Beurteilung von Schmerzen hat sich eine Einteilung in 3 Säulen bewährt.

In der ersten Säule findet sich zunächst Schmerz als Begleitsymptom einer Gewebeschädigung oder Erkrankung. Das können sog. üppige Schmerzen als Begleitsymptom einer Gewebeschädigung sein, z.B. eine Nervenläsion oder außergewöhnliche Schmerzen, wie sie beispielsweise bei CRPS, Thalamusschmerz, Stumpf- und Phantomschmerz auftreten.

Die zweite Säule wird gebildet durch Schmerzen bei Gewebeschädigung mit psychischer Komorbidität, als Beispiel kann hier eine Lumboischialgie mit Nervenwurzelkompression genannt werden, verschlimmert durch Komorbiditäten, wie z.B. inadäquate Krankheitsbewältigung bei Angststörung, depressive Störung, Suchterkrankung und Persönlichkeitsstörung.

Die dritte Säule wird gebildet durch Schmerzen als Leitsymptom einer psychischen Erkrankung. Hierunter versteht man Schmerzen bei primär psychischen Erkrankungen, z.B. depressive Störung, Angststörung, somatoforme Störung, Anpassungsstörung, posttraumatische Belastungsstörungen.

Während Krankheitsbilder, die sich in der ersten Säule finden, klassische Domäne des orthopädische-unfallchirurgischen Gutachtens sind, müssen Krankheitsbilder der zweiten Säule i.d.R. angemessen begutachtet sein durch Kollegen, die über besondere Kompetenz verfügen über die psychosomatische Grundversorgung bis hin zur Zusatzweiterbildung spezielle Schmerztherapie. Die dritte Säule ist hingegen die Domäne des psychiatrischen bzw. psychosomatischen Facharztes.

Kriterien zur Beurteilung

Schmerzmedizinische Begutachtungen sind komplex. Erforderlich ist es hier, Kriterien zur Beurteilung der psychosozialen Situation des Probanden zu erheben. Mit wem lebt der Proband zusammen? Fragen zu Partner, Eltern, Kinder und Haustiere sind hier ebenso obligat wie die Frage der Wohnsituation: Lebt der Proband im eigenen Haus, einer Eigentums- oder Mietwohnung, sind Etagen oder Treppen zu steigen, oder gibt es einen Aufzug? An welchen Lebensbereichen partizipiert der Untersuchte? Vereine, Ehrenamt, Selbsthilfegruppen, Freunde und Bekannte. Welchen Hobbys und Interessen geht er nach, Heimwerken, Gartenarbeit, Wohnwagen, Sport, Chor, Fernsehen? Welche Arbeiten im oder am Haus übernimmt er: das Reinigen der Wohnung, Einkaufen, Kochen, Abwaschen, Gartenarbeit? Welche Art von Urlaub hat der Proband in den letzten Jahren gemacht? Die Zusammenschau mit der Darstellung von typischen Tagesinhalten am Beispiel des vorangegangenen Werktags oder der Darstellung von Wocheninhalten liefern wichtige Indizien, um ein umfassendes Bild zu erhalten.

Beurteilung

Im Rahmen der Beurteilung wird eine Konsistenzprüfung und Prüfung der Plausibilität erforderlich sein. Unter Konsistenzprüfung versteht man die Prüfung der Widerspruchsfreiheit, die kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung und Inhalten der Aktenlage. Plausibilität hingegen beinhaltet die Stimmigkeit, Richtigkeit, Glaubhaftigkeit, Wahrheit. Im Rahmen der Prüfung der willentlichen Steuerbarkeit wird die Frage auftauchen, ob die genannten Beschwerden bewusst oder unbewusst zur Durchsetzung eigener Wünsche gegenüber Dritten eingesetzt werden (der sog. sekundäre Krankheitsgewinn) und somit letztlich willentlich zu überwinden wäre. Findet sich der Rückzug von unangenehmen Tätigkeiten, z.B. in Beruf und Haushalt, jedoch nicht von den angenehmen Dingen des Lebens, z.B. Hobby, Vereine, Haustiere, Urlaubsreisen? Besteht trotz Rückzug von aktiven Tätigkeiten das Beibehalten von Führungs- und Kontrollfunktionen, z.B. Überwachung der Hausarbeit von Angehörigen, Steuerung des Einkaufverhaltens der Angehörigen?

Die zu ermittelnden Kriterien und Hinweise zur Tagesgestaltung weisen bereits darauf hin, dass die Anamnese bei der Begutachtung im schmerzmedizinischen Bereich von besonderer Bedeutung ist. Neben der Arbeits- und Sozialanamnese, der allgemeinen Anamnese, der speziellen Schmerzanamnese, der Behandlungsanamnese, der Selbsteinschätzung und der Fremdanamnese müssen vor allem Einschränkungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens und Einschränkungen bei der Partizipation in verschiedenen Lebensbereichen ermittelt werden. In Bezug auf die ATL (Aktivitäten des täglichen Lebens) sind es folgende Kriterien, die konkret abzufragen sind: Tagesablauf, Mobilität, Selbstversorgung, Haushaltsaktivitäten wie kochen, putzen, waschen, bügeln, einkaufen, Gartenarbeit, erforderliche Ruhepausen, Fähigkeit zum Auto- und Radfahren sowie zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. In Bezug auf die Partizipation ist von besonderer Bedeutung: Familienleben einschließlich Sexualität und schmerzbedingte Partnerprobleme; soziale Kontakte einschließlich Freundschaften und Besuche, Freizeitbereich wie Sport, Hobbys, Vereinsleben, Halten von Haustieren, Urlaubsreisen; soziale Unterstützung und Qualität der Partnerbeziehung [3].

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